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Literarische ‚Avantgarde‘ der 1770er Jahre
ОглавлениеBourdieus Theorie, die in seinem Buch Les règles de l’art (dt. Die Regeln der Kunst)5 ausführlich dargelegt ist, erklärt die Handlungslogik von gesellschaftlichen Akteuren, die auf dem Feld des modernen Literatur- und Kunstbetriebs um die Gewinnung, Vermehrung oder Bewahrung eines eigenen ‚symbolischen Kapitals‘ als Künstler kämpfen. Ihr zufolge ist jeder Künstler, der noch kein symbolisches Kapital besitzt, gezwungen, im Namen einer neuen Ästhetik gegen die anerkannten Repräsentanten der herrschenden Kunstrichtungen zu revoltieren und deren Kunstnormen anzugreifen, und zwar solange, bis er sich selbst einen Platz auf dem Olymp erobert hat. Da die ‚jungen‘ Künstler im Unterschied zu ihren arrivierten Gegnern noch über keine institutionellen Machtmittel im Literatur- und Kunstbetrieb verfügen (etwa Publikationsorgane, Professorenämter, Akademiemitgliedschaften u. dgl.) ist es für sie besonders wichtig, kleine, aber in sich verschworene Gemeinschaften zu bilden, die sich jeweils als Avantgarde der Kunst verstehen und sich auf schlagkräftige Weise in der Öffentlichkeit präsentieren. Allerdings ist der Zusammenhalt solcher Gruppen immer dann bedroht, wenn ein Mitglied die von allen gewünschte Anerkennung gewonnen hat, andere aber nicht oder doch nicht im gleichen Ausmaß. Aus der Handlungslogik, der die einzelnen Akteure unterworfen sind, folgt, dass immer neue Avantgarden entstehen und dadurch das gesamte System der modernen Kunst eine Dynamik fortgesetzter Innovation, wenn nicht Revolution, entfaltet.
Bourdieus Theorie, die am Paradigma des Pariser Literatur- und Kunstbetriebs des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist, überzeugt als literatursoziologisches Modell für die Avantgarde-Bewegungen der Moderne. Die Frage, ob sie bereits auf die Periode des Sturm und Drang angewendet werden kann, ist mit gewissen Einschränkungen zu bejahen. Die wichtigste Voraussetzung für die Applikation der Theorie ist, dass gerade in der Phase, als die Stürmer und Dränger das ‚literarische Feld‘ betraten, die literarische Öffentlichkeit in Deutschland zunehmend von der Konkurrenz freier, für den expandierenden Bücher- und Zeitschriftenmarkt arbeitender Schriftsteller geprägt wurde. „In dem Sturmund-Drang-Jahrzehnt von 1770 bis 1780 verdoppelt sich die Zahl der Schriftsteller in Deutschland von ca. 3000 auf ca. 6000“, veranschlagt Franziska Herboth,6 wobei in dieser Rechnung die noch deutlich größere Gruppe der ‚gelehrten‘, nur für ein akademisches Publikum schreibenden Autoren ausgeklammert wird.7 Die rasch wachsende Zahl von freien Schriftstellern hing hauptsächlich mit einer starken Ausweitung der belletristischen Produktion zusammen. Diese Veränderungen sprengten die Sozialform und den Diskurstypus der gemeinsamen ‚Gelehrtenrepublik‘, der sich noch die meisten aufklärerischen Schriftsteller zugehörig fühlten, und schufen umgekehrt den Freiraum für ein neues Selbstverständnis von Autoren, die als weitgehend autonome Künstler mit ihren Werken in der literarischen Öffentlichkeit auftraten und als solche nach Anerkennung strebten.
Die später als Stürmer und Dränger bezeichneten Schriftsteller, die Anfang der 1770er Jahre in Straßburg und an einigen anderen Orten einen Kreis von Gleichgesinnten bildeten, erhoben programmatisch den Anspruch, jeder wahre Künstler müsse ein Genie sein, das durch gleichsam göttliche Kräfte zum originellen Schöpfer einzigartiger Werke werde. Die Genialität und Originalität machten sie nicht nur zum Kriterium der eigenen künstlerischen Produktionen, sondern auch zur Messlatte für die Beurteilung anderer Schriftsteller. In der entscheidenden Phase der Jahre 1773/74 war – komplementär zur hymnischen Feier vorbildlicher Künstlerpersönlichkeiten der Vergangenheit – die polemische Auseinandersetzung mit tonangebenden Schriftstellern der Gegenwart von konstitutiver Bedeutung, und zwar eben so sehr für die Selbstverständigung der Künstlergruppe wie für die Außendarstellung als neue, mit den Normen der aufklärerischen und empfindsamen Literatur brechende Kunstbewegung.
Herder, Goethe, Merck, Lenz, Wagner und die anderen so genannten Stürmer und Dränger waren zu Anfang der 1770er Jahre Schriftsteller der jungen Generation, die mit dem Programm einer radikalen Genieästhetik gegen die etablierten Autoren und Konventionen der damaligen Literatur revoltierten. Im Lichte der Theorie Bourdieus erscheinen sie als eine historisch frühe Form von künstlerischer Avantgarde.8