Читать книгу Lichter im Norden - Nena Schneider - Страница 17
Aron: R.P.U. Camp
Оглавление»Noch dreißig Mal, dann haben Sie es geschafft. Geben Sie nicht auf, machen Sie weiter.« Die Computerstimme drang kaum zu Aron durch. In seinen Ohren dröhnte laute, zerstörerische Rockmusik. Eine besondere Auswahl, die ihm der Computer zusammengestellt hatte. Sie motivierte ihn, brachte das Adrenalin in ihm zum Pumpen und dröhnte ihn voll.
Er drückte die Stange mit den Gewichten von seiner Brust weg. Einmal, zweimal, dreimal, zehnmal hintereinander, dann ließ er sie in der Halterung ab. Das musste er nun noch zweimal machen, dann hatte er seine Trainingseinheit für heute beendet.
Seit Monaten absolvierten sie eine Grundausbildung, die sich nur um Ausdauer, Muskelaufbau und Gehorsam drehte. Jeden Tag mussten sie durch das Dickicht laufen, klettern, robben und Kraft-training hinter sich bringen. Die Abläufe ähnelten sich, aber selten traf man Männer aus anderen Einheiten. Manchmal erschien Aron der Dschungel wie ausgestorben.
Ihre Tagesabläufe waren strikt getaktet. Zwischen Sport, Schieß-übungen und Mahlzeiten, mussten sie immer wieder auf dem großen Platz antreten, um zu salutieren und von Majo Krox angeschnautzt zu werden. Freizeit hatten sie nur wenig.
Das Training fiel Aron nicht schwer. Er war schon immer stark gewesen und durch seine virtuellen Arktisausflüge hatte er auch an Ausdauer gewonnen. Griffin hingegen musste sich verbissen durch die Einheiten kämpfen. Langsam wurde er kräftiger und muskulöser. Der kleine dünne Junge mit den verträumten lockigen Haaren verschwand zusehends. Vor ein paar Tagen hatte er sich die Haare abrasiert. Nun sah er älter aus. Aber das änderte nichts daran, dass er mit Aron noch immer nicht mithalten konnte.
Bernhard Porier erging es ähnlich wie Griffin.
Er kam aus einer Familie von Menschen, die ihr Leben dem Militär gewidmet hatten. Sein Vater war angeblich selbst ein R.P.U. oder in einer ähnlichen Einheit gewesen. Seine Mutter arbeitete irgendwo in einem Militärlabor und all seine Geschwister hatten sich entweder für einen Bürojob beim Militär oder für eine der gefährlicheren Arbeiten entschieden. Zwei seiner Brüder und seinen Vater hatte er deswegen nie wieder gesehen. Er tat es mit einem Schulterzucken ab. So war das nunmal.
Aron empfand ihn als recht angenehmen Gesprächspartner. Bernhard war vernünftig, ruhig und hatte wenig Zweifel an der Sache – im Gegensatz zu Aron selbst.
Auch gegen Chibueze konnte er nichts sagen. Der Afrikaner sprach zwar weniger mit ihm als Bernhard, aber er schien ganz witzig zu sein und vielleicht wusste er auch einfach noch nicht, wem er vertrauen konnte. Seinen Nachnamen verriet er niemandem. Er kam von den Lilipads, den schwimmenden Städten. Aron hatte davon gehört. Sie ankerten vor ruhigen Küsten mit wenig Wellengang. In einer Stadt wohnten etwa zehntausend Menschen. Aron hatte noch nie eine gesehen. Nur die Reichsten der Reichsten konnten sich leisten, dort zu wohnen. Oder Menschen, für die schon vor hundert Jahren reserviert worden war. Schon kurz vor der Eiszeit, als die damaligen Ame-rikaner erste Projekte in Planung hatten. Streng geheim natürlich.
Aron hätte gerne mehr über diese hochmodernen Wasserstädte gehört, aber Chibueze schwieg lieber darüber. Anscheinend wollte er seine Vergangenheit hinter sich lassen – ebenso wie Griffin.
Mit letzter Kraft drückte Aron die Gewichte von seiner Brust weg und ließ sie in die Halterung plumpsen. Dann richtete er sich auf seiner Bank auf und verschnaufte. An seinen Oberarmen bildeten sich bereits kleine Risse, weil seine Muskeln schneller wuchsen als seine Haut.
Ihm gegenüber stemmte Tobin Hobbs seine Gewichte. Der Fünf-zehnjährige war etwa so groß wie Aron und ebenso stark. Niemand hätte ihn jünger als neunzehn geschätzt. Er sah unverschämt gut aus und versprühte seinen geheimnisvollen Charme, wohin er auch kam.
