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FÜR EINE SCHÖNE KINDHEIT IST ES NIE ZU SPÄT
ОглавлениеUnser Gefühl und die Wissenschaft sind sich einig: Die Kindheit sollte ein Ort der Wärme und des Vertrauens sein. Um uns gut zu entwickeln, brauchen wir als Kinder ein Zuhause, in dem wir uns geborgen, sicher und willkommen fühlen. Das ist der Ort, nach dem wir Menschen uns alle sehnen – das Fundament unseres Lebens.
Warum ist das so? Die frühe Kindheit ist die prägendste Phase unseres Lebens. Dort legen unsere Eltern die Grundlagen für unsere seelische und körperliche Gesundheit. Denn als Homosapiens-Kinder sind wir extrem bedürftig und hilflos. Wir gedeihen am besten, wenn uns jemand bedingungslos liebt und umsorgt. Wir brauchen jemanden, der unsere Gefühle erkennt und spiegelt, der mit uns lacht, uns in den Arm nimmt – jemanden, der Tag und Nacht für uns da ist, uns wärmt und wiegt. Wenn wir dieses Gefühl bekommen, sind wir gewappnet für die Welt: Wir haben Urvertrauen – jene besondere Sicherheit, dass wir immer wieder an diesen heilen inneren Ort zurückkehren können.
Eigentlich haben wir Menschen alle von Natur aus drei Engel an unserer Seite: ein starkes Selbstwertgefühl, das uns hilft, unseren Weg zu gehen, ein stabiles Stresssystem, das uns auch in schwierigen Zeiten ruhig bleiben lässt, und Resilienz, die psychische Widerstandskraft, die uns auch nach schweren Schicksalsschlägen hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Doch diese drei müssen in der Kindheit aufgebaut, gestärkt und ausgebaut werden, damit sie uns durchs Leben tragen und alles verlässlich funktioniert.
Ich bin im alternativen Berlin der Achtzigerjahre groß geworden: mit hilflosen Erziehern in Kinderläden, überforderten Lehrern und wenig geschulten Sozialarbeitern, die sich in erster Linie um sich selbst drehten. Ich hatte das Glück, dass meine eigene Mutter schon damals nichts mehr auf die autoritäre Erziehung gab, die sie selbst als Kind erfahren hatte. Gleichzeitig hinterließ diese Erziehung tiefe Narben in ihrer Seele, die bis heute nicht verheilt sind.
Als meine eigenen Kinder geboren wurden, stand für mich deshalb fest, dass ich ihnen unbedingt einen besseren Start mitgeben wollte, ohne dass ich je etwas von Stresssystemen, Selbstwertgefühl oder Resilienz gehört hätte. Ich dachte mehr an ein warmes Zuhause, festes Urvertrauen und das Wissen, dass ich immer für sie da bin. Denn ich hatte gesehen, wie gewaltvolle, autoritäre Erziehung und emotionale Härte die Seele eines Menschen nachhaltig zerstören und sogar über zwei Generationen hinweg destruktiv wirken können. Ich wollte diese unheilvolle Tradition ein für alle Mal unterbrechen – und es besser machen.
Doch auf dem Weg dahin stieß ich auf Hindernisse, mit denen ich nicht gerechnet hatte.
Als mein Sohn sieben Wochen alt war, kamen Verwandte zu Besuch. Er war gerade friedlich auf meinem Arm eingeschlafen, da hörte ich zum ersten Mal, dass es an der Zeit sei, ihn »richtig zu erziehen«: »Willst du ihn nicht mal weglegen?« – »Nein, wenn ich ihn weglege, wacht er auf und weint, er will nicht allein sein.« – »Das muss er aber lernen! Das würde ich ihm nicht durchgehen lassen, du kannst ihn doch nicht ständig herumtragen!« Ich schaute mein winziges Baby an und fragte mich, warum es so kurz nach seiner Geburt »lernen« sollte, allein zu sein.
Im Laufe der nächsten Wochen bekam ich immer wieder solche »guten Ratschläge«: Ich solle das Baby auch mal schreien lassen, damit es mich nicht »um den Finger wickelte«, und es nicht füttern, wenn es Hunger hatte, damit ich es nicht »verwöhnte«. Außerdem sei es an der Zeit, einen Betreuungsplatz zu suchen und das Kind tagsüber wegzugeben. Ich sei schließlich keine Fachfrau und kenne mich daher mit Kindern nicht aus. Zu diesem Zeitpunkt war mein Baby noch nicht einmal drei Monate alt.
Unterschiedliche und widersprüchliche Ratschläge verunsichern uns als junge Eltern. Selbst Kinderarzt und Hebamme scheinen sich oft nicht einig zu sein, was richtig für ein kleines Kind ist.
Was ich zu hören bekam, passte so gar nicht zu dem, was ich mir vorgenommen hatte. Ich war vollkommen verunsichert. Aber da die Ratschläge von vermeintlichen Experten kamen – erfahrenen Müttern, Hebammen, einer Kinderärztin –, probierte ich es aus.
