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Samala Elis, Mandura, im Frühsommer R. D. 15

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Irritiert lief Jurei neben dem Mädchen durch die belebten Straßen. Er wollte doch kein Mitleid, hatte lediglich erwähnt, er bedaure, seinen Vater nicht besser gekannt, nie richtig kenngelernt zu haben. Beiläufig, in irgend ‘nem Gespräch, er kannte ihn halt gar nicht. Wie auch? Sein Vater war gestorben, da war er noch kein Jahr alt. Damals, im Krieg. Deswegen hielt sie ihn für schwermütig, für zu ernst? Und Edgar, selbst ein elender Schlaks, bezeichnete ihn neulich als halbe Portion. Bloß, weil der fast einen Kopf länger war.

Mädchen! Oder, wenn sie darauf bestand: Weiber. Rebekka, ››auf gar keinen Fall Becky‹‹, machte mitunter merkwürdige Unterscheidungen. Würde sowieso nichts draus werden, nicht nur wegen ihres Alters, sie war nämlich älter; vermutlich besser so. Er würde nicht mehr lange bleiben, wollte weiter, nach Kirjat, das zumindest. Vielleicht sogar noch weiter, Richtung Osten. Die Idee, den Gedanken hatte er schon länger im Kopf, und nicht allein wegen all der alten Geschichten. Er trieb ihn um, verstärkte seine Unruhe, seine Unrast und Ungeduld; das alles hier, dieses ruhige, ach so bequeme Leben. Manchmal hatte er das Gefühl, gleich zu platzen, wollte laut schreien, losrennen, irgendwas zerschlagen, wollte...

Weit weg! Die Grenztruppen in Kirjat wären eine Möglichkeit, klar, eine vielversprechende Chance und lange seine größte Hoffnung. Berit Remassey, Kommandant der Truppen, ein langjähriger und enger Freund seiner Mutter, hatte ihm sogar angeboten, das letzte halbe Jahr, bis er alt genug wäre, bei ihm und seiner Familie zu leben. Ein großzügiger, großherziger Vorschlag. Er kannte Remasseys Haus, das weitläufige, prächtige große Anwesen, richtig grandios.

Jurei sprang hoch, boxte in die Luft. Nichts würde sich ändern, gar nichts. Er schleppte seine Wut doch mit, seine Probleme, er würde seine Fehler, in neuem Gewand, nur wiederholen. Aufs Neue Ärger machen, damit jedoch den ganz falschen treffen. Und er mochte den Mann, konnte Remassey wirklich gut leiden, was an sich schon ungewöhnlich war. Irgendwer, seine Mutter, vielleicht auch ihr Partner Ivorek, hatte ihm mal gesagt, er stelle zu hohe Ansprüche an andere und fühle sich daher immer enttäuscht. Von seinen Mitmenschen, den paar Freunden; er bezeichnete die ohnehin als Kumpel, weniger nah, nicht so bedeutsam.

Aber er genügte seinen eigenen Erwartungen doch auch nicht, viel zu selten, war von sich selbst enttäuscht. Unzufrieden, unglücklich und rastlos, immer auf der Suche. Wonach, wusste er selber nicht, dem nächsten Ärger, dem nächsten Mädchen, der nächsten Aufregung. Einem Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte. Nur wurde nicht mehr gekämpft, der Krieg lange vorbei, es herrschte Frieden. Jedenfalls hier in Mandura.

Eigentlich war die Lösung seiner Probleme ganz einfach. Er musste sich halt trauen, alle vor den Kopf stoßen, seine Familie, seine Schwester. Enisa würde es nicht verstehen, schlimmer, sie würde ihn begleiten wollen. Und der Fehler durfte ihm nicht unterlaufen.

