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Westhänge Kitainagebirge, im Winter R. D. 18

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Jurei hauchte gegen seine eiskalten, tauben Fingerspitzen und klemmte dann hastig die Hände in die Achselhöhlen. Die Kälte war grausam, der Wind noch grausamer, jaulte und fegte in wüsten, launischen Böen über den Grat und trieb den mit feinem Schnee vermischten Graupel in dichten Wogen vor sich her. Und sein voraussichtlich letzter Einsatz hatte gerade erst begonnen. Er blinzelte, spähte den Hang hinab. Die vereinzelten Lichter im Tal grüßten zu ihm hinauf, lockten und sprachen von Wärme und freundlicher Gesellschaft. Nicht für ihn und die anderen Grenzsoldaten, Männer in seiner Einheit, nicht heute Nacht.

Rikkart stampfte fluchend mit den Füßen auf, sein Gesicht bis zur Nasenspitze in einen dicken Schal gewickelt; nicht vorschriftsmäßig, aber angeraten. Der alte, graue Kev – sein Haar mittlerweile schlohweiß –, ihr Hauptmann, legte auf dergleichen keinen großen Wert. War altersmilde geworden, wie Jurei Rikkart gegenüber spöttisch bemerkt hatte. Bevor ihn eben jener altersmilde Kev bei nächster Gelegenheit gehörig mit dem Stock verdroschen hatte. Jurei nahm es ihm nicht übel, respektloses Verhalten verdiente Strafe. Gleichwohl sein Rücken, Oberschenkel und die Arme selbst nach über einer Woche noch wehtaten.

Der Kampf war gut gewesen und hatte seinen immer wieder aufflackernden Zorn, seine innere Unruhe kurzfristig besänftigt. Immerhin hatte er sich nichts gebrochen. Und Hauptmann Kev schätzte ihn, jedenfalls behauptete der Mann das, lobte Jurei sogar recht häufig, seine feine, saubere Kampftechnik. Nur hätte seine Mutter ihm öfter mal den Mund mit Seife auswaschen sollen, so Kev, der wie Hauptmann Remassey seinen Vater gut gekannt hatte. Sie kannten sich alle gut, schon lange, jene Männer, zu denen er laut Rikkart und einiger anderer angeblich so guten Kontakt hatte, und Domallen wäre als erster zu nennen.

Dabei waren das alles gute Bekannte ... Nein, musste er sich korrigieren, nicht Bekannte, sondern sehr, sehr gute und enge Freunde seiner Mutter, und das ... Ohne es zu wollen hatte er die Fäuste geballt, er hatte da ein Problem, wie er sich unwillig eingestand, eine Art Eifersucht, je älter er wurde. Falsch verstandener Beschützerinstinkt, vielleicht noch mehr seinem Vater gegenüber. Oder dem Andenken seines Vaters?

Doch das alles müßige, vollkommen sinn- und nutzlose Grübeleien, derweil er sich auf Grenzpatrouille in den Bergen den Arsch abfror, noch schlimmer des Nachts in ihren Unterkünften. Das waren uralte Geschichten, längst vergessen und vergeben. Als sei es an ihm, darüber zu urteilen, zu richten; wer war er denn? Ihr Sohn, so lange Zeit seine erste Antwort, sein, Davians Sohn die Antwort, seit er ein gewisses Alter erreicht hatte, und schon lange nicht mehr: Ihr Bruder.

Jurei dachte an den Brief in seiner Tasche. Er sollte ihn wegschmeißen, hätte ihn längst vernichten sollen. Was sollte das denn jetzt noch, nach bald zwei Jahren? Nur, um sich, sein Handeln zu erklären, die alten Gefühle, die Wunden wieder aufzureißen? Gefühlsduseliger Schmarrn.

Einmal mehr suchte er mit schmal zusammengekniffenen Augen die umliegenden, schneebedeckten Hänge und abweisenden, zerklüfteten Bergrücken ab, auf jede Bewegung, jegliches Lebenszeichen ... Da! Er stieß Rikkart mit dem Ellenbogen an. „Dort oben. Siehst du das?“

„Aye“, brummte sein Kamerad. „Scheint ‘ne ganze Gruppe ... Keine Soldaten.“

„Nope, und die haben Kinder dabei.“ Zumindest drei der neun Gestalten, die sich hastig den Abhang hinab bewegten, mochten halbwüchsige Kinder sein, soweit sich das aus der Entfernung sagen ließ. Andere hatten Schwierigkeiten mit dem steilen Terrain, dem rutschigen Geröll, kamen deutlich langsamer, stockender voran. Eh kein sonderlich guter Weg, den die Leute gewählt hatten, schon gar nicht bei den Wetterverhältnissen: Wind und dermaßen viel Neuschnee, außerdem würde es bald dunkel sein. Ihr Ausflug – er ahnte, die waren nicht freiwillig unterwegs – musste ja ein schlechtes Ende finden. Direkt ins Unglück führen.

Jurei und die übrigen Grenzer konnten nur zusehen, nichts tun, die Menschen nicht einmal vor der Lawine warnen. Dazu waren sie zu weit entfernt.

