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Aron: Tiska

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Drei Jahre lang versuchte Aron Griffin davon zu überzeugen, dass die R.P.U. nicht das Richtige für ihn sein würde. Drei Jahre lang redete er immer wieder auf ihn ein und versuchte, an seinen Verstand zu appellieren.

Es gelang ihm nicht.

Mit den Jahren wurde Griffin nur noch entschlossener. Der Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt und wurde zu seiner inneren Antriebskraft. Er machte diese Entscheidung zu seiner Hoffnung, seinem Vater endlich beweisen zu können, dass er kein Versager war. Und so oft Aron auch wiederholte, dass die Entscheidung seinen Vater nicht reumütig machen würde, änderte sich nichts an Griffins Einstellung.

Sie machten ihren Schulabschluss, erhielten ihre Zeugnisse wie schon hunderte von Generationen vor ihnen, und wurden verabschiedet. Vor diesem Tag hatte sich Aron seit ihrem Ausflug auf den Berg gefürchtet. Und als er dann vorbei war, fürchtete er sich noch weiter.

Eigentlich hätte er den Sommer genießen sollen. Er hätte mit süßen Bedienungen am Pool flirten und ausgiebige Sonnenbäder nehmen sollen. Die Sonne schien jeden Tag prall auf die weißen Terrassen Tiskas, es war herrlich warm, draußen spielten die Kinder im Wasser oder auf den Plätzen und um die Stadt herum glitzerte das Solarmeer. Nachdem er sein Leben lang in der Schule verbracht hatte, hätte er sich doch wenigstens ein paar faule Tage leisten können, ein paar Tage ohne Regeln. Vielleicht mit dem ein oder anderen alkoholischen Ausrutscher. Seit knapp einem halben Jahr waren Aron und Griffin achtzehn Jahre alt, in den Westlichen Zonen also volljährig. Warum sollten sie das Leben nicht einmal genießen können?

Griffin ließ es nicht zu. In den letzten drei Jahren – während Aron schlechter in der Schule geworden war, seine Kampfkünste im Trainingsraum verbessert und seine Unschuld an ein zuckersüßes Mädchen aus einer Klasse über ihm verloren hatte – war Griffin zum Schulbesten geworden. Er hatte Tag und Nacht gelernt, war noch weiter in sich gekehrt und hatte immer noch kein Mädchen geküsst.

Aron versuchte, ihn in den dunkelsten Stunden aufzuheitern, mit mäßigem Erfolg. Griffin hatte ihn nun schon beinahe so weit ge-bracht, dass er dachte, die R.P.U. würde seinem Freund vielleicht gut tun. Eines war sicher: Griffin musste raus aus dieser Stadt, weg von seinem Vater, der nie aufhörte, ihn schlecht zu machen. Sogar in Arons Anwesenheit.

»Sieh dir nur Aron an! Er sieht gut aus, ist stark und entschlossen. Und jetzt sieh dich an…«, hatte er gesagt und Aron hätte ihm am liebsten auf der Stelle ins Gesicht geschlagen. Oder irgendwohin, wo es noch schmerzhafter war. Griffin war aus dem Raum geflohen und Aron hatte Tage gebraucht, um ihn davon zu überzeugen, dass sein Vater nach wie vor ein Arschloch war.

Aron vertrat die Meinung, dass sich niemand an anderen messen sollte. Griffin meinte, für Aron wäre das leichter, weil er ohnehin alles hatte, was er sich wünschte. Was nur zum Teil stimmte. Aron wäre gerne besser in der Schule gewesen, um seine Eltern zu beeindrucken. Er hatte die guten Noten der Unterstufen nicht halten können. Sein großer Bruder Matthiew hingegen war so gut, dass er bereits als Junior-Ingenieur irgendwo arbeitete, obwohl er sein Studium nicht einmal zur Hälfte geschafft hatte. Jedoch wusste Aron auch um sein Glück, Eltern zu haben, die ihn bedingungslos liebten. Was Griffin von seinen Eltern nicht behaupten konnte.

Deshalb stand dessen Entschluss fest. Aron konnte nicht daran rütteln.

