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Wie der Neoliberalismus in die Welt kam

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Wer verstehen möchte, wieso sich der Neoliberalismus im Jahr 1989 als Sieger über die Geschichte feiern lassen konnte, muss weit zurückgehen. Anfang der 1920er-Jahre schlossen sich Ökonomen und Philosophen (Frauen waren damals so gut wie keine dabei, die männliche Schreibweise ist deshalb hier bewusst gewählt) über Grenzen hinweg zusammen. Es war ein Netzwerk, das mehrere Schulen der Nationalökonomie umfasste: die Österreichische Schule, den deutschen Ordoliberalismus, die Chicagoer Schule (»Chicago Boys«) sowie liberale Philosophen, vor allem aus Frankreich und der Schweiz.

Das sind die wichtigsten Namen: Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek (Österreichische Schule), Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Walter Eucken (aus Freiburg) als Vertreter der ersten Ordoliberalen, Lionel Robbins von der London School of Economics, Henry C. Simons aus Chicago sowie die Philosophen Louis Rougier und William Rappard aus Paris. Rougier hatte auch 1927 das Genfer Hochschulinstitut für Internationale Studien mitbegründet, bei dem ab 1934 Ludwig von Mises und ab 1937 Wilhelm Röpke als Professoren beschäftigt waren (Abb. 1).7


Abbildung 1: Schulen im neoliberalen Netzwerk der Zwischenkriegszeit

Was aber wollten diese Männer? Sie diskutierten in ihrem neu geschaffenen Netzwerk die Krise des Liberalismus, die in gebildeten Kreisen spätestens nach Ende des Ersten Weltkriegs als Tatsache angesehen wurde. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschärfte diese Diagnose, die alte kapitalistische Ordnung (der Manchester-Kapitalismus) stand auf dem Prüfstand. Selbst liberale Theoretikerinnen und Theoretiker waren damals überzeugt, der Kapitalismus werde keine große Zukunft mehr haben, denn politische Bewegungen wie der Kommunismus, der Sozialismus und die Sozialdemokratie gewannen massiv an Einfluss. Hinzu kam, dass sich die geknechtete Arbeiterinnen- und Arbeiterschaft in Gewerkschaften organisierte und für die eigenen Rechte kämpfte.

Die Ökonomen und Philosophen in diesem Netzwerk wollten diese Entwicklung stoppen. Aber im Gegensatz zum liberalen Ökonomen Keynes wollten sie den Kapitalismus nicht bloß reformieren. Ihr Ziel lautete, den Kapitalismus radikal neu zu konzipieren. In der Theoriebildung waren vor allem Mises und dessen damaliger Mitarbeiter Hayek führend. Schon in den 1920er-Jahren forderten sie einen neuen Liberalismus, der den drohenden Niedergang des Kapitalismus aufhalten sollte. Für sie war ein Ende des Kapitalismus gleichbedeutend mit dem Untergang »der Zivilisation«.

Mises und Hayek dachten Geschichte in einer Art, die für den Neoliberalismus prägend geworden ist. Sie waren der Meinung, dass der längerfristige Gang der Geschichte durch Ideen erklärt werden müsse. Gemeint waren jene Ideen, die »große Denker« entworfen hatten und die dann auf verschlungenen Wegen die ganze Gesellschaft durchdrungen hätten.

Als erfolgreiche und aus ihrer Sicht besonders abschreckende Beispiele sahen sie Karl Marx, den großen Theoretiker des Kommunismus, sowie den Ökonomen John Maynard Keynes. Diesen beiden Denkern sei es, so meinten sie, mit Hilfe starker Ideen gelungen, ganze Gesellschaften zu verändern. In diesem Verständnis werden alle großen gesellschaftlichen Trends von oben, von Denkern und Vordenkern, betrachtet. Der Marxismus war für sie eine elitäre intellektuelle Strömung, keine Massenbewegung.

Aus dieser Geschichtsbetrachtung zogen die ersten Neoliberalen zwei Schlüsse: Sie wollten die Krise des Liberalismus dadurch überwinden, dass sie erstens die Forderung erhoben, es müsse eine neue liberale Utopie formuliert werden, die das Potenzial hätte, die Gesellschaft in einem Prozess über zwei bis drei Generationen verändern zu können.

Zweitens sollte versucht werden, diese neue Utopie – so unglaublich das klingt – in der Gesellschaft als dominante Ideologie durchzusetzen.

Im Rückblick über ein Jahrhundert scheint dieses Vorhaben geglückt zu sein, aber auf Wegen und mit Folgewirkungen, die die ersten Neoliberalen in ihren kühnsten Träumen nicht erahnt hätten. Wie bei Marx und dem Marxismus widerspricht auch hier der geschichtliche Erfolg des Neoliberalismus ihrer eigenen Vorstellung vom Gang der Geschichte.

Wir wollen unsere Zukunft zurück!

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