Er war der Typ, der Frauenherzen brach, ohne einen einzigen Blick mit ihnen zu wechseln.
Tobin war ein Killer. Er sprach kaum. Seine Augen funkelten ununterbrochen. Und Aron mochte ihn nicht.
Es war nicht gerade Angst, die Aron verspürte, aber wenn er daran dachte, alleine mit diesem Typen durch die Wildnis zu laufen, war er nicht sicher, ob er gut schlafen konnte.
Der Junge – der Mann – hatte mit zwölf Jahren seinen Vater ermordet. Er war in einem der Slums in Kairo aufgewachsen, in bitterer Armut. Seine fünf Geschwister hatten unter dem alkoholabhängigen Vater gelitten, ebenso seine Mutter, und so hatte Tobin als Ältester die Situation verändert.
Er hatte ihm eine zersplitterte Schnapsflasche in den Hals ge-rammt und ihn ausgelacht, während er verblutete. Dann hatten sie ihn verhaftet. Nach drei Jahren guter Führung war eine Frau aufgetaucht und hatte ihn gefragt, ob er nicht Lust verspürte, bei der R.P.U. mitzumachen. Tobin konnte nur unter zwei Bedingungen Lust verspüren: Erstens, wenn er genug Geld bekam, um seine Mutter und seine Geschwister zu versorgen, was angesichts seiner Vorgeschichte eine erstaunlich fürsorgliche Bedingung war, zweitens, wenn er ein paar Menschen umbringen konnte, um alles zu rächen, was er zu rächen hatte.
Und nun war er hier.
Natürlich wussten sie das nicht von Tobin selbst. Bernhard hatte seine Kontakte spielen lassen und sich erkundigt. Aron musste gestehen, dass ihn diese Geschichte zutiefst schockierte und dass er nicht um den Gedanken herumkam, dass Tobin eher eine Therapie als ein R.P.U. Camp nötig hatte.
Im Oktober würden sie die Grundausbildung beenden und mit Gruppendynamik, Verhandlungstechnik, Verteidigungs- und An-griffsstrategien weiter machen. Dann war es ihre Aufgabe, sich besser kennenzulernen. Denn wenn sie nach der Ausbildung alleine dort draußen waren, mussten sie sich aufeinander verlassen können. Aron flaute der Magen bei dieser Vorstellung.
Bis jetzt sprachen sie über oberflächliche Dinge und behandelten sich wie Menschen, die zufällig gemeinsam in einem Zimmer schliefen. Das musste sich ändern.
Ein Trost für Aron war Griffins schwindende Begeisterung. Nun konnten sie sich endlich wieder gemeinsam über Dinge beschweren, wie früher in der Schule. Manchmal saßen sie bis spät in die Nacht draußen vor dem Gemeinschaftshaus oder in der Küche und schwelgten in Erinnerungen. In diesen Moment wurde Aron immer wieder klar, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Griffin war noch immer und würde immer sein bester Freund bleiben. Die Kindheit, die sie gemeinsam durchlebt hatten, schweißte sie für immer zusammen. Das konnte ihnen niemand jemals wegnehmen.
Seit sieben Monaten waren sie nicht mehr zu Hause gewesen. Morgen würde Aron für eine Woche mit dem Jet zurück nach Tiska fliegen. Für eine Woche. Leider wollte Griffin nicht mitkommen, er wollte seinem Vater nicht begegnen und hatte Aron nur gebeten, Grüße an seine Mutter auszurichten. Noch durften sie ihre Familien besuchen, aber ihnen wurde eingeschärft, dass dieses Camp und alles, was darin geschah, streng geheim war und auch bleiben sollte. Wie sie sicher gehen wollten, dass jeder seinen Mund hielt, war Aron nicht ganz klar. Herausfordern wollte er es trotzdem nicht.
Seufzend stand Aron von der Bank auf und nahm sich die Kopfhörer aus dem Ohr, die Musik stoppte sofort. Er wischte sich mit einem Handtuch die Stirn ab und ging zum Waschraum.
Das Vibrieren des Weckers weckte ihn früh. Zügig und leise zog er sich im Dunkeln um, seine Sachen hatte er schon in einen kleinen Rucksack gepackt. Mehr als die Hälfte seiner Kleidung und Schuhe befanden sich ohnehin noch in Tiska. Leise schloss er die Tür hinter sich.
Im nächsten Raum stand wie immer etwas zu essen bereit. Aron hatte aufgegeben herausfinden zu wollen, wer dieses Essen zubereitete und wo. Zum Frühstück gab es Vollkornsemmeln, Eier und eine Bohnensuppe. An einem der Tische saß Bernhard. Er war der Einzige, der ebenfalls nach Hause fuhr. Alle anderen verzichteten auf eine Begegnung mit ihren Verwandten.
