Читать книгу Der Elternkompass - Nicola Schmidt - Страница 6
GESICHERTE FAKTEN STATT ERZIEHUNGSMÄRCHEN
ОглавлениеAber was war davon wahr? Was war »richtig«? Wer wusste denn, was richtig war? Die Empfehlungen, die ich als Mutter bekam, waren oft widersprüchlich und widersinnig. Selbst Kinderarzt und Hebamme schienen sich nicht einig zu sein, was richtig für ein kleines Menschenkind ist. Und je älter dieses Menschenkind wurde, desto chaotischer wurden die Meinungen, die mir um die Ohren flogen.
In meiner Ratlosigkeit tat ich das, was ich gelernt hatte: Ich fing an zu recherchieren. Ich bin ja keine Pädagogin, doch ich habe als Wissenschaftsjournalistin jahrelang für Zeitschriften gearbeitet, als Sozialwissenschaftlerin mein Diplom gemacht – mit Bibliotheken, Studien und Forschern kenne ich mich also bestens aus. Was ich wollte, waren eindeutige Antworten und Klarheit. Ich hörte auf, Erziehungsratgeber zu lesen, und vertiefte mich stattdessen in Studien. Ich begann im Internet, ging dann in Universitätsbibliotheken, und schließlich flogen mein Mann, das mittlerweile zum Kleinkind herangewachsene Baby und ich in die USA, um einige der Wissenschaftler hinter den Studien persönlich zu treffen und mit ihnen zu sprechen.
Je mehr ich las, desto erstaunter war ich: Vieles von dem Wissen, das die Forscher längst als bestätigt und sicher ansahen, hatte es offenbar nie bis in die Praxen der Kinderärzte oder den Alltag vieler Hebammen geschafft, geschweige denn bis zu all den wohlmeinenden Menschen, die mich mit ihren Ratschlägen überschütteten.
Mein Lieblingsbeispiel ist die immer noch grassierende Angst, einen Säugling zu verwöhnen. Sie stammt aus einem Erziehungshandbuch aus den Dreißigerjahren,1 in dem man Eltern davor warnte, kleine »Haustyrannen« großzuziehen. Keine Studie hat das je bestätigt, alle Befunde weisen darauf hin, dass Menschen, die ausreichend Liebe, Wärme und Zuwendung bekommen, sich prächtig entwickeln und genau die drei Engel ausbilden, von denen schon die Rede war: ein stabiles Stresssystem, Selbstwertgefühl und Resilienz. Und die Forschung hat unzählige Belege dafür, dass die »nicht verwöhnten« Säuglinge stattdessen an Körper und Seele krank werden.
Je tiefer ich bohrte, desto erstaunter wurde ich. Offenbar war es kein Zufall, dass manche Kinder entspannt, stressresistent und gut in der Schule waren, dass manche sich besser beruhigen ließen als andere, besser schliefen oder weniger krank waren. Ja, sogar dass sie später weniger an Altersleiden erkrankten, bessere Beziehungen führten oder Schicksalsschläge leichter wegstecken konnten – das war alles kein Zufall! Doch was steckte dahinter? Welche Erziehung war das Geheimnis ihrer Stärke und Gesundheit, ihres Selbstvertrauens und ihrer Liebesfähigkeit? Ich wollte es wissen, und zwar genau. Ich wollte herausfinden, was die Eltern dieser Kinder richtig machten – und stellte fest, dass das alles gut erforscht ist.
Das Konzept von Lob und Strafe speist sich eher aus dem Tiertraining als aus der aktuellen Lernwissenschaft.
Doch warum hatten es diese Forschungsarbeiten nie in den »Mainstream« geschafft? Erstens schreien Säuglinge mehr, wenn man sie mehr schreien lässt – und kränker werden sie dadurch auch. Und zweitens war das Märchen von der »Alles-ist-möglich«-Lüge,2 das mir sagte, ich könnte alles haben – Kinder, Karriere und eine großartige Beziehung –, genau das: ein Märchen. Alle ethnologischen, anthropologischen, pädagogischen und medizinischen Befunde zeigten mir: Nein, es war nie einfach, Kinder großzuziehen, es wird nie einfach sein, und wir können immer nur unser Bestes geben.
Ich hatte sicher mein Bestes gegeben. Doch auch für mich war es ein Schock, als mir klar wurde, dass ich trotz meiner ablehnenden Haltung den unsinnigsten Empfehlungen gegenüber (»Schreien stärkt die Lunge«, »Betreuung ab zwölf Wochen« und »Immer schön den Teller leer essen!«) schon in den ersten zwei Jahren mit meinem Kind gravierende Fehler gemacht hatte, einfach weil ich so vieles nicht wusste. Ich hatte offenbar eine Schwangerschaftsdepression gehabt, die niemand – auch nicht meine Hebamme – erkannt, geschweige denn behandelt hatte. Dass junge Schwangere nächtelang weinen, ist ja normal, da reißt man sich einfach mal zusammen, oder? Ich war dem Weinen meines Säuglings hilflos ausgeliefert gewesen, und statt ihn mit ruhigem Atem zu koregulieren (zu beruhigen), wie es nachweislich hilfreich ist, hatte ich Stunden hektisch wippend auf dem Pezzi-Ball verbracht und dabei den Stresshormonpegel eines Hochleistungssportlers auf mein Kind übertragen.
Aber warum hatte mir das niemand vorher gesagt?
Mir wurde klar: Ich wollte weg von Tradition und Glauben, von Ammenmärchen und Unwissenheit hin zu Fakten – am besten zu doppelblind randomisiert ermittelten Tatsachen, also zu Ergebnissen von Studien, bei denen weder die Versuchsleiter noch die Studienteilnehmer Kenntnis über ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit (Kontroll- oder Experimentalgruppe) hatten.
Sprechen wir deshalb in diesem Buch von der »Randomisierung der Erziehungskunst«. Wir schauen uns an, was man belegen kann, und lassen alles links liegen, was zwar »Common Sense« ist, sich aber nicht beweisen lässt.