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6. Gewalt und Gewaltkritik
ОглавлениеNicht wenige Christinnen und Christen verbinden mit dem Alten Testament die Vorstellung von Gewalt, von blutrünstigen Eroberungen, vom Abschlachten der Feinde und von einem Gott der Rache. Dem stellen sie dann das Neue Testament gegenüber als Botschaft von der Gewaltlosigkeit, von der Feindesliebe und von einem Gott der Vergebung und Liebe. Es lässt sich nicht leugnen: Der erste Eindruck, den die Bibel uns liefert, ist fatal. Da gibt es nichts zu beschönigen.
Nun ist die Bibel aber keine Quelle, die uns verlässliche historische Tatsachenberichte liefert. Sie ist vielmehr ein Buch, das aus einer bestimmten politischen und religiösen Situation heraus die geschichtliche Überlieferung des Volkes deutet und überarbeitet. Wer die „Gewalttexte“ in der Bibel richtig verstehen will, kann das nur über eine ausreichende Erforschung der Texte selbst, ihrer Hintergründe und Zusammenhänge und der daraus sich ergebenden Interpretation erreichen.
1. Grundsätzlich gilt: Die Bibel ist kein historisches Werk, das zuverlässig und detailliert über Ereignisse berichtet, die sich so und nicht anders zugetragen haben. Das Alte Testament entstand in einer sehr wechselvollen Geschichte in einem Zeitraum von etwa acht Jahrhunderten. „Theologumena kamen und gingen; das Scheitern leitender theologischer Konzeptionen und ehemals bedeutsamer Gottesbilder, so auch das Scheitern mancher theologischer Theorien über das unverschuldete Leiden wurden erkannt und ausformuliert; und dies ging in Gestalt jüngerer Texte wiederum in das Alte Testament ein, erhöhte seine Komplexität, bewahrte seine Lebensnähe.“15
2. Die Bibel ist auch kein frommes Erbauungsbuch, das einfältig eine heile Welt vorgaukelt und alles Unheile – wie Gewalt, Krieg, Mord, Ungerechtigkeit, Zerstörung – außen vor lässt. „Sie ist vielmehr ein spannungsreiches Buch, das auf die Suche nach der gelebten Gotteswahrheit schickt. Es steckt dafür einen Rahmen und einen Horizont ab, innerhalb dessen das Lebensexperiment gewagt werden muss – in permanenter Auseinandersetzung mit den vielfältigen Vorgaben der Überlieferung.“16
3. Die biblischen Texte sind nicht „als zeitlose Wahrheit formuliert worden, sondern in ganz spezifischen gesellschaftlichen und religionsgeschichtlichen Kontexten. Nur wenn die ursprünglichen und heutigen Kontexte mitreflektiert werden, können biblische Texte überhaupt erst verstanden werden.“17
4. Das Alte Testament stellt die Gewalt in vielfacher Form und in erschreckender Häufigkeit dar. Es verschweigt sie nicht. Es versteckt sie nicht. In dieser Hinsicht ist die Bibel „wie ein Spiegel, in dem die Gewalttätigkeit der ganzen Welt und aller Zeiten aufscheint.“33
5. Einige Texte stellen ganz unverblümt und illusionslos dar, dass Gewalt grundsätzlich zum Schicksal des menschlichen Daseins gehört: „Die Erde war in Gottes Augen verdorben, denn sie war voll von Gewalttat“ (Gen 6,11).
6. Ein gut Teil der drastischen Gewaltschilderungen „geht auf das Konto altorientalischer Kriegsphraseologie. Die massiven Vernichtungsstrategien in den Erzählungen zur Landnahme sind zum Teil von nationalistischen Autoren in Szene gesetzt, die es zeitgenössischen Kriegsberichterstattern gleichtun möchten.“18 Vor allem die im Buch Josua geschilderten Gewalttaten aus vergangener Zeit dienen der ideologischen Untermauerung der rigorosen Kultreform des Königs Joschija (640–609) und der aktuellen Kriegs-Propaganda samt der dazu notwendigen moralischen Aufrüstung.
