Читать книгу Die großen Themen des christlichen Glaubens - Norbert Scholl - Страница 60
2. Der lange Weg zum Monotheismus
ОглавлениеHäufig ist die Meinung anzutreffen, der Monotheismus sei von Anfang an charakteristisch für Israel.
Bei genauerem Studium der alttestamentlichen Überlieferung ergibt sich ein ganz anderes Bild. Der jüdische Monotheismus war nicht mit einem Schlag und unvermittelt da. Er hatte vielmehr eine lange und wechselvolle Vorgeschichte, in der verschiedene Kräfte am Werk waren.2 Die älteste Religion Israels, sofern man überhaupt schon von „Israel“ sprechen kann, ist – wie die der übrigen Völker des vorderorientalischen Milieus – polytheistisch. Man verehrt eine Vielzahl von Göttinnen und Göttern. Weder die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob noch Mose sind als Vertreter einer monotheistischen oder auch nur monotheismus-ähnlichen Religion zu betrachten.
An dieser Situation ändert sich auch in den beiden israelitischen Monarchien (ca. 1020–586 v. Chr.) nicht viel. Zwar erscheint die Stellung Jahwes als Nationalgott in der Königszeit ausgebaut und gefestigt. Daneben aber verehren die Israeliten – angefangen vom König bis hinunter zu Unfreien und Sklaven – ihren je „persönlichen Schutzgott, der besonders für Gesundheit und Familie zuständig ist. […] Frauen richten ihr Gebet auch gerne an die ‚Himmelskönigin‘; sie wird mit Räucherwerk, Trankopfern und besonderen Kuchen geehrt und ist offenbar eine besondere Helferin“ (vgl. Jer 7,18; 44,25).3 Auch die Erschaffung der Welt ist – zumindest für das ältere Israel – nicht das Werk Jahwes, sondern des mächtigen Gottes El (vgl. Gen 14,19).
Als im 9. Jahrhundert v. Chr. Anhänger des Fruchtbarkeitsgottes Baal versuchten, ihre Gottheit anstelle Jahwes zum Nationalgott des Nordreiches Israel zu machen, begann der Kampf um die absolute Alleinherrschaft Jahwes, in dem besonders der Prophet Elija (hebr. = mein Gott ist Jahwe!) eine führende Rolle übernahm (vgl. 1 Kön 18). Doch erst nach dem babylonischen Exil (586–538 v. Chr.) bekennt sich die zurückgekehrte politische und religiöse Elite des Judentums zum streng monotheistischen Glauben.4
Allerdings wird auch dieser Monotheismus Israels häufig missverstanden. Das Grundbekenntnis Israels – das einzige „Dogma“ des Judentums – lautet: „Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig“ (Dtn 6,4). Dieses „Shemá“ (hebr.: höre!) ist Hauptteil des jüdischen Morgen- und Abendgebets. Die jüdischen Martyrer aller Zeiten sind mit diesem Bekenntnis auf den Lippen in den Tod gegangen. Bei der Betonung der Einzigartigkeit Jahwes handelt es sich aber nicht um eine mathematische oder quantitative Einheit, etwa weil „zwei oder mehr nicht absolut sein“ können. Vielmehr ist die Einzigartigkeit Jahwes qualitativ zu verstehen5: Jahwe ist unvergleichlich groß (Ps 77,14), heilig (1 Sam 2,2) und machtvoll in seiner Hilfe (2 Chr 14,10) und Wunderkraft (Ex 15,11).
Da aber der Mensch den einzig(artig)en Gott im Spiegelbild der Welt und ihrer Geschichte immer nur gebrochen und in sehr unterschiedlichen, manchmal auch widersprüchlichen Erfahrungen wahrnehmen kann (so dass er geneigt ist, auf eine Mehrzahl von Göttern und Göttinnen als Wirkursache zu schließen), muss er selbst an der Einheit Gottes „mitarbeiten“. Das Bekenntnis zur Einzigartigkeit und Einheit Gottes nennt der gläubige Jude darum „Gott einigen“. Dieses „Einigen“ geschieht auf dem Hintergrund der Geschichte des Volkes Israel, das sich erst nach einem langen und schmerzlichen Erkenntnisweg zum Bekenntnis des einen und einzigen Gottes durchgerungen hat. Die historischen Geschehnisse und die in ihrer Deutung nicht selten weit auseinandergehenden individuellen Erfahrungen der suchenden und nachdenklichen Menschen jener Zeit wurden gerade dadurch zu einer Einheit zusammengefügt, dass sie bei allem Wandel und bei aller Verschiedenheit das durchgängige Wirken eines einzigen, aber immer wieder anders erfahrenen und sich erfahrbar machenden Gottes zu erkennen glaubten.
