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»Community Action«-Programme und Gemeindepsychologie
ОглавлениеNachbarschafts- und gemeinwesenbezogene Projekte haben in den USA eine lange Tradition. Denn: Früher schon als in anderen entwickelten Staaten wurden hier die sozialen Erschütterungen einer tiefen Spaltung der Stadt sichtbar – soziale Segregationsprozesse entlang der scharfen Grenzen von ethnischer Herkunft und ökonomischem Status, die sich frei von Interventionen und Kanalisierungen der Stadtentwicklungsplanung ungebremst vollzogen. Diese Programme, die sich gegen diese Prozesse der Segregation und der darin eingelagerten Verelendung städtischer Teilräume zur Wehr setzten, variieren in ihren Graden von Radikalität. Am äußersten linken Rand des politischen Spektrums angesiedelt sind die Projekte der »radical community work«, deren Tradition vor allem mit dem Namen Saul Alinsky (1974; 1984; 2010) verbunden ist. Alinsky begann bereits in den 1930er Jahren in den Slums von Chicago, Mieterorganisationen und lokal verortete Bürgerrechtsgruppen aufzubauen. Community-Arbeit ist für ihn eine Technik des sozialen Widerstands – der Versuch von Menschen, sich in solidarischer Organisation ein Stück Macht anzueignen, um die Unterdrückungsmechanismen, die für menschenverachtende Lebensumstände verantwortlich sind, aufzubrechen. Die beiden Säulen seiner politischen Mobilisierungsarbeit sind: die Bildung von »Macht-Koalitionen« (power coalitions) quer durch die Trennungslinien sozialer und ethnischer Segregation und die Entwicklung von »konfrontativen politischen Durchsetzungsstrategien« (confrontative strategies), die die Legitimität staatlicher und kommunaler Wohlfahrts- und Housing-Programme herausfordern und durch die Schaffung eines breiten Umfeldes von Zustimmung und Unterstützung auch in Bevölkerungskreisen mit nur mittelbarer Betroffenheit eine staatliche »Politik der Nicht-Beachtung« auf den Prüfstand stellen. Die Schriften von Alinsky sind so – in militanter Sprache verfaßt – ein »Manual für Rebellen« (so der Titel seines 1946 erschienenen Buches; dt. 1974; zur Rezeption vgl. Schutz/Miller 2015). Diese Handreichungen zur Eroberung der Macht wurden in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und in der politischen Selbstartikulation von Migranten und ethnischen Minderheiten breit rezipiert. Alinsky lehrte, »Menschen zu organisieren«; seine Bücher schrieb er im Gefängnis.
Rückenwind der Mehrheitspolitik gewannen die Community Action-Programme durch den Equal Opportunity Act des Jahres 1965, der Teil des von Präsident L. B. Johnson ausgerufenen »Kampfes gegen die Armut« war. Dieses öffentliche Programm stand unter der Leitformel der »größtmöglichen Partizipation der Bürger« (maximum feasible participation). Es schuf das rechtliche Fundament für eine Politik der Bürgereinmischung, in deren Horizont stadtteilbezogene Planungsvorhaben, Infrastrukturmaßnahmen und Dienstleistungsprogramme notwendig an formale Verfahren der Bürgerbeteiligung und des Bürgerentscheides gebunden sind (Stichwort: community control). Zugleich schuf dieses Programm das ökonomische Fundament für die Implementation einer Vielzahl von Modellprojekten zur gemeindlichen (Selbst-)Organisation. Eine Rückschau auf diese nunmehr 30-jährige Tradition der Community-Organization-Bewegung dokumentiert ein weites, in seiner Vielfältigkeit kaum zu überschauendes Panorama von Projekten, das hier nur benannt, nicht aber weiter ausgeführt werden kann (vgl. weiterführend Chambers 2014; Maruschke 2014; Mayo u. a. 2013). »Tenant-rights«-Organisationen, die für die Umwandlung von Nutzungsverträgen für städtischen (Not-)Wohnraum in Mietverträge mit verbrieften Schutzklauseln eintreten; Anwaltsplanung im Kontext von ortsbezogenen Sanierungsprogrammen; architektonische »Gentrification-Programme«, die eine signifikante Aufwertung der Qualität von Wohnungen und Wohnumfeldern zum Ziel haben, ohne alteingesessene und zumeist mietschwache Bewohner über das Instrument der Mietpreissteigerung zu vertreiben; die Installation von Nachbarschaftsbeiräten, die in kommunalen Verfahren der Sozialraum- und Infrastrukturplanung Sitz und Stimme haben; die Schaffung von Krisenhilfen, Mediationsverfahren und Schuldenausgleichsfonds, die in Fällen drohender Zwangsräumung ein Netz präventiver Wohnsicherung aufspannen; die Wiederbeheimatung von wohnungslosen Menschen; der Abbau sozialräumlicher Segregation und ethnisch entmischter Sukzession (Ghettobildung) durch steuerbegünstigte Incentive-Programme zur Förderung des privaten Wohnungsbaus und zur Ansiedlung von Dienstleistungsgewerbe; die Verbesserung städtischer Teilräume durch Umnutzung und durch die Verlagerung zentrumsnaher industrieller Nutzungen an die Peripherie der Städte (»Industrieparks«); der Aufbau einer rechtlichen Interventionsapparatur gegen spekulative Leerstände – die Liste ließe sich fortsetzen. Das nationenweite Programm »Empowerment Zones/Enterprise Communities« – 1993 von Präsident Clinton ins Leben gerufen – ist hier das letzte Glied in einer langen Kette von Entwicklungsprojekten in benachteiligten Stadtteilen, die durch die Stärkung von wirtschaftlicher Standortqualität und Infrastrukturpolitik, durch die Verbesserung von Wohn- und Wohnumfeldqualität und die Förderung einer lokalen Kultur der Kommunikation und der sozialen Verantwortung eine spezifische sozialräumliche Wertschöpfung zum Ziel haben (vgl. Hall/White 2012; Metzner 2009; Rich/Stoker 2014).