Und das führte ihn zu einer furchtbaren Weggabelung, die er sich lieber erspart hätte. Er wusste, dass dies eine Entscheidung sein würde, die sein ganzes Leben veränderte. Jeder Schritt, den er danach tat, würde ihn weiter von dem anderen Weg entfernen, bis er schließlich völlig außer Reichweite lag. Und dieses Wissen machte Aron Angst.

Er konnte Griffin alleine gehen lassen; vielleicht kehrte er trotz allem wieder zurück. Obwohl die Chance weniger als gering war. Niemand kehrte von der R.P.U. zurück. Niemand.

Und Aron konnte sich kaum vorstellen in Tiska zu bleiben, sein ganzes Leben weiter zu führen, ohne Griffin jemals wiederzusehen. Dazu war er viel zu sehr Teil seines Lebens. Er hatte schon oft darüber sinniert, dass sie, wenn sie beide nicht anders orientiert gewesen wären, schon längst über ein dauerhaftes, gemeinsames Leben nachgedacht hätten. Aber Aron stand nun mal nicht auf Männer. Trotzdem war ihm die Freundschaft zu Griffin mehr wert als alles andere.

Nach Wochen des Grübelns und Fluchens traf er endlich die eine Entscheidung, die sein Leben änderte. Er entschied sich, mit Griffin zu gehen und ihm nicht von der Seite zu weichen.

Deshalb lag er nun auch nicht mit süßen Mädchen am Pool.

Er stand in seinem Zimmer und packte die Koffer. Am ersten September – übermorgen – würde er sich von seiner Familie verabschieden, zumindest so lange, bis sie im Camp den ersten Urlaub hatten. Aber das konnte schon ein paar Monate dauern. Und er hatte keine Ahnung, was er mitnehmen sollte und vor allem, wie viel er mitnehmen sollte.

Sie hatten ein ellenlanges Dokument erhalten, das sie unterschreiben und zurückschicken mussten. Darin stand alles, wozu sie sich in den Jahren der Ausbildung verpflichteten. Für die R.P.U. hatte ein gewisser Mr. W unterschrieben. Offensichtlich mussten sie vollkommen anonym bleiben.

Aron hatte sich den Vertrag mehrmals durchgelesen und war zu dem Schluss gekommen, dass er nichts Gutes verhieß. Sogar während der Ausbildung bekamen sie so viel ‚Entschädigungsgeld‘, dass es Aron kalt den Rücken hinunter lief. Und falls ‚im Laufe der Ausbildung unangenehme Nebenerscheinungen‘ auftraten, bekamen seine Eltern einen ‚Schadensersatz‘, von dem sie sich zwei Jets leisten konnten. Darüber machte sich Aron viele Gedanken. Was sollte er sich überhaupt unter unangenehmen Nebenerscheinungen vorstellen? So etwas wie einen psychischen Zusammenbruch, Schitzophrenie? Eventuell sogar den Tod?

Griffin beschäftigten diese Fragen nicht, er unterschrieb, ohne sich auch nur das Anschreiben durchzulesen. Sein Vater und seine Mutter wussten nichts davon. Beide würden am Tag seiner Abreise nicht da sein und Griffin wollte ihnen lediglich eine Nachricht hinterlassen.

»Wenn du das Entsetzen in den Augen deines Vaters nicht sehen kannst, was bringt das dann?«, fragte Aron ihn einmal, aber sein Freund wehrte diese Frage ab.

»Mir reicht die Vorstellung davon.«

»Aber dann weißt du nicht, wie er reagiert!«

Auf diesen Einwand wusste Griffin keine Antwort. Und je länger Aron darüber nachdachte, desto mehr glaubte er, dass sein Freund nicht seines Vaters wegen zur R.P.U. ging. Griffin tat es, um sich selbst etwas zu beweisen. Zu beweisen, dass er den Schritt tun konnte.


Die letzten beiden Tage vergingen für Aron viel zu schnell. Die Minuten rasten nur so dahin, in jeder Stunde hatte er das Gefühl, nicht genug erlebt zu haben. Er ging spazieren, nahm Abschied von dieser wunderbaren Stadt. Obwohl er wusste, dass er in wenigen Monaten wiederkommen konnte. Aber wer konnte schon sagen, was ihm bis dahin geschehen würde? Was für ein Mensch er dann war? Das wusste niemand. Deshalb wollte er die Stadt so in Erinnerung behalten, wie er sie jetzt sah. Wunderschön, klar, weiß und herrlich strahlend. Er sog Tiska in sich auf, beobachtete die Jungs beim Fußballspielen auf den Plätzen, pfiff ein paar Mädchen hinterher und bewunderte die von den Balkonen und Terrassen hängenden Pflanzen.

