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Marktsozialdemokratie

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Auch in Deutschland veränderte sich in den 1980er-Jahren vieles. Im September 1982 beendete die FDP die langjährige Koalition mit der SPD (Kanzler waren von 1969 bis 1974 Willy Brandt und dann Helmut Schmidt) und wechselte zur CDU über. Der neue Kanzler Helmut Kohl rief eine »geistig-moralische Wende« in Verbindung mit einer neoliberalen Rhetorik aus: »Weg von mehr Staat hin zu mehr Markt, weg von kollektiven Lasten hin zu mehr persönlicher Leistung«, es müsse jetzt »eine Atempause in der Sozialpolitik« eingelegt werden.34 Tatsächlich wurde in Kohls Regierungszeit, die bis zum Oktober 1998 andauerte, keine »neoliberale Wende« vollzogen, dies wurde auch durch den Widerstand im Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerflügel der CDU verhindert.35

Der eigentliche Schwenk zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik passierte aber genau dann, als man es am wenigsten erwartete: während der rot-grünen Koalition unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder, die von Oktober 1998 bis November 2005 im Amt war. Schröder folgte hier dem neuen Trend, den Bill Clinton – US-Präsident von 1993 bis 2001 – und Tony Blair – Premierminister in Großbritannien von 1997 bis 2007 – vorgegeben hatten, nämlich eine Synthese der Sozialdemokratie mit dem Neoliberalismus. In die politische Geschichte ging diese Veränderung als »Dritter Weg« ein.36 Clinton hatte demgemäß 1996 bei seiner Rede an die Nation das Ende des »big governments« verkündet und die letzten Schritte einer Deregulierung der Finanzmärkte vollzogen. Die Folge war eine Explosion neuer Finanztitel, wie verbriefte Wertpapiere, in der zweiten Hälfte der 1990er- und in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre. Diese Entwicklung hat dann ursächlich zur Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 beigetragen.

Der neue »dritte Weg« schwächte die sozialdemokratische Forderung nach Gerechtigkeit in ihrer ursprünglichen Bedeutung, sie wurde gleichsam marktfähig gemacht. »Forderte die ursprüngliche Sozialdemokratie Gerechtigkeit auf der Basis von erbrachter Leistung zum Wohlstand, wurde Gleichheit jetzt«, so der deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey, »als individuell und gesamtgesellschaftlich leistungshemmend dargestellt.«37 Auch die Teilhabegerechtigkeit, die ursprünglich gesellschaftliche Mitbestimmung und Partizipation bedeutete, wurde nach Nachtwey umgedeutet zu einem »Dabeisein«. Damit verändert sich »das politische Handlungsfeld: Ziel ist nicht mehr die Herstellung von Gleichheit (der Chancen), sondern zum anerkannten Ausgangspunkt wird die (natürliche) Ungleichheit der Individuen«. Vereinfacht hieß es dann: »Gerecht ist, was Arbeit schafft.« Die Beschaffenheit der Teilhabe wird aber ausgeblendet: »Ob es zum Beispiel eine gute, würdevolle Arbeit ist«, spielte keine Rolle mehr.38

Schröders »Agenda 2010« stellte einen tiefen Einschnitt in das deutsche Sozialmodell dar. Das Konzept einer »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik«, auf dem »Hartz IV« beruht, hatte einen Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt von oben nach unten und eine verstärkte Polarisierung von Einkommen und Vermögen zur Folge. Es schuf vor allem einen neuen Niedriglohnsektor in Deutschland – genau das nannte Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005 als sein Ziel.39 Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnete 2019 gut ein Viertel der Beschäftigten diesem Niedriglohnsektor zu.40

Wie stark sich die Sozialdemokratie in eine neoliberale Richtung bewegt hatte, zeigt ein Vergleich des »Lambsdorff-Papiers« vom September 1982 mit dem »Blair-Schröder-Papier« vom Juni 1999. Das erste Papier, benannt nach dem damaligen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff von der FDP, entstand in der Stiftung Marktwirtschaft – sie wurde 1981 in Deutschland in Anlehnung an das neoliberale US-amerikanische Cato Institut gegründet – beziehungsweise in seinem wissenschaftlichen Beirat, dem Kronberger Kreis, unter Mitwirkung des späteren deutschen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer. Das Lambsdorff-Papier gilt als Auslöser für den Bruch der Koalition zwischen SPD und FDP im Jahr 1982, der deutsche Ökonom Lars Feld bezeichnete es als »Manifest der Marktwirtschaft«.41

Das zweite Papier beschreibt die neue Ausrichtung von Schröder in Abgrenzung zum sozialdemokratischen Parteilinken Oskar Lafontaine (der schließlich 2005 zur Linkspartei, heute »Die Linke«, wechselte) und im Schulterschluss mit Tony Blair.42 In beiden Papieren finden sich wortgleiche Phrasen einer Politik »des Marktes«. Der zeitliche Abstand von 17 Jahren dokumentiert den vielleicht größten Sieg des Marktfundamentalismus, nämlich dass marktliberale Ideen bis ins Zentrum der Sozialdemokratie vordringen konnten. »Das bisherige Anliegen der Sozialdemokratie […], die Wirtschaft in ihrem Sinne zu steuern oder gar ›Politics against Markets‹ zu betreiben, scheint aufgegeben worden zu sein.«43 Neben den Konservativen und den Liberalen hatten selbst die führenden Vertreterinnen und Vertreter der Sozialdemokratie aufgehört, ihre politische Phantasie auf Projekte jenseits »des Marktes« anzuwenden.

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