7. Andere Texte, die von Gewalt handeln, zeigen deren schlimme Folgen auf (Kain und Abel, Sintflutgeschichte). Sie sind insofern eher als gewaltkritisch zu werten. „Gerade in dieser unverblümten Aufdeckung all dessen, was zur Gewalt führt und wie sich Gewalt artikuliert, (geht) die Bibel einen Schritt über die Gewalt hinaus, insofern sie ausdrücklich die inneren Gesetze und Befindlichkeiten von Gemeinschaften skizziert, die ohne Gewalt auskommen oder zumindest mit ihr leben und überleben können.“19
8. Eine weitere Gruppe von „Gewalttexten“ (z.B. die „Fluchpsalmen“) sind, wie eine historisch-kritische Analyse zeigt, „fast ausschließlich als Texte der Angst und der Ohnmacht entstanden.“20
9. Von besonderer Brisanz ist allerdings die Verquickung des Gottesbildes mit der Gewalt. „Jahwe ist ein Krieger“ (Ex 15,3), so steht es im sogenannten Siegeslied am Schilfmeer. Israel folgt hier einer gemein-orientalischen Tradition, nach der jede kriegerische Auseinandersetzung letztlich ein Krieg zwischen den Göttern der beteiligten Kontrahenten darstellt und jeder Sieg der eigenen Partei als ein Sieg des „eigenen“ Gottes über den fremden Gott oder die fremden Götter interpretiert wird. Ein genau gegenteiliges Gottesbild findet sich in Jes 7,1–9; 30,15f.; 31,1.3. Hier wird in pointierter Zuspitzung jedes kriegerische Handeln ausgeschlossen. Nur wer „Stille und Vertrauen“ bewahrt und „nicht auf die Menge der (Kriegs-) Wagen und auf die zahlreichen Reiter“ setzt, darf auf Jahwes helfendes Eingreifen zählen.
Die Erfahrungen Israels mit „seinem“ Gott Jahwe sind ganz offensichtlich von Anfang an höchst ambivalent, um nicht zu sagen widersprüchlich. Aber es wird nicht der Versuch unternommen, sie zu harmonisieren oder gar zu vertuschen. Beide Gottesbilder – das des kriegerischen und das des kriegsverabscheuenden Gottes – stehen hart und unvermittelt nebeneinander.
Da wird Jahwe einerseits dargestellt als einer, der Väter und Söhne, Feinde und Könige „zerschmettert“ (Jes 13,14; Ps 68,22; 110,5), der sich in einen regelrechten Blutrausch steigert: er „zerstampft“ die Völker in seinem Grimm, „ihr Blut spritzt auf“ und „befleckt“ seine „Kleider“ (Jes 63,1–6);andererseits erscheint Jahwe als einer, der wie „Eltern“ ist, die den Säugling auf die Arme nehmen und an ihre Wange heben (Hos 11,3f.).
Da tritt Jahwe auf als einer, der befiehlt, „die Völker auszurotten“ (Ps 106,34); andererseits ist er wie ein Hirte, der seine Schafe sucht und sich selber um sie kümmert (Ez 34,11).
Einerseits tritt Jahwe wie einer auf, dessen „Schwert sich ins Fleisch frisst“ (Dtn 32,42);andererseits wird er dargestellt als Heiliger, der in der Höhe wohnt, der aber auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten ist, um den Geist der Bedrückten wieder aufleben zu lassen (Jes 57,5).
Jahwe wird erfahren als einer, der seine Rechte „glühen lässt wie einen feurigen Ofen“ und seine Feinde im Zorn verschlingt (Ps 21,10);aber auch als einer, der eben diesen „glühenden Zorn“ nicht vollstrecken kann, weil sein Herz sich gegen ihn wendet und Mitleid auflodern lässt (Hos 11,8f.)
