Читать книгу Lichter im Norden - Nena Schneider - Страница 11
Ria: Basis 1
ОглавлениеIrgendetwas war schief gelaufen. Irgendein Detail hatten sie übersehen, irgendeine Route falsch berechnet. Und ein Satellit war ausgefallen, vielleicht hing es auch damit zusammen.
Ungeduldig schaltete Ria Silverstein die Kanäle durch. Auf der durchsichtigen Scheibe vor ihr erschienen detaillierte Berichte von der Nachricht, die zur Presse durchgedrungen war. Von mehr als siebentausend Sendern sprachen nur vierzig nicht davon, das zeigte ihr eine andere Anzeige.
Mit einer Handbewegung stellte sie den Ton ab und beobachtete mit kalten Augen den Nachrichtensprecher, der sicher irgendetwas von fünfhundert Toten im Norden Russlands erzählte. Ein Massaker, so nannten sie es. Ria konnte sich den Mund fusselig reden, soviel sie wollte. Niemand würde ihr glauben, dass auch Präsident Orlow an der Sache beteiligt gewesen war.
Die paar R.P.U.s hätten niemals fünfhundert Menschen umbringen können. Nicht, wenn sie nur ein paar Gewehre und Messer bei sich trugen. Schließlich war ihnen eingedrillt worden, dass Aufmerksamkeit um jeden Preis vermieden werden musste. Die Operationen waren jedes Mal streng geheim, deshalb wunderte es Ria umso mehr, dass nun die ganze Welt davon wusste. Ein schwerer Fehler, und der General war nicht begeistert.
Ria fuhr sich mit der Hand über das dunkle Haar. Sie trug es streng nach hinten gebunden. Dass ihr das ein sehr professionelles und strenges Aussehen verlieh, kam ihr ohnehin entgegen. Es half ihr dabei, die Öffentlichkeit bei Problemen wie diesen in Schach zu halten. Die R.P.U. wurde von ihr repräsentiert, sie war das einzige Gesicht, das man öfter als ein Mal im Jahr zu Gesicht bekam. Weshalb sie auch ständig Securitypersonal um sich herum hatte. Große Männer in schwarzen Anzügen, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Sie mochte das. Es gab ihr das Gefühl von Macht, obwohl sie die nicht wirklich innehatte. Sie gab der Macht nur ein Gesicht.
Wenn das Gesicht des Generals jemals in der Öffentlichkeit auftauchen würde, wäre er wohl innerhalb weniger Tage tot. Dafür würde Orlow wahrscheinlich einen Krieg riskieren. Er konnte seinen Rivalen Normanson nicht eigenhändig umbringen und an ihn ranzukommen war so gut wie unmöglich. Aber Ria war sich sicher, dass er Normansons rechte Hand gerne um die Ecke bringen würde, sobald er die Gelegenheit dafür bekam.
Vielleicht verließ der General den Stützpunkt deshalb kaum.
Genervt wischte Ria die Anzeigetafel frei und gestattete sich einen Blick auf den Regenwald. Sie atmete einmal tief durch, strich ihr schwarzes Kostüm glatt und ging auf ihren hohen Schuhen die zwei Treppenstufen zu ihrem Schreibtisch hinauf. Arbeit wartete auf sie.
Auf der anderen Seite saß ihr Bruder an seinem Schreibtisch, völlig vertieft in Rechnereien und Simulationen. Ria verstand seine Arbeit kaum. Er programmierte, das wusste sie, aber was genau konnte sie nicht sagen. Manchmal waren es neue Drohnenarten, Funksysteme, Satellitenprogramme. Er besprach das alles mit dem General und Ria bastelte seine wenigen Informationen so zusammen, dass sie möglichst positiv klangen.
Warrick war nicht im Raum und Josha ebensowenig. Wahrscheinlich stritten sich die beiden wieder über das neuste Projekt, die Einsätze oder sonst irgendetwas. Ria respektierte Josha und seine Meinung. Diese konnte sie der Presse sogar leichter verkaufen. Warricks Meinung hingegen durfte sie nicht einmal in den Mund nehmen. Er war skrupellos. Und die Meinung des Generals, daran durfte sie nicht einmal denken, bevor sie Gefahr lief, sie laut auszusprechen. Er war schlimmer als skrupellos. Er war gleichgültig. Gegenüber allem und jedem. Ria bezweifelte, dass er überhaupt Gefühle hatte. Wenn Warrick wütend wurde und aussprach, was er dachte, streifte der General ihn nur mit einem kalten Blick.
Sie stellte ihr Tablet auf und öffnete ihren Nachrichtenserver. Die nächste Stunde arbeitete sie sich durch Anfragen von Journalisten, Nachrichtensendern und vereinbarte einen Pressetermin.
Durch ein kleines rotes Licht wurde sie in ihrer Arbeit unterbro-chen. Es leuchtete am Rand des Tisches auf. Dann waren es zwei Lichter und schließlich drei.
Mit einer Handbewegung erschien der Lageplan der Militärbasis auf dem großen Bildschirm.
»Wer ist das?«, fragte sie den Computer und beobachtete die drei roten Punkte, die sich auf den Aufzug zubewegten.