Es war nicht leicht für ihn, besonders da Griffin auf einen Ab-schied verzichten wollte. Seit Jahren waren sie zu zweit unterwegs, so viele Stunden hatten sie in den Straßen und auf den Treppen dieser Stadt verbracht. Nun war das für immer vorbei.

Die Sonne stand hoch am Himmel, es hatte über fünfundzwanzig Grad und Aron stand in seinem Zimmer vor seiner gepackten Tasche. Er nahm nicht so viel mit, wie er vorgehabt hatte, denn er würde sicher nicht alles benötigen. Das war ein R.P.U.-Camp, er bekam dort sicher Trainingsanzüge und Ausrüstung.

Nur noch ein paar Minuten trennten ihn von seinem neuen Leben.

Er redete sich ein, dass er es für Griffin tat, dass Griffin ihn brauchte, was sicher der Wahrheit entsprach. Es schmerzte nur zu wissen, den anderen Weg nicht einmal betreten zu können.

Ein Jet würde sie abholen. Denn niemand wusste, wo die Ausbil-dungscamps der R.P.U. lagen. Man wusste nicht einmal, ob es nur eines gab oder mehrere. Und wie viele Rekruten jährlich ausgebildet wurden. Aber das würden sie hoffentlich bald erfahren.

Das war ein Aspekt, der Aron gefiel. Er erfuhr sicher viel über streng geheime Dinge, die sonst niemanden etwas angingen. Wer konnte schon sagen, dass er etwas über die R.P.U. wusste? Sie hatte eine offizielle Pressesprecherin, Ria Silverstein, eine sehr schöne und elegante, aber ebenso kühle Frau. Und niemand traute ihren Worten über den Weg. Sie sprach ständig von technischen Neuerungen und natürlich den geplanten Ölbohrungen. Aron musste sagen, dass sie ihren Job eigentlich sehr gut machte. Vielleicht wären ihre Worte glaubhafter geworden, wenn die R.P.U. irgendeinen anderen Auftritt in der Öffentlichkeit gehabt hätte. Irgendwelche Flyer, Ausstellungen oder eine Website. Aber im Netz fand man nur einen einzigen Link. Wenn man diesen drückte, bekam man ein paar Tage später das Dokument, welches Aron und Griffin vor ein paar Wochen unterschrieben hatten.

Niemand wusste also wirklich etwas über die R.P.U. und um was es bei ihnen ging. Als Untergrundorganisation machten sie ihrem Namen alle Ehre.


Aron sah auf die Uhr. In ein paar Minuten musste er auf einem der Landedecks sein. Also nahm er seine Tasche und ging in den Flur. Seine Familie wartete im Aufenthaltsraum.

Als Aron eintrat, kam seine Mutte auf ihn zu. Er sah, wie feucht ihre Augen glänzten. Sie schlang die Arme um ihren Sohn und drückte ihn fest an sich. Mittlerweile überragte Aron sie um einige Zentimeter.

»Ich werde dich hier vermissen, Großer«, sagte sie und drückte ihn noch fester an sich. Aron sog ihren Duft ein, den typischen Geruch der Mutter, den wohl jedes Kind kannte. Für ein paar Sekunden drückte auch er sie an sich, dann schob er sie vorsichtig wieder weg.

»Ich komm ja wieder, Mama«, beruhigte er sie. Gabrielle schniefte ein wenig, doch sie fing sich schnell wieder.

Auch seine älteste Schwester umarmte Aron und sie gab sich keine Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Komm bald zurück, ja? Und überleg dir die ganze Sache noch-mal!«

Aron versuchte zu lächeln. »Ich habe drei Jahre Zeit, meine Mei-nung zu revidieren«. Sie nickte. Dann holte sie ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzte kräftig.

Matthiew drückte ihn nur kurz. Aber er berührte Arons Stirn für ein paar Sekunden mit der seinen.