Besonderen Anstoß erregen jene Texte, in denen Jahwe direkt die Tötung von Menschen befiehlt. Am bekanntesten ist die Aufforderung an Abraham, seinen Sohn zu opfern (Gen 22). Weiter sind zu nennen: die Duldung des Tochter-Opfers von Jiftach (Rich 11,29–40), die Tötung der Erstgeburt der Ägypter (Ex 12,12f.), die Vernichtung der ägyptischen Verfolgertruppe (Ex 14;15), der Tod von Davids Kind mit Batseba als Strafe (2 Sam 12,15–23), die Tötung der Baals-Priester auf dem Karmel (1 Kön 18) und der blutige Sturz der Omriden-Dynastie (1 Kön 18; 2 Kön 9–11).21
Ehrliche und sachgerechte Bibelauslegung darf weder die eine noch die andere Gotteserfahrung ausblenden. Beides gehört dazu: das Rätselhafte, Dunkle, Erschreckende, das Tremendum der Gotteserfahrung und das Lichte, Beseligende, Beglückende, das Fascinosum.
Es gibt nichts zu vertuschen: Das Alte Testament enthält Texte, die die Anwendung von brutaler Gewalt schildern. Aber – das darf ebenso wenig unterschlagen werden – es gibt auch Passagen, die deutliche Kritik an Gewalt und Gewaltanwendung üben oder die sogar eine ausgesprochen pazifistische Tendenz enthalten. Erich Zenger sieht diesen Aspekt sogar schwerpunktmäßig vertreten: „Das Alte Testament ist eindeutig gewaltkritisch.“ Und das in dreifacher Hinsicht: „Erstens haben wir es in ihnen (den Texten des AT, N. S.) mit Aufdeckung der Gewalt zu tun. Zweitens wird klar gesagt: Gewalt ist widergöttlich; Gewalt ist Sünde. Und drittens bringen viele Texte die Vision einer gewaltfreien Zukunft zum Ausdruck.“22
Schon auf den ersten Seiten der Bibel, in der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte, ist die Vision eines gewaltfreien Zusammenlebens von Mensch und Tier angesprochen, indem ihnen ausschließlich pflanzliche Nahrung zugewiesen wird (Gen 1,29–30).
Diese Vision findet sich auch schon 200 Jahre vorher beim Propheten Jesaja. Er entwirft in der bekannten Ankündigung des messianischen Reiches eine grandiose Utopie von Frieden und Gewaltlosigkeit: Der messianische Heilsbringer „schlägt die Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes. Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen nebeneinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind steckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,4b.5–9).
Gleich dreimal wird das Bild vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen in die Bibel aufgenommen (Jes 2,4; Mich 4,3; Joël 4,10), und Jesaja lässt jeden Soldatenstiefel und jeden blutbefleckten Mantel zu einem „Fraß des Feuers“ werden (Jes 9,4).
Die Propheten werden nicht müde, die vielfältigen Formen von Gewalt zu verurteilen, die sich im Volk breitgemacht haben: Ausbeutung der Armen und Wehrlosen, Unterdrückung der Witwen und Waisen, Vergießen unschuldigen Blutes, Unrecht und Betrug (vgl. Jer 6,7; 7,5–7; 20,8; 21,12).
Die Priesterschrift endlich bemüht sich, die Wurzel aller Gewalt aufzuzeigen: die Sünde. Sie ist die eigentliche „Gewalt“ (hebr.: hamás; vgl. Gen 6,11).
Die Textbeispiele machen deutlich genug, dass es leicht möglich ist und leider immer wieder praktiziert wird, die Bibel gegen die Bibel auszuspielen. Wer nur die gewaltkritischen Texte des Alten Testaments auswählt, kann daraus ein gänzlich anderes Buch machen als jener, der nur die Texte herauspickt, die (scheinbar!) die Gewalt verherrlichen.
Die biblischen Texte stehen in einem ganz bestimmten gesellschaftlichen, kulturellen, nationalen und religionsgeschichtlichen Kontext, von dem sie nicht einfach losgelöst werden dürfen. Darum ist zum richtigen Verständnis der Bibel „genau“ zu achten „auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen, die zur Zeit des Verfassers herrschten. Die Schrift (muss) in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde.“23