»Identifiziere: Präsident Edward Normanson, Mr. Leon Huges Warrick, Mr. Josha Shaw.«
»Shit«, Ria wischte den Plan beiseite und stand von ihrem Stuhl auf.
»Kämm deine Haare, Julian, der Präsident ist auf dem Weg.«
Sie ging zur Toilette hinüber und kontrollierte im Spiegel ihr Make-up und die Frisur. Sie war Pressesprechern, sich zu präsentieren war ihre Aufgabe. Besonders, wenn man auf der Schlachtbank saß. Die Sache schien sehr viel ernster zu sein, als sie vermutete hatte, wenn sogar der Präsident persönlich bei ihnen vorbei kam.
»Julian, mach schon!«, fuhr sie ihn an, als sie sah, dass ihr Bruder sich keinen Zentimeter bewegt hatte. Endlich blickte er sie mit tiefliegenden braunen Augen an.
»Was hast du gesagt?«
Ungeduldig verdrehte sie die Augen. »Der Präsident ist auf dem Weg. Du siehst aus, als hättest du tagelang nicht geschlafen, kämm wenigstens deine Haare!«
Er nickte nur, stand auf und verschwand im Bad.
Julian hätte gut aussehen können, wenn es ihn kümmern würde. Da jedoch seine sozialen Kontakte nur aus den Menschen bestanden, die dieses Büro betraten, machte er sich nichts daraus. Er trug ein loses Hemd und eine Anzughose. Wenigstens etwas.
Als er aus dem Bad herauskam, sah er wacher aus und Ria streckte ihm sein Jackett und die Krawatte entgegen. »Zieh das an, beeil dich.«
Kaum hatte sie sich wieder an ihren Schreibtisch gesetzt, öffnete sich auch schon die Tür des Aufzuges.
Lächelnd stand sie auf und ging dem Präsidenten entgegen. Er ging voraus, Warrick und Josha hinter ihm her. Warrick sah zerknirscht aus.
»Mr. Präsident, was für eine Ehre, Sie einmal wieder hier zu haben.«
Der etwa Siebzigjährige mit dem weißen Bart und den kühlen Augen lächelte. Wie immer wusste Ria nicht, wie sie dieses Lächeln zu deuten hatte.
Er schüttelte ihre Hand.
»Ich wünschte, der Anlass wäre ein anderer«, antwortete er leise und etwas gereizt.
»Ich verstehe«, sagte Ria nur und machte einen Schritt zurück. Im selben Moment trat der General aus seinem Büro.
»Mr. President.« Sie gaben sich höflich die Hand. Ria konnte die Macht, die von beiden Männern ausging, förmlich spüren. Dagegen sah Warrick aus wie ein Laufbursche. Josha hingegen machte den Eindruck, als ginge ihn das alles nichts an. Entweder war er unempfänglich für das Charisma der beiden Männer oder es interessierte ihn wirklich nicht. Was ihn wiederum interessant machte.
»Ich würde mich gerne mit Ihnen unter vier Augen unterhalten«, sagte Präsident Normanson und der General nickte. Die Bürotür schloss sich hinter ihnen mit einem leisen Klicken.
Ria hörte Warrick kaum merklich aufatmen. Sie zog die Augen-braue hoch.
»Was mussten Sie sich anhören?«, fragte sie, konnte aber nicht behaupten, dass sie es tatsächlich wissen wollte.
Warrick winkte ab. »Die Situation ist verfahren«, sagte er nur, ging zu seinem Schreibtisch hinüber und stellte ohne ein weiteres Wort sein Tablet auf. Auf ihn warteten noch mehr Anfragen als auf Ria, auch wenn sie anderer Art waren.
»Und Sie?«, fragte Ria an Josha gewandt, »Sie sehen so unbeteiligt aus.«
Josha konnte nicht umhin, sich ein Lächeln zu verkneifen. Ein kaum sichtbares Lächeln, aber Ria entging es nicht.
»Nun, ich koordiniere die R.P.U. nicht. Ich verhandle gerne. Alles was nach den friedlichen Verhandlungen passiert, kontrolliere ich nicht mehr. Das macht Mr. Warrick. Offensichtlich…«
Auch er durchquerte den Raum und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Ria verwendete zwei Sekunden darauf, ihm verwundert nachzusehen und aus seiner Antwort schlau zu werden, dann wies sie ihren Bruder mit einer Handbewegung an, sich wieder zu setzen. Sie bezweifelte, dass der Präsident ihn überhaupt wahrgenommen hatte.
Als sie auf ihrem Platz saß, überlegte sie, was die mächtigen Männer darin wohl besprachen. Ob sie wohl zivilisiert miteinander umgingen? Oder starrten sie sich nur mit ihren kalten Augen gegenseitig nieder? Sie hatte nicht das Gefühl, dass der General Angst vor dem Präsidenten haben musste. Aber was sagte Normanson dem General dann, wenn er ihm die Meinung geigen wollte? Ria wäre zu gerne dabei gewesen. Oder vielleicht auch lieber nicht.
Nach fünfzehn Minuten öffnete sich die Tür wieder und der General trat heraus.