Der altttestamentliche Fromme musste sich jede einzelne seiner Erfahrungen neu durchbuchstabieren und sie auf ihren letzten und eigentlichen Hintergrund hin befragen. Im Nachdenken, im Gebet, im Ringen mit diesen unterschiedlichen Gotteserfahrungen geschah die „Einigung Gottes“. „Gott einigen“ bedeutet also, dass der Jude (und mit ihm jeder Gott suchende Mensch) lernen muss, in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Erfahrungen mit dem Göttlichen, mit dem Transzendenten dennoch nur den einen und einzigen Gott am Werk zu sehen und mit seinen bisherigen Erfahrungen in „Ein“-Klang zu bringen.
Da ist der Gott der Patriarchen, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der in besonderer Weise einer Sippe oder einem einzelnen Stammvater verbunden ist. Mit diesem Gott kann man sprechen, kann man Umgang haben; auf ihn kann man vertrauen. Er ist wie ein Mitglied der Großfamilie. Darum besitzt er auch keine feste Bleibe, keinen Altar, keine Kultstätte. Er geht mit, wenn die Zelte abgebrochen und die Herden zu neuen Weideplätzen geführt werden.
Da ist der Gott vom Sinai, der die Berge zerreißt, der im Sturmwind daherfährt, der die Blitze zucken und den Donner rollen lässt. Diese Gotteserfahrung spiegelt Erlebnisse in der Wüste und im Bergland wider. Die eigentliche „Heimat“ dieses Gottes ist das Gebiet zwischen dem Toten Meer und dem Golf von Aqaba, dem Roten Meer.
Da ist der Befreier-Gott, der es nicht duldet, dass Menschen durch Menschen unterdrückt werden, und der das Volk, das bereit ist, sich ihm anzuschließen und ihm nachzufolgen, aus der Knechtschaft heraus führt. In allen Gefahren, in aller Drangsal und Not ist auf ihn Verlass, ist er Hilfe und Beistand.
Da ist der Gott der Fruchtbarkeit, der Gott der Sesshaften, der Ackerbauern. Er besitzt eine Kultstätte, an der ihm alle Jahre im gleichen, immer wiederkehrenden Rhythmus in drei Erntefesten (Mazzoth-, Pfingst- und Laubhüttenfest) der geschuldete Dank erwiesen wird.
Da ist schließlich auch der Kriegs-Gott, der sein Volk zum Sieg führt und die Feinde unterwirft (vgl. Ex 15,3). Dieses Gottesbild ist für uns Heutige wohl das anstößigste. Es verliert nur dadurch etwas von seiner Problematik, wenn wir bedenken, dass nach Vorstellung der alten Völker des Orients jeder Krieg letztlich ein Kampf zwischen den Göttern der beteiligten Völker oder Sippen darstellte. Bis in unsere Tage sind solche Gedanken noch lebendig, wenn auch meist in säkularisierter Form als Ringen zwischen „guten“ und „bösen“ Weltanschauungen und Ideologien. (Nicht nur) Israel musste in den Katastrophen, die das Reich vernichteten und die Führungsschichten auslöschten oder ins Exil trieben, die schmerzliche, aber heilsame Erfahrung machen, dass Gott nicht auf Seiten der stärkeren Bataillone steht, sondern auf der Seite der Unterdrückten und Entrechteten. Erfolg ist keiner der Namen Gottes.
In einem langen Verschmelzungsprozess hat Israel diese fünf Ursprungssituationen seiner Gotteserfahrung in dem einen „Ich-bin-da“, in Jahwe, zusammengefasst. Damit aber blieb das Gottesbild widersprüchlich und kontrastreich. Israel hielt diese Spannung durch. Es erlag nicht der Versuchung, die unterschiedlichen Erfahrungen als Offenbarungen verschiedener Götter zu interpretieren und so in Polytheismus zu verfallen. Aber es blendete auch nicht widerständige und sperrige Erfahrungen aus, um so seinen Ein-Gott-Glauben möglichst problemlos zu gestalten.