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Östlich von Nomlîn, Mandura, im Frühling R. D. 19

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Der kleine, etwas staubige Strauß Strohblumen wirkte völlig fehl am Platz, dieses leuchtende Gelb, der intensive Orangeton, ihr kamen fast die Tränen. Enisa atmete keuchend, auch wenn ’s wehtat. Atmen war wichtig. Nicht der Schmerz, der würde vergehen, wie das Erschrecken, ihr Entsetzen über sich selbst: Sie hatte einfach immer weiter zugeschlagen, bis der blöde Kerl sich nicht mehr wehrte, sich gar nicht mehr rührte.

Er war nicht tot, und das erleichterte sie. Sie hatte ja nicht ... er sollte sie bloß in Ruhe lassen, sie nicht weiter anfassen.

Sie war so dumm, rutschte näher an das absurd pompöse Bett heran. Der Mann hatte sich dumpf stöhnend auf die Seite gewälzt. Sein Gesicht sah schlimm aus, ganz blutig und geschwollen. Sie mied seinen Blick, vermied den Blick auf ihre rohen, zerschundenen Knöchel, die...

„Warum schnappst du dir nicht das Geld und verschwindest? Darauf hattest du’s doch abgesehen.“

Enisa wusste nichts zu sagen, schüttelte nur den Kopf. Es wäre falsch, damit würde sie ja eingestehen, dass ... Was geschehen war, sich eben beinah zugetragen hätte.

Sie presste die Lippen zusammen, sollte einfach gehen. Konnte nicht gehen, sie musste doch etwas tun! „Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht verletzen.“

„Jetzt nimm endlich das Geld und hau ab!“

„Kann ich was ... etwas für Euch tun?“

„Du?“ Er stöhnte erneut, es klang nicht gut, stieß sie ab „Die Flasche, ein Schluck Wein.“

Sie stand neben dem wackligen Tisch. Sah nicht auf die Blumen oder zum Geld, zog hastig die Hand weg, als der Mann, sie wusste sein Alter nicht zu schätzen, ihre Finger streifte.

„Gibt schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen, Schätzchen.“ Er schien sich um ein Lächeln zu bemühen, es sah grausig aus, und sie biss sich auf die Lippen. Hätte gern nochmals zugeschlagen, auf das er endlich still wäre, damit er aufhörte zu reden, derart mit ihr zu sprechen ... sie war keine ... würde nicht losheulen und ballte die Fäuste.

„Und? Was hast du jetzt vor?“

Enisa zuckte die Achseln, schüttelte einmal mehr den Kopf. Zu ihrem Bruder, aber der ... und dazu brauchte sie Geld, wesentlich mehr Geld. Die paar läppischen Münzen auf dem Tisch reichten doch längst nicht.

„Kein Bedarf zu reden?“

„Mit Euch?“ Er hatte sich aufgesetzt und sie sah nicht hin, fühlte sich irritiert. Weil er ihr noch immer gefiel.

Aber sein blutiges Grinsen war grausig, nicht charmant. „Du wolltest noch ganz was anderes mit mir machen.“

„Gar nicht“, fauchte sie, hockte sich aber trotzdem neben ihn auf die Bettkante. Sie wollte nicht vor ihm auf dem Boden knien und zu ihm auf sehen.

„Auch einen Schluck?“ Er hielt ihr die Flasche hin, doch sie schüttelte den Kopf. „Ist nicht so übel. Du wolltest mir von deinen Plänen erzählen.“

„Wollte ich nicht!“ Was ging es diesen Kerl an, warum und wofür sie Geld brauchte.

„Deine Familie ist nicht einverstanden? Du hast doch eine Familie, Eltern?“

An die wollte sie jetzt bestimmt nicht denken.

„Natürlich.“ Eilig wandte sie den Kopf, sah ihm nicht ins Gesicht. Bis gerade eben ein ansprechendes, attraktives Gesicht, sie hatte keinen hässlichen Mann angesprochen. Zu verführen versucht, bis dann ... bis sie in Panik geraten war, weil er ihr, körperlich, viel zu nahe gekommen war. Der Mann war um einiges älter als sie, wenn auch nicht so alt wie ihr Vater. Vielleicht dreißig, Anfang dreißig?

„Ist womöglich noch nicht zu spät, wenn ich dich zurückbringe.“

„Bitte? Auf gar keinen Fall!“

„Weil ich sie vielleicht kenne?“

Dem Namen nach. Eventuell. Stumm verneinte sie, kämpfte mit den Tränen, weil sie sich jetzt schon zurück sehnte, so gern zurück wollte. Nicht zurück konnte!

„Was hast du angestellt, das Familienvermögen durchgebracht?“

„Nein ...“, ungewollt musste sie lachen. „Natürlich nicht.“

„Dann verrat mir wenigstens, wohin du willst, hm?“

Enisa entzog ihm nicht ihre Hand. Sie hatte auch nichts dagegen, dass er sie tröstend in den Arm nahm. Er roch ausgesprochen gut, nach Holz, nach Leder, ein wenig nach Schweiß. „Ich weiß nicht. Zu meinem Bruder.“

„Verstehe. Doch der lebt nicht hier?“

Wieder musste sie grinsen. „Nein. Nicht hier.“

„Also, Samala Elis?“

Sie antwortete nicht, wandte den Blick, das Gesicht ab. Was ging ihn das an?

„Ich könnte“

„Nein!“ Hastig sprang sie auf, wollte ... wusste nicht, was, und sah ihn nur zweifelnd an, wollte den Gedanken, die Idee gar nicht erst zulassen. Zu verlockend.

„Dann ...“, Er stemmte sich hoch, „... lass uns aufbrechen.“

Es ging ihr zu schnell, sie hatte das, ihre nächsten Schritte, noch gar nicht durchdacht, überdacht. Doch Enisa widersprach nicht, wehrte sich nicht länger, sondern suchte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Mied seinen Blick, be­obachtete ihn allerdings scheu, wann immer er nicht zu ihr sah.

Aber das war der Anfang. Von was, wusste sie selbst nicht zu sagen, doch es fühlte sich nicht so schlecht, nicht falsch an. Sie grübelte nicht darüber nach. Es dämmerte, als sie den Gasthof, gleich darauf den elenden, engen kleinen Ort verließen. Insgeheim freute sie sich über seine Gesellschaft, insbesondere, aber nicht nur, in den Nächten. Denn die waren kalt. Auf den Bergenhöhen lag noch Schnee, die Wärme der hellen Jahreszeit schien sehr fern. Und mehr, als dicht an ihn gedrängt zu schlafen, in irgendeinem Schuppen, Gehölz, Gebüsch oder Unterschlupf, war da nicht, sie sprachen ja kaum miteinander. Es gab keinerlei Zärtlichkeiten, kein Rumgemache, und sie träumte auch nicht davon. Er war so viel ... deutlich älter.

Das Geld hatten sie unter sich aufgeteilt.

Mein Bruder

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