Sie eilten zur Unglücksstelle und er musste seine Männer bremsen, zur Vorsicht mahnen, damit sie nicht selbst noch eine zweite Lawine oder einen Felssturz auslösten. Da sie nur zwei Spaten hatten, gruben sie die Verschütteten mit bloßen Händen aus. So wie hungrige Hunde einen stinkenden alten Knochen ausbuddelten.

Zwei Verunglückte konnten sie nur noch tot bergen: Ein Mädchen von etwa sieben, acht Jahren und einen älteren Mann. Lonnie, der große Lonnie, führte die beiden anderen Kinder, womöglich Geschwister, aber die Frage war erstmal unerheblich, zur Seite und konnte seine Tränen nicht zurückhalten.

„Und was machen wir jetzt mit den Leutchen?“, wollte Stanni wissen.

„Über Scheat nach Kirjat, und zwar so schnell wie irgend möglich. Die Kinder und vor allem die Frau mit dem Säugling müssen gut untergebracht und anständig versorgt werden.“

„Die spricht nicht, meint Rikkart.“

Irritiert sah Jurei ihn an. „Kein Manduranisch, oder ...“

„Gar nicht, sagt er, gibt nur so seltsame, jammernde Laute von sich.“

„Vielleicht der Schreck?“

Er trat zu Rikkart und der Frau, die abgesehen von einigen Schürfwunden und vermutlich etlichen Blutergüssen äußerlich unverletzt schien, aber immer wieder stöhnte, den Kopf schüttelte, leise wimmerte. Ihn nicht ansah, nicht reagiere, als er sie auf Ostländisch ansprach. „Ich bin Jurei und wir werden euch gleich von hier wegbringen, in Sicherheit. Bist du verletzt, hast du Schmerzen? Oder dein Kind?“

Die Frau, sicher nicht viel älter als er, reagierte noch immer nicht, änderte auch nicht ihr merkwürdiges Verhalten. Aber er bemerkte sofort die übergroße Angst, die schiere Panik in ihrem Blick, als er bloß die Hand hob, ließ diese schleunigst wieder sinken. „Ist schon gut, ich ... wir tun dir nichts. Ich möchte dir nur aufhelfen, nur das, nur helfen. Verstehst du?“

Wenigstens sah sie ihn an, ganz kurz, doch ihre Antwort, ein kehliges, wie verschlucktes Lallen, verstand er nicht. Unvermittelt griff sie nach seinem Handgelenk, deutete dann eindringlich auf sich, ihre Kehle, und schüttelte den Kopf.

Jurei runzelte die Stirn, meinte sie ... „Du kannst nicht sprechen, weil du ...“

Sie nickte heftig, zeigte auf ihren offenen Mund, und er ahnte, wollte gar nicht mehr wissen. Flüsterte rau. „Du hast keine Zunge mehr?“

Wieder nickte sie, und er wusste nicht, wie er reagieren sollte, stoppte die Gedanken, seine jäh aufwallende Wut, weil ... Fragte nicht nach und hielt ihr nur seine leeren, offenen, von Schnee und Kälte geröteten Hände entgegen, seine Stimme belegt. „Ich könnte dein Kind für dich tragen, nur eine Weile, damit du aufstehen und dich in eine Decke, wir haben ein paar, wickeln kannst. Ja?“

Die junge Frau umklammerte ihr Kind nicht mehr ganz so arg, sondern löste, lockerte zögernd ihren Griff und streckte es ihm entgegen. Fürsorglich nahm er das Kleine auf den Arm, wusste aber ihren misstrauischen Blick auf sich. Jurei versuchte nochmals, auch ihr aufzuhelfen, hielt ihr die Rechte hin. Vergeblich, die Frau rappelte sich allein auf, verzog klagend das Gesicht. Sie war winzig, mehr als einen Kopf kleiner als er, überaus zierlich, ja geradezu mager, ihre ärmliche Kleidung zerrissen und fleckig.

Er lächelte ihr zu, hielt ihr einmal mehr die Hand hin. „Geht es? Wir...“, er unterbrach sich. „Ich vergaß. Rikkart, noch eine Decke?“

Der angesprochene beeilte sich, die junge Frau nicht nur in eine Decke, sondern darüber hinaus auch sorgsam in seinen Mantel zu wickeln, der ihr viel zu groß war. „So, dann ist es nicht mehr ganz so eisig, ja? Du musst sagen, wenn ich noch etwas tun kann, dir ... Äh, verstehst du überhaupt Manduranisch?“

Doch Rikkart erhielt keine Antwort, die Frau mied seinen Blick. Sie schien vor ihm, einem jeden Angst zu haben. Stand vielleicht tatsächlich unter Schock, doch das konnten sie jetzt nicht klären. Später, wenn sie die Leute, eine wahrlich bunt zusammengewürfelte Truppe: Männer, Frauen, Alte, Junge, in Sicherheit gebracht hatten. In dem Fall hieße das hinunter nach Kirjat, was für ihn ... Ein Umweg, aber auch eine letzte Möglichkeit, noch einmal mit Remassey zu reden, sich von diesem zu verabschieden.

Mein Bruder

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