Von Kirjat aus wäre es ohnehin leichter. Falls er es noch so lange aushielt. Er wandte sich zu Rebekka um und zog sie in seine Arme, küsste sie stürmisch. „Lass uns gehen.“

„Und wohin, mein Liebster?“

„Mach dir keine Hoffnungen. Ich kenn‘ aber ‘nen Laden, ein Lokal direkt am Markt, da gibt’s leckeres Essen.“

„Etwa bei dem komischen Kerl, der sich als Frau verkleidet?“

„Pola, genau.“

„Ich find‘ den gruselig, der ist riesig groß, mit solchen Händen, gewaltig wie ein Bär. Und trägt einen Seidenschal um den Hals, mit Blütenrankenmuster.“

„Gefällt ihm halt. Du kennst ihn ja doch genauer.“

Sie zuckte die Achseln. „Er verkauft sehr schmackhafte Kuchen und Süßspeisen.“

„Ja, allerdings.“ Er mochte den Mann, den ihm eigenen Witz und Charme, und nicht allein, weil er nie bezahlen musste. Tat er aber meist dennoch, er wollte niemandem was schuldig sein. „Er kennt meine Mutter.“

„Die kennt jeder.“

„Jepp. Meint, er verehre sie, sie sei ein ganz besonderer Mensch.“

„Deine Mutter ist ein ganz besonderer Mensch“, kicherte Rebekka. „Eine Magierin.“

„Ich mag ihn, irgendwie, er hat noch Träume.“

„Träumt von deinem süßen Arsch.“

„Quatsch, doch nicht“

„Doch!“ Rebekka lachte nur noch lauter. „Genau das, mein Prinz. Der Kerl steht auf dich.“

„Das ist ... Du bist eklig. Er ist alt.“

„Auch alte Männer stehen auf junge, knackige Ärsche, glaubst du nicht?“

„Aber doch nicht so.“

Rebekka ging nicht darauf ein, mit einem hochnäsigen Zurückwerfen des Kopfes weiter. Jurei fühlte sich angegriffen von ihrer Bemerkung, ein bisschen verstört. Er hatte eigentlich keine Lust mehr, Polas Lokal, das ›Rosengärtchen‹, zu besuchen. Doch hieße das nicht, ihr Recht zu geben? Und als feige wollte er nicht dastehen.

Pola trug einen zart fliederfarbenen Schal zu einem langen, weiten Rock und begrüßte ihre, seine Gäste, insbesondere Jurei überschwänglich, sogar mit Wangenkuss. Er platzierte sie an einem ein klein wenig abseits stehenden Tischchen. Blühende Rosen rankten sich um das Spalier, über ihren Köpfen, dufteten herrlich in der lauen Luft. „Was darf ich euch zwei Süßen heute bringen?“

„Nur eine kleine Erfrischung. Hast du ...“, Jurei zögerte, übersah Rebekkas enttäuschte Miene; er bezahlte, also bestellte er auch. Und er war nicht der spendable Gönner, der sich mit Einladungen und Geschenken die Zuneigung der Mädchen erkaufte. „... frischen Minztee?“

„Für dich doch immer, Lieber“, flötete Pola. „Gekühlt, oder ...“

„Gern. Und für meine reizende Begleitung“, er warf eben jener einen spöttischen Blick zu, überhörte ihr Schnauben. „Ein Stück Obstkuchen.“

„Du bist so großzügig, mein Liebster“, höhnte sie halblaut.

„Nicht wahr?“

Er beobachtete, wie Pola sich umwandte, durch die niedrige Tür im Lokal verschwand, das Gewünschte zu holen.

Der Tag war mild und sie nicht die einzigen Gäste. Etwa die Hälfte der Plätze auf der Terrasse waren besetzt, Pärchen meist. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte man zwei, drei Tische zusammengerückt, an denen eine Gruppe lebhaft und lautstark diskutierender Männer weilte. Jurei zog die Augenbrauen hoch, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

„Was?“

„Nichts. Ich genieße den warmen Sonnenschein, den herrlichen Tag.“

„Dein Blick. Kennst du die?“

„Nope, glaub nich‘.“

„Sollen wir lieber reingehen?“

„Warum das denn?“

„Weil du ... Wär‘ ja nicht das erste Mal, du mischst dich ein, du mischst dich ständig ein, diskutierst mit, und dann sagt einer was Falsches und du fängst an zu streiten, wirst laut und motzig und ausfallend, und dann prügelt ihr euch.“

