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Geschwisterabstand als urbane Legende

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In westlichen Gesellschaften pflegt man die Ansicht, es sei gut, Geschwister so nah aneinander wie möglich zu bekommen, weil sie dann angeblich toll miteinander spielen und man die Arbeit »in einem Rutsch« erledigt habe. Außerdem würde sich das große Kind dann gar nicht erst daran erinnern, ein Einzelkind gewesen zu sein. Nichts davon ist belegt, und viele Eltern merken nach dem ersten Mal sehr schnell, dass das keine so gute Idee war (weswegen das dritte Kind dann oft erst drei bis fünf Jahre später kommt).

Was »richtig« für ein Baby ist, entscheidet jede Kultur für sich neu.

So eigenartig diese Unterschiede uns erscheinen, so haben sie doch oft einen Sinn: In einem dicht bewachsenen Gebiet wie dem der zentralafrikanischen Aka-Pygmäen geht ein laufendes Kleinkind viel eher verloren als in der Savanne bei vielen !Kung-Gruppen, daher hat niemand ein Interesse daran, dass es früh läuft. Und ob ein Kind direkt angesprochen wird oder eher »mitläuft«, legt schon früh fest, wie viel Aufmerksamkeit es als Kleinkind einfordert und braucht, wie stark sich sein »Ich-Gefühl« entwickelt und wie gut es sich in eine Gruppe eingliedern kann.

Wenn wir uns fragen, was »richtig« für Kinder ist, müssen wir uns also immer vor Augen halten, dass wir mit der Brille unserer Kultur auf alles schauen, was wir sehen. Die Forscherin Heidi Keller beschäftigt sich seit den Siebzigerjahren mit der Frage, was in unserer Biologie liegt und was uns die Kultur darüber sagt, wie wir mit Kindern »richtig« umgehen sollen.

Eltern der Nso in Kamerun und Mütter im indischen Bundesstaat Gujarat haben zum Beispiel laut einer ihrer Studien viel und häufig Körperkontakt mit ihren Säuglingen, sie tragen sie, lassen sie auf ihrem Schoß liegen, wiegen sie mit ihrem Körper in einem Tuch. Stattdessen wedeln Eltern in Deutschland häufiger mit Spielsachen vor ihren Babys und lassen sie »allein damit spielen«, was Mütter in Kamerun und im indischen Gujarat praktisch gar nicht tun. Die Babys lernen, »sich allein zu unterhalten, und machen es so unabhängig vom sozialen Miteinander«.24

Eine gute Idee? Nun, das sieht man in anderen Kulturen anders: »Dass ein Baby Zeit allein verbringt, ist eine unvorstellbare und grausame Idee für die Nso-Erziehungsphilosophie.«

Den Nso ist auch mehr als den deutschen Eltern die körperliche Entwicklung ihrer Kinder sehr wichtig – und folgerichtig sind die kamerunischen Babys mit drei Monaten in ihrer Motorik den hiesigen Kindern deutlich überlegen. Sie können nun schon über längere Zeit auch ohne Unterstützung frei sitzen und zeigen beim Herumtollen eine erkennbar stärkere Kopf- und Körperkontrolle. Dafür sind die deutschen Babys besser in der sozialen Kommunikation: Sie reagieren eher auf ihren Namen, lächeln in sozialen Situationen und geben erste interessante Geräusche von sich.

Besonders spannend wurde es, als Keller die Videos der einen Gruppe der anderen zeigte. Die Nso-Mütter trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie deutsche Mütter ihre Kinder zu beruhigen versuchten, ohne ihnen die Brust zu geben, und wie deutsche Babys allein schliefen. Sie fragten sogar nach, ob es in Deutschland verboten wäre, die Kinder auf den Arm zu nehmen, weil die Babys so viel Zeit in Babywippern, in Wiegen und auf dem Boden verbrachten. Die deutschen Mütter hingegen waren entsetzt, als sie Massage und Bewegungstraining der Nso sahen, weil es ihnen unsanft und übergriffig vorkam.

Leider hinterfragen wir selten, welches Erziehungsziel wir eigentlich verfolgen und ob es ein sinnvolles, gesundes, kluges Ziel ist. In der westlichen Welt müssen Babys schon früh lernen, allein ein- und durchzuschlafen, weil wir hoffen, dass sie dann früh unabhängig und selbstständig werden. Ob das stimmt, weiß kein Mensch. Es gibt hingegen Studien, die belegen, dass Kinder gesünder, stärker, selbstbewusster und stabiler werden, wenn sie nachts keine Angst haben müssen und von Erwachsenen beschützt sind.

Wie wir Kinder behandeln, hängt also stark von der Kultur und unseren Erwartungen ab. Aber eines bleibt: Geliebte Kinder sind starke Kinder. Denn die Bindungstheorie konnte schon relativ früh im vorigen Jahrhundert belegen, dass Kinder uns als sicheren Hafen brauchen und dass Liebe nichts mit Verzärtelung zu tun hat. Dass kleine Jungen verweichlichte Muttersöhnchen werden, wenn sie zu viel Liebe bekommen, wurde in der Geschichte der Menschheit schon oft behauptet. Aber kein Wissenschaftler konnte es jemals beweisen. Egal, was unsere eigenen näheren Vorfahren gedacht oder uns erzählt haben – zu viel Liebe gibt es nicht.

Der Elternkompass

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