Aron nahm sich Brot und einen Teller Suppe. Seitdem er so hart trainierte, hätte er ständig essen können, egal was.
»Guten Morgen«, sagte er zu Bernhard und setzte sich.
»Ja, tatsächlich, das ist er«, entgegnete dieser freundlich. »Wie lange fliegst du nach Tiska?«
»Vier, fünf Stunden, ich hab vergessen, wie lange der Hinweg gedauert hat.«
Bernhard nickte. »Wahrscheinlich auch verdrängt.«
»Vielleicht.«
Schweigend aß Aron seine Suppe und Bernhard nippte an seinem dampfenden Kaffee. Hier im Raum hörte man nichts vom lärmenden Urwald draußen, die Wände schienen aus Beton zu sein. Nicht einmal die ewige Feuchtigkeit drang hindurch. Sie hätten auch in einem Bunker unter der Erde sitzen können, wahrscheinlich wäre Aron das nicht einmal aufgefallen. Auch weil die Fenster hier so winzig waren, dass sie die Räume kaum erhellten.
»Darf ich dich mal was fragen?«, unterbrach Bernhard seine Gedanken.
»Sicher.«
»Wir alle haben unsere Gründe hier zu sein. Ich, weil ich einer Tradition folge und ansonsten unter Perspektivlosigkeit leide, Chib wahrscheinlich, weil er seiner reichen, versnobten Familie entfliehen will, Griffin, weil er einen tyrannischen Vater hat und Tobin … naja, weil er eben noch weniger Perspektive hatte als ich … also - «
»Du fragst, warum ich hier bin?«
Bernhard nickte. »Ja. Deine Beweggründe sind mir nicht ganz klar, besser gesagt, überhaupt nicht.«
Aron wiegte seinen Kopf. »Vielleicht ist es im Gegensatz zu euren Motiven auch lächerlich, aber … ich bin wegen Griff hier. Ich konnte ihn nicht alleine hierher gehen lassen. Wir sind schon so lange Freunde, es wäre schade gewesen, wenn das einfach aufgehört hätte.«
»Und dafür verlässt du deine Familie? Nach allem, was du erzählt hast, scheint ihr ein gutes Verhältnis zu haben.«
»Das ist richtig, ich liebe meine Familie. Aber Griffin gehört auch dazu. Er ist wie ein Bruder für mich.«
Bernhard nickte, aber Aron sah ihm an, dass er noch etwas sagen wollte.
»Nun sag schon, was du loswerden willst«, forderte Aron ihn auf.
Bernhard hob beschwichtigend die Hände. »Es ist nichts, nichts Wichtiges. Es ist nur … ich dachte irgendwie, du würdest auf ihn stehen, auf Griffin.«
Nun musste Aron lachen. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Griffin an jenem Septemberabend. Als sie vom Berg aus das glitzernde Tiska bewundert hatten.
»Das dachstest du? OK, ich gebe Entwarnung. Komme ich denn so schwul rüber?«
»Nein, aber Griffin vielleicht. Ich weiß einfach nicht … « Bernhard schüttelte den Kopf und trank weiter seinen Kaffee. Aron traute seinen Augen nicht, zeigte sich da ein winziger Anflug von Freude in Berhards Gesicht? Es dauerte etwa fünf Sekunden, bis der Groschen fiel.
»Du magst Griff, oder?« Aron sah Bernhard fragend an. Obwohl dieser ein paar Jahre älter war, sah er nun aus wie ein kleiner Schuljunge.
Bernhard nickte und wurde rot. Eine Seite, die Aron bis jetzt nicht an ihm erlebt hatte.
»Griffin ist toll«, flüsterte er.
»Ja, aber leider ist Griffin nicht schwul.« So leid es Aron tat, Bernhard das sagen zu müssen, war es doch das Beste für alle. »Und ich glaube auch nicht, dass eine Beziehung hier drin so gut laufen würde, oder?«
»Er ist nicht - ? Aber ich dachte … irgendwie dachte ich das. Aber du hast Recht.«
Aron blickte ihn ein wenig mitleidig an.
»Hey, schwärmen ist doch erlaubt.« Bernhard lächelte.
»Klar! Schwärm für wen du willst, aber bitte sag‘s niemandem.«
»Jaja… ich muss jetzt gehen, mein Jet wartet. Viel Spaß bei deiner Familie!«
»Danke.«
Bernhard verließ den Raum und Aron hörte die schwere Tür zufallen. Er löffelte seine Suppe zu Ende und versuchte, mit diesem unerwarteten Geständnis klarzukommen.