„Ehrlich, mach ich ... So siehst du mich?“

„Stimmt doch!“, beharrte Rebekka. „Neulich erst, dein großer, langer Freund, dieser Edgar, konnte dich kaum zurückhalten, sonst hättest du ’nen Soldaten zusammengeschlagen, weil der mich vermeintlich beleidigt hat.“

„Hat er ja auch.“

„Das sollte ein Kompliment sein, wenn auch kein besonders gelungenes. Und er war betrunken.“

„Das entschuldigt sein Verhalten aber nicht. Was wirfst du mir eigentlich vor?“

„Du...“ Sie biss sich auf die Lippen, wich seinem Blick aus. „Du bist furchtbar aggressiv, Jurei, du suchst ständig Streit. Und ich persönlich finde eine blutige Nase, ausgeschlagene Zähne und eine aufgeplatzte Lippe nicht so anziehend.“

„Ich auch nicht“, er schüttelte den Kopf. „Tut zudem weh. Aber ich stehe zu meiner Meinung, ich halt‘ doch nicht die Klappe, nur, damit die Stimmung nett und gemütlich bleibt, alle gut Freund miteinander sind.“

„Jurei.“ Rebekka legte die Hand auf seine. „Nicht. Fang nicht“

„Macht der Kleine dir Ärger, Mädchen?“ Eine kratzige Stimme mischte sich in ihr Gespräch ein. Der Kerl, womöglich von der Gruppe gegenüber, musterte ihn unfreundlich.

Jurei hörte das Gelächter der anderen Männer.

„Nein, macht er“ Erschrocken sah Rebekka zu dem Fremden hoch, dessen Schatten über den Tisch fiel. „Wir reden nur, diskutieren.“

„Dann hast du bestimmt nichts dagegen, Schätzchen?“ Dreist nahm der Mann neben ihr Platz, rückte seinen Stuhl sogar noch näher heran. „Ich bin auch viel netter zu dir als dein kleiner, missmutiger Freund.“

„Würdet Ihr bitte...“

„Lass sie in Ruhe!“ Jurei stand auf und schob dabei seinen Stuhl zurück. „Sie wünscht deine Aufmerksamkeit, deine Gegenwart und aufdringliche Nähe nicht, klar?“

„Oder?“ Der Kerl, deutlich schwerer, ein ganzes Stück größer als er, richtete sich langsam und drohend auf. „Du hast wohl lange keine Dresche bezogen, was?“

„Letzte Woche jedenfalls nich‘.“ Er sah aus den Augenwinkeln hinüber zu den anderen Männern, keiner war näher gerückt. Einer war allerdings aufgestanden, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute mit breitem Grienen zu. Rebekka verließ eilig den Tisch und rannte ins Lokal. „Du?“

„Etwa von dir halber Portion?“, verhöhnte ihn der Kerl.

Jurei zuckte nur nachlässig die Schultern, die Hände locker herabhängend und nicht zur Faust geballt. „Wenn’s sonst keiner macht?“

„Ha!“ Mit einem heftigen Ruck riss der Kerl einen der zierlichen kleinen Stühle zurück, schleuderte ihn zur Seite. „Dich verspeis‘ ich doch zum Frühstück, du mickriger Zwerg!“

„Dann verschluck dich bloß nicht.“

„Schluss damit!“, ertönte Polas durchdringende, strenge Stimme. „Ich sag’s dir jetzt zum letzten Mal, Roberto, belästige meine Gäste nicht!“

Und erst jetzt bemerkte Jurei das Geraune, die besorgten Blicke der übrigen Anwesenden, ihre Unruhe. Den Knüppel in Polas Händen. Er verbiss sich das Lachen.

Mein Bruder

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