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WAS UNS BISHER DAVON ABHIELT, DIE WELT ZU VERÄNDERN
ОглавлениеWir sind gefangen in einer Welt aus strenger Arbeitsethik (nur wer Geld verdient und viel arbeitet, ist etwas wert), Hyperkonsum und sofortiger Befriedigung und gleichzeitig ständig und gezielt unbefriedigten Bedürfnissen.
Unbefriedigte Bedürfnisse? Ja, genau das. Wir sollen nämlich nicht glücklich und zufrieden sein. Dann wären wir in der Konsumgesellschaft nämlich nutzlos. Welzer schreibt: »Befriedigte Bedürfnisse sind der Tod der Wachstumsgesellschaft. Und deshalb ist ihre Geschäftsgrundlage die Produktion von Unglücklichsein.«14 Glück ist in unserer Ökonomie kein Wert, weil geschäftsschädigend.
Der Kabarettist und Autor der Känguru-Chroniken Marc-Uwe Kling fasst es knapp zusammen, während er mit dem Känguru in einer Buchhandlung steht und sein Blick über die aktuelle Ratgeberliteratur schweift: »Die Regale sind thematisch in fünf Schwerpunktgebiete unterteilt: Du bist zu hässlich, du bist zu dumm, du bist zu arm, du bist zu schlecht im Bett, und du bist generell nicht gut genug.« Dann liest er den Klappentext eines imaginären »Ratgeber-Ratgebers« vor, der die Situation so beschreibt: »Wie die vier apokalyptischen Reiter fallen Flexibilisierung, Entfremdung, Sicherheitsverlust und Erfolgsdruck über die Postmoderne her und hinterlassen unter den Trümmern der Tradition eine zutiefst verunsicherte, orientierungs- und ratlose Gesellschaft. Unerreichbare, massenmedial verbreitete Idealbilder von Schönheit, Coolness und Glück machen die Krise des eigenen Selbst zu einem Automatismus. Profitieren auch Sie vom Klima der Angst, schreiben Sie jetzt einen Ratgeber!«15
Wenn wir unsere Kinder mit einer positiven Grundausstattung ins Leben lassen, sparen sie sich all die Bücher und Seminare, die wir selbst dafür gebraucht haben.
Touché, würde ich sagen. So ein Buch wird das hier nicht sein. Denn hier geht es um unser Glück – nicht um Perfektion.
Die Forschung ist sich einig, dass Bedürfnisse einem einfachen Muster folgen: Befriedigte Bedürfnisse verschwinden, unbefriedigte tauchen immer wieder auf. Es wäre also wunderbar gewesen, wenn unsere Bedürfnisse nach Liebe, Zugehörigkeit und dem Recht auf ein sinnerfülltes Leben als Baby und Kleinkind schon erfüllt worden wären. Denn dann hätten wir das neurophysiologische Grundgerüst, das uns auch entspannt und glücklich sein lässt. Gemeinsam mit unseren Kindern können wir das immer noch lernen. Diese Reise kann etwas beängstigend sein. Es sind oft unsere eigenen alten Wunden, die uns davon abhalten, unseren Kindern die Werkzeuge für eine neue Zukunft mitzugeben – wir sind streng, also werden sie unsicher, wir sind unnahbar, also werden sie Suchende, wir sind ängstlich, also sind sie es. Aber wir können das ändern, hier und heute. Und es ist gar nicht so schwer. Natürlich dauert einiges davon ein bisschen, und wir glauben, »Zeit« wäre etwas, was wir nicht hätten, besonders nicht für unsere Kinder. Aber in Umfragen der Shell Jugendstudie16 wünschen sich die meisten Kinder vor allem eines: mehr Zeit mit den Eltern. Und diese Zeit wäre gut investiert.
Aber Zeit haben wir nicht, die Zeit hat viel mehr uns. Das Zeitregime – vor 150 Jahren noch weitestgehend unbekannt – hat uns fest im Griff. Schlaf ist ein »betriebswirtschaftliches Problem«17 geworden, und das merken wir vor allem, wenn unsere Kinder noch sehr klein sind und sich so gar nicht an den vermeintlich einzig richtigen, industriell geprägten Acht-Stunden-Schlafrhythmus anpassen lassen. Damit werden die Kinder zum Problem, zum Sand im Getriebe des Kapitalismus. Sie werden reihenweise pathologisiert, sie müssen erzogen werden, und man unterzieht sie schon als Babys einer behavioristischen Prozedur, die »abgestufte Extinktion« heißt und bei der unerwünschtes Verhalten durch Ignorieren gelöscht werden soll – ursprünglich an Hunden getestet und entwickelt für Menschen mit Angststörungen. Es liegt an uns, ob wir das mitmachen – oder ob wir uns wehren und sagen: Wir finden andere Wege.