Man hatte mir als Lohn ein »braves Baby« versprochen. Doch was ich bekam, war das Gegenteil. Aus meinem bisher zufriedenen, friedlichen Säugling wurde durch diese Maßnahmen ein schreiendes, verzweifeltes Bündel. Mein Sohn wollte offenkundig weder allein schlafen noch auf sein Essen warten – noch ständig von mir getrennt werden. Statt ein »einfaches« Baby bekam ich ein nervöses Kind, das schlecht schlief, sich beim Stillen vor Hunger verschluckte und jedes Mal auszuflippen schien, wenn ich den Raum verließ. Als ich die vermeintlichen Experten darauf ansprach, erklärte man mir, dass ich daran aber nun wirklich selbst schuld sei – schließlich hätte ich ihn in den ersten zwei Monaten ja total verwöhnt und schon völlig verzogen. Jetzt müsse ich das Geschrei aushalten, bis er wieder gelernt hätte, wie die Welt »richtig« funktionierte.
Ich bin von Natur aus stur und scherte mich nicht drum. Ich machte es zu Hause heimlich so, wie ich es für richtig hielt, aber ich fühlte mich ständig schuldig, und zwar im doppelten Sinne: zum einen meinem Kind gegenüber, weil ich diesen Erziehungsquatsch überhaupt – wenn auch nur kurz – ausprobiert hatte, und zum anderen den »Experten« gegenüber, deren Weisheiten ich frech ignorierte, obwohl ich doch »nur« Mutter war. Zudem war ich schrecklich allein. In Mütterkreisen wurde ich mit meinem getragenen, bei mir schlafenden, nach Bedarf gestillten Baby schräg angesehen: Was erlaubte ich mir, all die erprobten Ratschläge infrage zu stellen? Ausgerechnet ich, die ich doch gar keine Ahnung hatte?
Leider konnte ich gleichzeitig nicht behaupten, dass es mir besser ging als anderen Müttern. Ich schien fürs Muttersein nicht wirklich gut gerüstet zu sein – eine besonders talentierte Vollzeitmutter war ich jedenfalls nicht. Ich fand es überhaupt nicht einfach, den ganzen Tag mit einem Säugling zu verbringen, völlig fremdgesteuert durch seine Bedürfnisse, seine Windeln, seinen Schlaf- und Essensrhythmus. Genau so schwer fiel es mir aber, ihn weinend an Papa, Tante oder einen Babysitter abzugeben, um mich zu »entspannen«. Es war für mich kein bisschen entspannend zu sehen, wenn es ihm dabei ganz offensichtlich nicht gut ging.
Und so war es dann mit der Coolness auch nicht weit her: Sobald ich eine Weile von ihm getrennt war, überkam mich das fast panische Bedürfnis, möglichst schnell zurück zu meinem Kind zu kommen und zu sehen, wie es ihm ging. Monatelang schwankte ich zwischen überforderter Langeweile und dem Bedürfnis nach ständigem Kontakt mit meinem Baby.
Es gab nur einen Menschen, der für meinen Zustand Verständnis hatte: meine Mutter. Trotz allem, was sie selbst erlebt hatte, war sie die Einzige, die mein Baby niemals »erziehen« wollte, sondern mit ihm sang, es wiegte und immer zu mir brachte, wenn es nach mir verlangte. Kein Wunder, dass sie der einzige Mensch war, bei dem mein Kleiner klaglos und freudig blieb.
Und dennoch: Egal, was ich tat, alle, der Mann, das Kind und ich, schienen ständig zu kurz zu kommen.
Gleichzeitig ging es dem Kind überraschenderweise hervorragend. Während meine Kinderärztin bei jeder Pflichtuntersuchung vor Begeisterung überschäumte, weil es sich so gut entwickelte, wach und gesund war, reagierte sie entsetzt, wenn sie hörte, wie ich mich von ihm »tyrannisieren« ließ.
Niemand hindert uns daran, mit unserem Kind so umzugehen, wie es sich für uns alle gut anfühlt.
Eines Abends saß ich weinend neben meiner Mutter auf dem Sofa: »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!« Ruhig fragte sie zurück: »Was willst du denn tun? Was willst denn du?« Oh, das wusste ich genau: Ich wollte mein Kind bei mir haben, es herumtragen und mit ihm spielen. Ich wollte es stillen, wenn es Hunger hatte, es nachts an meiner Seite wissen und arbeiten, ohne mich von dem kleinen Wurm trennen zu müssen. Ich wollte meinem Kind nicht auf die Finger hauen, wenn es »unartig« war, ich wollte nicht ständig »Nein, lass das!« rufen, und ich wollte es nicht allein schlafen lassen, wenn es ohne mich Angst hatte.
»Und wer hindert dich daran?«, fragte meine Mutter. Da machte es klick bei mir. Sie hatte recht. Wer hinderte mich eigentlich daran? Mich hinderte meine Angst, etwas falsch zu machen. Mich hinderte meine Isolation, das Gefühl, dass nur ich allein es nicht so machen wollte, wie »man« es machte. Mich hinderten all die versteckten Drohungen, einen kleinen »Tyrannen« großzuziehen, das Kind zu überfüttern oder seinem Rücken zu schaden. Mich hinderten die Aussagen, dass das Kind nie auf dem Arbeitsmarkt einer globalisierten Welt bestehen könne, wenn es nicht spätestens mit anderthalb Jahren von einer Fachkraft gefördert würde.