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Self-Help Movement: Die Selbsthilfe-Bewegung
ОглавлениеDie 1970er und 1980er Jahre waren – in den USA wie auch in den anderen Staaten der Ersten Welt – die Dekaden der Selbsthilfe-Bewegung. Zwar ist das Selbsthilfe-Prinzip keine Erfindung der Neuzeit (historische Vorläufer aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind die Selbstorganisationen der Kriegsbehinderten, der Blinden, der Körperbehinderten, die Anonymen Alkoholiker). Doch erst in diesen Jahrzehnten treten die »inszenierten Gemeinschaften«, die selbstorganisierten bürgerschaftlichen Vernetzungen, ihren Siegeszug an. Vor dem Hintergrund einer entwickelten Sozialstaatlichkeit entstand so ein buntscheckiger Wildwuchs von selbstorganisierten Gemeinschaften im Sektor des nicht-marktlichen Dienstleistungstausches, der interessierten Menschen eine Vielfalt von neuen Optionen der Teilhabe eröffnet und ihnen neue tragende Unterstützungsnetzwerke schafft (vgl. zur Einführung Hill u. a. 2013).
Selbsthilfe ist ein kritisches Gegenprogramm gegen eine zugleich wohlmeinende und entmündigende Staatsfürsorglichkeit, die in immer weiter beschleunigtem Tempo Leistungen und Sicherungen der Daseinsvorsorge aus den primären Netzen familiärer, verwandtschaftlicher, genossenschaftlicher und nachbarschaftlicher Nähe ausgrenzt und sie auf die sekundären Systeme professionalisierter und organisierter Leistungsprogramme überträgt. Selbsthilfe ist – jenseits der Sphäre privater Haushalte und diesseits der professionellen Dienstleistungssysteme – die private, nicht marktliche und nicht entgeltliche Produktion und Konsumtion von Gütern und Diensten in der Gemeinschaft von Menschen in gleicher Lage. Sie ist der Versuch von Menschen, in solidarischer Eigenleistung ein Netz sozialer Unterstützung zu errichten, neue Formen der Bewältigung von Lebensproblemen zu erproben und sich Ressourcen von Eigenverfügung und Gestaltungsmacht (wieder) anzueignen. Wir können hier fünf Definitionsmerkmale für Selbsthilfezusammenschlüsse benennen: die Betroffenheit der Mitglieder durch ein gemeinsames Problem; ein (partieller) Verzicht auf die Mitwirkung professioneller Helfer; die Betonung immaterieller Hilfen und der Verzicht auf eine Gewinnorientierung; die Zielsetzung der Selbst- und/oder der Sozialveränderung; und eine Arbeitsweise gleichberechtigter Kooperation und gegenseitiger Hilfe. Selbsthilfezusammenschlüsse werden in der Regel aus der Not geboren. Sie richten sich in jenen Nischen der Lebenswelt ein, die von einer verberuflichten Fürsorglichkeit nicht erreicht werden (Ergänzungsthese: die Selbsthilfe als komplementärer, das professionelle Sozialsystem ergänzender Dienstleistungssektor). Die vielen Gruppen, Initiativen und überregional vernetzten Organisationen, die die Selbsthilfe-Landschaft prägen, produzieren somit unverzichtbare soziale Dienstleistungen eigener Qualität. Sie erfüllen zum einen Hilfebedürfnisse, die im verwalteten Dienstleistungsapparat der Öffentlichen Hand, der Verbände und Versicherungsträger nicht oder nicht zureichend berücksichtigt werden: die Bedürfnisse nach wechselseitiger Hilfestellung und emotionaler Unterstützung, nach Eigenbewältigung von belastenden Lebenssituationen und nach Wiederaneignung von Alltagskompetenzen. Sie sind zum anderen das kritische Korrektiv einer anbieterorientierten Dienstleistungsproduktion – solidarische Orte der Selbstverständigung, in denen Menschen den Mut schöpfen, die eigenen Anliegen, Interessen, Zukunftsphantasien zu entdecken und ihre Forderungen nach Mitgestaltung, Partizipation und Einmischung durchzusetzen. Die Arbeit von Selbsthilfezusammenschlüssen läßt sich durch die Kombination folgender Elemente charakterisieren:
• Die Betonung der Betroffenenperspektive: die Akzentuierung der lebensweltlichen Wissensbestände, Situationsdefinitionen und krisenbezogenen Bearbeitungsstrategien der Menschen, die von einem Lebensproblem betroffen sind und durch diese Betroffenheit zu »Experten in eigener Sache« geworden sind.
