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Bei Scheat, Mandura, im Frühjahr R. D. 16

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Jurei blickte versonnen auf den etwas heruntergekommenen Hof fast am Grunde des Tals, wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Es hatte natürlich wieder angefangen zu regnen, kaum dass er Kirjat verlassen hatte. Zumindest war es nicht mehr kalt, der Frühling brach mit Macht herein, überall grünte, wuchs und blühte es. Wie ein Kribbeln auf der Haut, der intensive, drängende Wunsch, den alten, muffigen Pelz abzustreifen. Ein Gedanke, über den Enson, sein Großvater, zu dem er auf dem Weg war, nur den Kopf schütteln würde, dabei etwas über ... von der Ungeduld der Jugend grummelnd.

„Du bringst Regen mit, Junge“, wurde er grimmig begrüßt.

Jurei grinste, er mochte den Alten, Vater seines Vaters. „Auch nicht richtig?“

„Doch, wurde mal Zeit. Kommst du mit rein, auf eine kleine Stärkung?“

„Immer gern.“ Ensons selbstgebrautes Bier war sehr gut. „Aber wollten wir nicht zwei, drei, vier Reihen neuer Stöcke setzen?“

„Das kann warten, ist jetzt ohnehin zu nass.“ Enson nickte zu dem Schwert an Jureis Seite hin. „Hat sie ‘s dir jetzt doch übergeben ... überlassen? Deine Mutter?“

„Aye.“ Mehr gab es, seiner Meinung nach, nicht zu sagen.

„Sie hat es damals auf dem Rücken getragen.“

„Hm, täte ich das, würde Hauptmann Kev mir was Husten.“

Enson stimmte in sein Lachen ein. „Mit Recht. Bei ihr ... war das was anderes. Ganz was anderes.“

„Jepp. Schwert und Beischwert und mit einem bloßen Gedanken die Welt in Brand setzen. Meine Mutter.“ Und anders als sie, Mara, führte er nur ein Schwert, auch nicht beidhändig. Mit links war er deutlich schwächer, ungeübter. Noch, das immerhin ein kleines Ziel.

„Is‘ ... war nicht immer so einfach, was?“

„Eigentlich sollte ich froh sein, dass sie mit Ivorek einen guten, einen wirklich guten Partner und Mann gefunden hat.“

„Da hängt ein lautes, anklagendes Aber im Raum, Junge.“

„Ja? Nein, ich ... Die beiden sind glücklich miteinander.“ Meistens, sie stritten auch schon mal laut und heftig, mit Türen schlagen und zerbrochenem Geschirr. „Ich gönn‘ es ihr, ihnen, wirklich. Es ist nur schade, traurig, ich hätt‘ noch ...“ Hunderte, tausende, ungezählte Fragen. „Ich hätte halt gern meinen Vater gehabt, verstehst du? Kennengelernt. In echt, als lebenden Menschen, nicht nur als ... als Legende. Als einen Namen, von damals, im Krieg.“

„Ja.“ Enson fuhr ihm etwas grob über den Kopf. „Ich könnt‘ mir vorstellen, bei den Grenztruppen wirst du allenthalben von ihm, seinen Taten hören.“

„Dass er zur Garde wollte, in meinem Alter längst ...“

„Nein“, unterbrach Enson ihn schmunzelnd. Stellte einen Krug Bier auf den Tisch, zwei Becher. „Da war er schon ein paar Jahre älter, bereits Hauptmann. Dein Hauptmann Kev hätte ihn gern länger bei den Grenzern behalten, doch Davian hatte andere Pläne. Deinen Vater zog es in die Hauptstadt. Und Domallen wollte ihn wohl gern dort haben, in der Garde.“

„Der König?“

„War er damals noch nicht“, Enson schenkte ein, schob Jurei einen Becher zu. „Noch lange nicht. Auf ihn, lang soll er regieren.“

Sie stießen miteinander an, fast schon zu ernst, zu bedeutungsschwer.

„Dann werd‘ ich dich diesen Sommer wohl häufiger sehen?“ Es klang Wehmut, aber auch Hoffnung in Ensons Frage mit.

Jurei nickte. „Wäre schön, wenn ich das ab und zu einrichten ... wir öfter mal reden könnten.“

„Und was machen die Mädchen?“

Er war irritiert. „Du meinst ...“

„Jedenfalls nicht Goldlöckchen.“ Enson musterte ihn scharf. „Ich meine ja, es wäre gut ... nein, wirklich besser, wenn ihr zwei mal eine Weile getrennt seid.“

Jurei wich seinem Blick aus, nickte knapp, unvermittelt den Tränen nahe. Spürte Ensons Hand schwer auf seiner Schulter. „Der Mann hat Recht, mein Junge, jedes Recht.“

„Wir machen doch nichts ... Ich liebe sie, Enson, ich würde ihr doch nie was Schlechtes ...“

„Natürlich nicht, aber sie ist deine Schwester, Jurei. Und das ist nun einmal falsch.“

Und auch dazu gab es nichts mehr zu sagen, nur Ausflüchte, Ausreden. Allzu weitschweifige, letztlich lahme Entschuldigungen, er wusste es ja. Senkte den Kopf, biss die Zähne zusammen.

„Manchmal helfen Zeit und andere Menschen, neue Erfahrungen, Erlebnisse, um den richtigen Weg zu finden, mein Junge. Nimm es nicht so schwer, kleine Kröte, du bist schon richtig.“

„Aye“, murmelte er, zog die Nase hoch. Kleine Kröte nannte ihn sein Großvater äußerst selten.

„Was soll ich denn sagen, Junge? Mein ältester Sohn viel zu früh umgekommen, mein zweiter ... Was weiß ich, wo Denison abgeblieben ist, irgendwo im Osten verschollen. Vielleicht, ich weiß es nicht, weiß nich‘ einmal, ob er noch lebt, was er da treibt. Von meinen fünf Kindern habe ich bereits zwei überlebt, es ist eine verdammte Schande“, grollend, sichtlich aufgewühlt leerte der alte Mann seinen Becher. „Und es hört nie auf weh zu tun, der Schmerz wird nur ... Kann deine Mutter manch‘ Lied von singen.“

„Ich könnte dir ja“, begann er. „Also, wenn du möchtest.“

„Mir ein Lied singen, von Verlust, Leid und Schmerz? Oder doch lieber etwas Tröstliches?“

„Ganz wie du willst, gerne auch zwei, drei Lieder.“

„Womöglich gar das Lied der Garde?“, überlegte sein Großvater.

„Womöglich“, stimmte Jurei zu und räusperte sich.

Mein Bruder

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