Da es ihm ohnehin nicht sofort gelingen würde, stellte er den Teller schließlich beiseite und verließ mit seiner kleinen Sporttasche den Bunker.
Schwüle Hitze schlug ihm entgegen, durchmischt mit lautem Vogelgezwitscher, Gebrüll von irgendwelchen Dschungelbewohnern und dem Geräusch tausender Grillen. Doch diese Kulisse nahm Aron kaum noch wahr, seine Ohren hatten sich daran gewöhnt, genau wie Bernhard vorausgesagt hatte.
Er lief den breiten Trampelpfad entlang, der ihn zum Exerzierplatz führte, wo bereits ein Jet auf ihn warten sollte. Vielleicht flog er ja mit einem anderen R.P.U. in dieselbe Richtung. Es wäre schön, ein wenig Gesellschaft zu haben.
Auf dem Weg kam er an den vielen kleinen Baracken vorbei. Sie mussten früher zu Forschungszwecken dort aufgestellt worden sein. Manchmal standen hier Wasserspender, wenn sie ihre tägliche Joggingrunde absolvieren mussten.
Er kam an vier oder fünf vorbei, den sechsten hätte er beinahe übersehen. Doch etwas ließ ihn innehalten. Durch die enorme Geräuschkulisse drang ein anderes, bekanntes Geräusch: Menschenstimmen.
Sie kamen aus dem Inneren der Baracke.
Aron ließ seine Tasche auf den Boden fallen und näherte sich ihr. Die Stimmen wurden deutlicher und eine von ihnen kam ihm bekannt vor. Er hatte sie schon einmal gehört.
Langsam schlich er sich an die angelehnte Tür. Ein stickiger Geruch drang aus dem Schlitz. Er spähte hindurch und entdeckte eine funzelige Lampe an der Decke, die das dunkle Innere spärlich erleuchtete. Ein kleiner Tisch stand darunter. An diesem Tisch saßen zwei Männer. Einer von ihnen rauchte eine Zigarre, der andere saß kerzengerade und erklärte etwas, doch Aron konnte nur einzelne Wortfetzen heraus hören.
Er drehte seinen Kopf ein wenig, um den sprechenden Mann besser sehen zu können und schrak plötzlich zurück.
Sofort entfernte er sich ein paar Schritte von der Hütte und starrte sie entgeistert an. Zuerst wollte er nicht glauben, wen er gesehen hatte, dann fügte sich das Bild in seinem Kopf langsam zusammen.
Aron fasste den Entschluss, dass niemand hiervon erfahren durfte, besonders nicht Griffin. Denn in der Baracke saß Huges Warrick. Wenn Griffin jemals heraus fand, dass sein Vater Teil der R.P.U. war oder zumindest mit ihr zusammenarbeitete, war die Hoffnung seines Freundes, den eigenen Vater tief zu erschüttern, für immer vernichtet. All die Anstrengungen, die er tapfer über sich ergehen ließ, umsonst.
Seine Entschlossenheit würde in tausend Teile zerspringen, wenn Griffin erfuhr, dass sein Vater wahrscheinlich niemals erschrocken oder betrübt über seine Entscheidung, zur R.P.U. zu gehen, war. Auch nicht verletzt oder traurig. Vielmehr konnte sich Aron vorstellen, dass Warrick nicht mehr als ein Schulterzucken für seinen Sohn übrig gehabt hatte.
Angewidert nahm Aron seine Tasche wieder auf und machte sich schleunigst auf zum Exerzierplatz, wo bereits der Jet auf ihn wartete.
Während des Fluges versuchte er, das Gesehene zu vergessen. Wenn ihm das gelang, musste er auch nicht mehr daran denken, wie fehl am Platz er sich deswegen nun fühlte. Griffins Beweggrund war nichtig, seiner somit auch?
Vielleicht nicht, denn er hatte sich entschieden, Griffin zu folgen, aus welchem Grund dieser auch ging. Trotzdem nagte dieser Gedanke an Aron.
Er konnte ihn erst abschütteln, als er am Horizont die glitzernden Solarzellen Tiskas sehen konnte. Die weiße Stadt kam näher. Er sah die Pflanzen, Terrassen und Pools. Alles sah sauber aus, geordnet und heimisch. Wie sehr er die Klarheit dieser Stadt doch vermisst hatte.
Aron spürte, dass er noch derselbe war, aber trotzdem fehlte etwas. Noch nie war er ohne Griffin in Tiska gewesen.
Er betrat die weißen Fliesen ohne seinen besten Freund.