• Die Gestaltung von selbstorganisierten Dienstleistungen: die »Diagnose« von Versorgungsmängeln des institutionellen Sozialsystems; die gemeinschaftliche Erstellung von alternativen Sozialprodukten (handfeste instrumentelle Lebenshilfen; Information; emotionale Unterstützung; Ich-stärkende und identitätsbeglaubigende Rückmeldungen der anderen), die durch die Institutionen der sozialen Sicherung nicht oder nur unvollständig erbracht werden (können); das Zusammenfallen von Produktion und Konsumtion dieser Dienstleistungen im gleichberechtigten wechselseitigen Austausch.
• Die Inszenierung von sozialer Nähe und Gemeinschaft: die Erfüllung von psychosozialen Grundbedürfnissen wie Zuwendung, Einbindung, Geborgenheit, d. h. die Produktion von emotionalen Leistungen, die weder in den privaten Beziehungsnetzwerken noch in der affektneutral strukturierten Dienstleistungsproduktion hergestellt werden können.
• Die Einübung der Betroffenen in die Rolle von kritischen Konsumenten sozialer Dienstleistungen: die gemeinschaftliche Erstellung eines Wissens- und Erfahrungspools, auf den die Mitglieder zurückgreifen können, um informiert und zielgerichtet Leistungen aus dem Angebot des professionellen Sozialsystems auswählen zu können und die Machtungleichheitsrelation der institutionellen Interaktion zumindest ein Stück weit zu korrigieren; die Einforderung von institutionalisierten Verfahren der Konsumenten-Mitbestimmung in der Gestaltung von sozialen Dienstleistungen.
• Die Ausübung eines sozialpolitisch relevanten Einflusses: Interessenvertretung und die Ausübung eines Gegengewichtes gegenüber der anbietergesteuerten Ausgestaltung von gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen; eine authentische Bedürfnisartikulation und Selbstvertretung nach außen; die Einforderung von Partizipationsrechten in der Arena der politischen Entscheidung und der praktischen Implementation von Dienstleistungsprogrammen.
Die Selbsthilfe-Bewegung hat im angloamerikanischen Raum und mit einiger Zeitverzögerung dann auch in der Bundesrepublik insbesondere auf drei Schauplätzen eine besondere Bedeutung gewonnen:
(1) Gesundheitsselbsthilfe: die Selbstorganisation von chronisch kranken und behinderten Menschen, die – eingebunden in schützender Gemeinschaft – neue Ressourcen der Krankheitsbearbeitung und der Lebensgestaltung schöpfen (personaler Aspekt: Selbst-Aktualisierung) und zugleich im Sinne einer advokatorischen Interessenvertretung nach außen einen Abbau von Webmustern der Entmündigung in Rehabilitationsmedizin, Pflegeversorgung und Alltagsunterstützung einfordern (sozialpolitischer Aspekt: versorgungspolitische Partizipation) (vgl. Danner/Meierjürgen 2015; Meggeneder 2011).
(2) Autonom-Leben-Bewegung (Independent-Living) von Menschen mit Behinderung: die Selbstorganisation von Menschen mit Behinderung, die sich gegen die entmündigenden Strukturen einer »behindernden Umwelt« (baulich-architektonische und vorurteilsgeprägte soziale Barrieren; eine Rehabilitationsmedizin, die eine Unterordnung des gesamten Lebensvollzugs unter therapeutische Reglements erzwingt; die Dauerabhängigkeit von den Pflegeleistungen und Alltagshilfen Dritter; die Ausgrenzung des behinderten Arbeitsvermögens in den Sonder-Arbeitsmarkt der Werkstätten für Behinderte) zur Wehr setzt und in allen diesen Lebenskreisen ein Mehr an Selbstbestimmung und autonomer Lebensgestaltung einfordert (vgl. Charlton 2004; Fleischer/Zames 2011; Theunissen 2013a).
(3) Selbsthilfe von Menschen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen: die eigeninitiierte Stärkung von Personen und Communities, denen aufgrund von diskreditierenden Konstruktionen personaler Merkmale (Intersektionalität von race, class, gender, Sexualität, Behinderung, Alter) eine vollwertige soziale, rechtliche und politische Teilhabe verwehrt wird. Diese Selbstorganisation von Menschen, welche von rassistischer Segregation und struktureller Diskriminierung betroffen sind, vollzieht sich in »geschützten Räumen« (safe spaces), in denen eine achtsame, verletzungs- und hierarchiefreie Kommunikation, die Reflexion verinnerlichter Unterdrückung und der Entwurf alternativer Denk- und Handlungsoptionen ihren Ort haben (vgl. Can 2013; Castro Varela 2011; 2019).