»Ms. Silverstein, schenken Sie uns ein paar Minuten.« Seine Stimme klang bestimmt und ruhig, so wie immer.
Ria stand auf und ging hinüber. Sie hatte nichts zu befürchten, dachte sie sich, sie hatte nichts falsch gemacht.
»Mr. President, General«, sagte sie.
Die Männer standen im Raum. Der General wie immer in der Nähe der Glaswand, von der man einen atemberaubenden Blick über den Regenwald genießen konnte. Präsident Normanson stand vor dem Schreibtisch, auf den er gerade eine edle Kaffeetasse zurück auf die Untertasse stellte.
»Wir sollten darüber sprechen, was Sie der Presse sagen. Sie haben bereits einen Termin vereinbart, wie ich gesehen habe«, begann der Präsident.
Ria nickte und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Solch einen Vorfall gab es zuletzt vor Jahren, als Sie diesen Job noch nicht hatten.«
»Ich habe die Aufzeichnungen gesehen«, erwiderte Ria.
»Gut, dann wissen Sie ja, wie Ihr Vorgänger damit umgegangen ist« Der Präsident nickt ihr anerkennend zu. »Wir verlassen uns auf Ihre Diskretion.«
»Natürlich, Mr. President.«
Nun wandte sich der General an sie. »Beteuern Sie, wie sehr wir diesen, nennen wir es Vorfall, bedauern.«
Die Augen des Generals blieben kühl.
»Ich habe bereits mit Ihrem Bruder gesprochen. Er wird eine rückläufige Satellitenstörung installieren, sprechen Sie sich genau mit ihm ab, damit Ihre Aussagen mit seiner Version übereinstimmen.«
Version, dachte Ria, doch sie nickte nur. »Wir schieben es also auf den Satelliten. Das könnte einige Fragen aufwerfen.«
»Sie haben Recht«, entgegnete der Präsident an Stelle des Generals, »aber ich überlasse das Ihrer fachkundigen Fantasie. Teilen Sie uns nur mit, was Sie für plausibel halten.«
»Sicher. Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann?«
»Nein, das war alles.«
Ria deutete eine kleine Verbeugung an und verließ das Büro. Als sich hinter ihr die Tür schloss, atmete sie erleichtert aus.
Warrick stand nun an der Glaswand, er wandte sich zu ihr um.
»Kann die Katastrophe abgewendet werden?«, fragte er etwas unsicher, was nicht zu dem Warrick passte, den sie kannte.
»Natürlich, Hughes, verlassen Sie sich auf mich.« Sie ging auf ihn zu und lächelte. »Sagen Sie mir nur eines: Hat dieses Missgeschick nun irgendwelche Auswirkungen auf… nun ja, unsere nächsten Operationen?«
»Müssen Sie das für Ihre Pressemitteilung wissen?«
Rias Zähne blitzten, als sie erneut lächelte. »Nein, gewiss nicht. Ich frage nur aus Interesse.«
Warrick sah sie misstrauisch an. Er schätzte ab, ob er ihr vertrauen konnte.
»Sicher hat das Auswirkungen«, antwortete er schließlich, »weniger bis keinen Funkkontakt und weniger R.P.U.s. Nicht mehr als fünf oder sechs Männer.«
»Denken Sie, die Operationen können mit so wenigen Soldaten bestritten werden?«
Warrick zuckte mit den Schultern. »Es geht nicht anders. Orlow wird nun jeden Schritt von uns kontrollieren wollen und wir müssen zusehen, dass er uns nicht entdecken kann. Aber wie das genau aussieht, kann ich Ihnen noch nicht sagen.«
Ria winkte ab. »Das muss ich auch alles gar nicht wissen. Viel-leicht ist es besser, wenn nur Sie darüber Bescheid wissen, und die, die es betrifft. Der Maulwurf kann hier unter uns sein. Wer auch immer beim letzten Einsatz die Östlichen informiert hat, er wusste alles. Sonst wäre es nicht ein solches Massaker geworden.«
Warrick nickte und sein Blick flog für ein paar Sekunden zu Josha hinüber. Ria hatte niemals beabsichtigt, ihren Kollegen zu beschuldigen, sie hätte wissen müssen, dass Warrick ihre Worte auf Shaw bezog. Er hasste ihn bis auf den Tod.
»Ich denke nicht, dass es jemand aus dem engsten Kreis ist, Hug-hes. Das hätte der General zu verhindern gewusst.«
Warrick sah sie ernst an. »Da haben Sie vollkommen Recht. Aber nun lassen Sie uns wieder an die Arbeit gehen.«
Er ging an ihr vorüber die zwei Stufen hinauf und setzte sich an seinen großen Schreibtisch im hinteren Bereich des runden Raumes.
Auch Ria ging hinüber zu ihrem und tippte den Bildschirm ihres Tablets an, damit es aus dem Standby herauffuhr.
Sie straffte ihre Schultern und öffnete mit der einen Hand ihren Nachrichtenserver und mit der anderen eine Notizenseite. So viel Arbeit, dachte sie. Und alles nur wegen ein paar Litern Öl.
Die Menschheit war schon komisch.