Читать книгу Wir wollen unsere Zukunft zurück! - Nina Horaczek - Страница 11

Wie dachten die politischen Eliten zu dieser Zeit?

Оглавление

Woher kam dieser Glaube, dass mit dem Sieg über den Sozialismus das Ende der Geschichte geschrieben worden sei? Dass es ausreiche, auf die Kraft des Marktes zu vertrauen, um der Demokratie weltweit zum Durchbruch zu verhelfen? Dieses Denken ist Konsequenz eines längerfristigen Prozesses. Er umfasst einen fundamentalen Wechsel in der ökonomischen Theorie, in den Konzepten der Wirtschaftspolitik sowie in den Vorstellungen, was die Aufgabe von Politik ist. Dieser Umschwung begann schon viel früher, und zwar als Abkehr von den damals herrschenden Auffassungen des Keynesianismus – jener wirtschaftspolitischer Gedanken, die auf den britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) zurückgehen.

Zu dieser Gegenüberstellung einen Hinweis. Wenn in diesem Buch Keynes und der Keynesianismus (der in mehrere Richtungen zerfällt) verwendet werden, dann im Sinne einer Erörterung einer aktiven Auffassung von Politik in Abkehr und in Widerspruch zum passiven Politikverständnis von Fukuyama. Diese Form von aktiver Politik gilt es wiederzuentdecken und zu fördern, um Lösungen für die großen strukturellen Probleme der Gegenwart finden zu können. Es ist nötig, diese Form von den Inhalten zu unterscheiden. Denn die Wirtschaftspolitik, die im Namen von Keynes nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurde, hatte auch ihre problematischen Züge. Sie wollte Vollbeschäftigung herstellen und koppelte die Beschäftigung strikt an das Wirtschaftswachstum. Damit war direkt das Problem einer wachsenden Zerstörung der Umwelt verbunden, für die der Keynesianismus damals keine Lösungsvorschläge entwickelte.

Aber zurück zur Geschichte: Bereits in den 1970er-Jahren verließen Eliten in den Wissenschaften, in der Wirtschaft und in der Politik das keynesianische Denksystem und wandten sich einer damals neuen Richtung zu, die meist als Neoliberalismus bezeichnet wird. Ende der 1980er-Jahre waren schließlich neoliberale Überzeugungen in den reichen westlichen Ländern fest etabliert. Diese hatten auch zur Folge, dass die westliche Politik auf den Umbruch im »Osten« mit kühler Distanz, aber ohne gestaltende Kraft reagierte. So wurden zum Beispiel kaum finanziellen Hilfen für einen allmählichen Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem oder gar zu einem »Dritten Weg« jenseits von Kapitalismus und Sozialismus bereitgestellt – eine solche Alternative wollte Michael Gorbatschow, der letzte Staatspräsident der Sowjetunion, für sein Land erreichen. Ähnliche Ziele hatten viele Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die im Staatssozialismus für Demokratie kämpften und »die Wende« mit ihrem Protest möglich machten, auch in der DDR. Über kurz oder lang befand sich aber nach 1989 jedes früher staatssozialistische Land im Lager des Neoliberalismus.

Dieses Buch handelt von der Krise der Politik, die durch den Neoliberalismus ausgelöst wurde. Denn der Neoliberalismus hat alle großen politischen Denksysteme ausgehöhlt und ihnen ihre politische Phantasie geraubt. Das gilt für konservative, liberale und sozialdemokratische Strömungen. Sie sind, jede auf ihre Weise, vielfältige Synthesen mit dem Neoliberalismus eingegangen und haben dabei, jede auf ihre Weise, ihre eigentlichen Werte verloren beziehungsweise bis zur Unkenntlichkeit verformt. Wenn Politikerinnen und Politiker heute über Freiheit, Zusammengehörigkeit oder Solidarität reden, sind das meist Worthülsen, die wenig bedeuten. Der Siegeszug des Neoliberalismus brachte viele Probleme mit sich. Er führte auch zu einer Krise der Parteiendemokratie: Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung fühlt sich von den einst so großen Parteien nicht mehr vertreten. Inzwischen steht die Demokratie selbst auf dem Prüfstand.

Die Untätigkeit der Politik in Fragen des Schutzes der Umwelt beziehungsweise der Mitwelt ist direkte Folge dieser Krise. Die Politik hat auf zahlreiche gravierende Probleme kaum oder nur zögerlich reagiert. Die Liste ist elendslang: Neben der vom Menschen verursachten Erderwärmung sind wir mit einem riesigen Artensterben konfrontiert, das Konsequenzen auf die Nahrungsproduktion haben wird, wir erleben eine massive Überfischung der Meere (in den letzten 40 Jahren hat sich die Population der Meerestiere halbiert), die Übersäuerung der Böden, die Verschmutzung des Trinkwassers und der Meere mit Plastik (von der Oberfläche bis in die tiefsten Tiefen), das immer schnellere Auftauen von Permafrostböden, das die Erderwärmung beschleunigt, die Versauerung der Meere mit Auswirkungen auf den Kohlenstoffkreislauf im Meer, auf die Meeresströmungen, auf das tierische Plankton und den Krill (der antarktische Krill ist eine der größten Biomassen der Erde). Die Liste umfasst auch viele andere Fragen, wie eine zunehmende Ungleichheit in den Vermögen, die den sozialen Zusammenhalt bedroht, ein ungezügeltes Finanzsystem oder die überbordenden Eingriffe der großen IT-Konzerne in unseren Alltag, in dem es immer weniger Privatsphäre gibt, sowie insbesondere der Schwenk der Politik in Richtung Rechtspopulismus, der – wie man am Beispiel von Donald Trump erkennen konnte – direkt die Demokratie bedroht.

Jede dieser Krisen kann einzeln erzählt werden und wird auch einzeln erzählt. Doch im Kern ist es eine einzige Krise, die dasselbe politische und wirtschaftliche System mit denselben politischen und wirtschaftlichen Eliten betrifft. Um diese Krisen insgesamt verstehen zu können, braucht es eine Erklärung, die versucht, diese Momente zusammenzudenken, die versteht, wie es zur Krise der großen politischen Strömungen gekommen ist, wie sie sich heute manifestiert und mit welcher neuen Art von Politik sie überwunden werden kann.

Wir wollen unsere Zukunft zurück!

Подняться наверх