»Pass auf dich auf, Bruderherz. Und stell keinen Scheiß an…und spann nicht jedem die Mädchen aus«, fügte er lächelnd hinzu.

»Dass du mir das immer noch vorhältst. Was kann ich dafür, wenn sie dich nicht wollte?« Aron grinste. Sein Bruder verwuschelte ihm gründlich das Haar und trat zurück.

Er blickte in die Runde, in die traurigen Gesichter seiner Familie. »Macht doch nicht so ein Gesicht! Ich komm wieder.«

Seine Mutter versuchte zu lächeln. Aron wusste, was hinter diesem Lächeln steckte. Die Ungewissheit, ob ihr Sohn derselbe sein würde, wenn er wiederkam. Diese Ungewissheit, die ihn selbst so sehr plagte und die er so gerne abgeschüttelt hätte.

Sein Vater ging durch den Flur zur Haustür, er würde ihn bis zum Landeplatz begleiten.

In der Tür drehte Aron sich noch einmal um. »Ich hab euch lieb«, sagte er und schenkte ihnen ein letztes Lächeln. »Wir dich auch«, antworteten sie alle und erwiderten sein Lächeln, nicht ohne weitere Tränen zu vergießen.

Aron winkte ihnen zu, dann schloss sich die Tür hinter ihm. Sein Magen fühlte sich flau an, er hoffte, dass er sich nicht übergeben musste.

Schweigend ging er neben seinem Vater her. Sie überquerten ein paar bekannte Plätze, auf denen unbekümmerte Kinder spielten und Frauen den neuesten Klatsch austauschten. Die künstlichen Bäche plätscherten friedlich und glitzerten in der Sonne. Auf den Treppen saßen ein paar Teenager zusammen, aßen Eis, genossen die schulfreie Zeit. Wie gerne hätte Aron sich zu ihnen gesellt, anstatt an einen Ort zu fliegen, der ihm völlig unbekannt war.

Nach ein paar Minuten erreichten sie den offenen Platz auf einer der Anhöhen der Stadt. Eine große, runde Terrasse mit blau leuch-tenden Verbindungen im Boden, damit man ihn auch in der Nacht ansteuern konnte. Auf ihm stand bereits ein schwarzer Jet, ähnlich dem, den Griffins Vater besaß, und neben ihm stand Griffin, bereit zum Aufbruch. Er lachte Aron entgegen.

»Ich kann das nicht gutheißen, Aron, das weißt du«, sagte sein Vater und wandte sich ihm zu.

»Ja, ich weiß.«

»Und ich verstehe deine Gründe nicht. Es fällt mir schwer, das zu begreifen, wirklich. Vielleicht muss ich das auch nicht, aber…« Er sah seinen Sohn nachdenklich an. Dann drückte auch er ihn fest an sich. »Komm zurück, wenn du es dir anders überlegst. Das Haus steht dir immer offen.«

»Ich weiß… danke, Dad.«

Sein Vater schob ihn von sich weg und sah Aron in die Augen. »Und steh dazu, wenn du es dir anders überlegt hast. Es ist dein Leben, nur du hast darüber zu entscheiden.«

»Ja, das weiß ich. Danke.«

Sein Vater seufzte und in seinen Gesichtszügen lag tiefe Trauer. »Mach’s gut, mein Sohn!«

Aron nickte. Er umarmte ihn noch einmal, dann hob er seine Tasche auf und ging auf Griffin zu, der noch immer lächelte. Ein enges Band hatte sich um sein Herz geschnürt, jeder Schritt wog unendlich schwer. Traurig sah er Griffin an, er konnte dessen Fröhlichkeit einfach nicht erwidern.

»Willst du das wirklich, Griff?«

Sein Freund nickte und wurde plötzlich ernst. »Ja, das will ich.« Er legte Aron eine Hand auf die Schulter. »Und ich bin dir so dankbar, dass du mit mir kommst.«

Für die Freundschaft, dachte Aron und bekam ein schiefes Grinsten zustande.

»Für dich immer, Griff.«

Und gemeinsam bestiegen sie den Jet, der sie weiter Richtung Süden bringen sollte, in ein neues Leben.


Lichter im Norden

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