In den 1970er Jahren verknüpften sich diese Community Action-Programme mit einer zweiten sozialökologischen Reformbewegung: der Gemeindepsychologie. Programmatische Zielsetzungen der Gemeindepsychologie sind: (1) der Aufbau eines niedrigschwelligen, vernetzten und ganzheitlich orientierten Netzes psychosozialer Unterstützung im Stadtteil; (2) die Beheimatung der Bewohner und die Entwicklung von Mustern der Identifikation mit sozialräumlichen Umwelten (sense of community); und (3) die Förderung von Organisationen bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, die zu Motoren sowohl der personalen Selbstbemächtigung als auch der sozialen Umweltgestaltung werden können. Die Gemeindepsychologie begreift soziale Probleme, Entmutigung und resignativen Rückzug als (fehlschlagende) Lösungsversuche des Subjekts im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und strukturellen Lebensrestriktionen. Die »Gemeinde« ist das für das Subjekt sozialräumlich konkret verfügbare Ensemble von materiellen, ökologischen und sozialkulturellen Ressourcen. Das gemeindepsychologische Projekt zielt nun auf eine Optimierung der Person-Umwelt-Transaktionen: Die professionelle Unterstützung hat zum Ziel, ihren Adressaten Hilfestellungen für eine fokussierte und problemgenau zugeschnittene Wahrnehmung und Nutzung von lebensweltlichen Ressourcen zu vermitteln und so eine gelingende Bearbeitung immer wiederkehrender Belastungen zu stützen. Die gemeindepsychologische Interventionskultur ist durch drei Prinzipien gekennzeichnet: Gemeindenähe: Gemeindepsychologie bemüht sich um den Aufbau und die Erprobung von niedrigschwelligen Praxisformen psychosozialer Intervention, die in die sozialräumliche Lebenswelt eingelagert sind, die alltagsbezogen arbeiten und die Selbstorganisation der Lebenspraxis der Betroffenen befördern. Netzwerkförderung: In einer gesellschaftlichen Situation, die durch eine beschleunigte Individualisierung und die Erosion traditioneller Solidaritätsgemeinschaften gekennzeichnet ist, zielt das gemeindepsychologische Bemühen auf die Schaffung und die Förderung von Gelegenheitsstrukturen für die Entstehung von selbstorganisierten Gemeinschaften. Nicht die bloße Verteidigung traditioneller Vergesellschaftungsmuster (Rettung der Liebe, der Familie, der Nachbarschaft) ist hier Programm, sondern die Inszenierung neuartiger und selbstgewählter Solidaritätsnetzwerke. Demokratische Partizipation: Gemeindepsychologie vertritt schließlich eine eindeutige Werteposition, die (gerade im Hinblick auf Adressatengruppen an den äußeren Rändern des gesellschaftlichen Wohlstandes) engagiert für ein Mehr an Chancengleichheit im Zugang zu materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen eintritt. Die vielgestaltige gemeindepsychologische Praxis ist grundiert durch eine gemeinsame normative Grundhaltung. In einer Gesellschaft, deren Veränderungsdynamik zu einem beschleunigten Zerfall von tradierten kollektiven Lebensformen und zur Erosion zwischenmenschlicher Verbindlichkeiten führt, zielt die gemeindepsychologische Praxis auf die Schaffung neuer lokaler Projekte und Netzwerke in der Regie der Menschen. Auf der Agenda stehen – hiermit verbunden – der Abbau struktureller Ungleichheiten im Zugang zu materiellen und ideellen Ressourcen, die Förderung von Diversity und kultureller Mannigfaltigkeit in der Wahl eigensinniger und selbstbewußter Lebensformen sowie die Öffnung von Partizipationsräumen in der öffentlich-politischen Gestaltung des Sozialraumes (zur Bilanz des gemeindepsychologischen Projektes vgl. Kagan u. a. 2019; Lazarus 2018; Rappaport/Seidman 2000).