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Westliches Mandura, im Frühling R. D. 19
ОглавлениеSchon am zweiten oder dritten Tag hatte sich ihr Begleiter einen Stock, einen kräftigen Knüppel gesucht, vorgeblich als Wanderhilfe. Unterdrückt lachend und mit wachsender Begeisterung hatte Enisa zugeschaut, wie er mit dem Ding herum hantierte, übte; er machte das nicht zum ersten Mal. Stockkampf, sie sagte nichts, fragte nicht nach.
Der Mann verstand sich sogar darauf, aus ihren kargen Vorräten und dem wenigen, was sie unterwegs fanden, etwas einigermaßen Essbares, mitunter tatsächlich Schmackhaftes zu bereiten. Es gab ja noch keine Früchte, die Kirschen unreif, bloß zarte, grüne Triebe an den Feldrainen, Sauerampfer, erste wilde Karotten und die paar Nüsse und Beeren, die den Winter überdauert hatten.
Aber es regnete, zu reichlich, zu häufig, sie waren ständig durchnässt und froren und Enisa wünschte sich ein einziges Mal eine richtig trockene, geschützte Unterkunft, ein warmes Bett. Notfalls würde sie es mit ihm teilen, biss sich auf die Lippen. Blöde Idee, es gab eh kein solches kuschliges Nachtlager, was dachte sie überhaupt daran, nur darüber nach? Ihn. Sein Gesicht war nicht mehr geschwollen, schillerte aber in allen Farben. Sie ertappte sich dabei, es gern berühren zu wollen, seine Lippen, seinen Mund. Kämpfte noch immer mit ihrem schlechten Gewissen.
„Was ist denn? Du schaust so.“ Er sah sie über ihr mickriges kleines Lagerfeuer hinweg forschend an.
„Nichts, es ist nichts.“ Sie quälte sich aus den nassen Stiefeln und rieb ihre Füße, dankbar über das bisschen Wärme. „Es tut mir leid.“
„Das sagtest du bereits. Mehrfach.“
„Ja.“ Unzufrieden schüttelte sie den Kopf, hätte zu gern ... „Warum tut Ihr das?“
„Was? Dir helfen, dich begleiten?“
Enisa sparte sich die Antwort, wich aber seinem Blick nicht aus.
„Kann dich ja schlecht allein reisen ... Die Richtung, in die du unterwegs bist, kommt mir nicht ganz ungelegen. Und in Gesellschaft ist es halt angenehmer.“
Das klang nicht ehrlich, ausweichend. „Meine Gesellschaft?“
Er grinste, zuckte die Achseln. „Warum nicht? Du bist ja nicht hässlich, jammerst nicht rum, nervst nicht.“
„Danke“, schnaubte sie. „Was führt Euch denn nach Samala Elis, Geschäfte?“
„Geschäfte ... im weitesten Sinne.“
„Geht mich nichts an?“
„So gar nichts. Willst du da auf deiner Seite des Feuers bleiben?“
„Das ...“, sie zögerte. „Klingt wie eine Einladung.“
„Bloß eine Frage. Ich hab‘ aber noch nichts zu essen für dich.“ Er wies zum Kessel auf dem Dreibein. „Braucht noch ‘ne Weile.“
„Ich hab‘ ja auch nichts für Euch.“ Hastig rutschte sie an seine Seite, unterdrückte ihr Lächeln.
„Keine alten, zerdrückten Beeren mehr in den Taschen?“
„Nee, hab‘ ich alle ...“ Sie suchte trotzdem und fand tatsächlich drei, vier nicht zu zermanschte Früchte, hielt sie ihm hin. „Hier, wenn Ihr mögt?“
„Danke dir.“ Bedachtsam nahm er zwei der Beeren, steckte sie in den Mund. „Eigentlich der Nachttisch.“
„Ich kann ja nochmal ...“
Doch er hielt sie am Arm fest, als sie aufspringen wollte. „Ist schon zu dunkel. Morgen.“
„Aber ... Wieso?“
Er zog sie wieder neben sich zu Boden. „Ich möchte nicht, dass du im dunklen Wald über Räuberbanden oder wilde Tiere stolperst.“
„Die warten ja auch nur auf mich“, spottete Enisa, obwohl seine Stimme sie erzittern ließ. Und der Mann hielt noch immer ihr Handgelenk umfasst.
„Genau.“ Er gab ihre Hand frei. „Lauern dir auf.“
„Um dann was mit mir zu ...“ Doch sie sprach nicht zu Ende, spürte ihr Herz flattern, seine Nähe, die Wärme seines Körpers. Sie roch ihn, und ihr behagte dieser Geruch, sein Körpergeruch. Das Wissen um seine Gegenwart. Wenn sie wollte, wenn sie sich traute, könnte sie jetzt die Hand an sein Gesicht legen, oder ihm die Arme um den Hals schlingen. Ihn sogar küssen.