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Matthias Buschmeier/Kai Kauffmann

Einleitung

Obwohl die Zeit des Sturm und Drang nur von der Mitte der 1760er bis in die frühen 1780er Jahre dauerte, ist sie für die deutsche Literaturgeschichte überaus interessant, weil es sich um eine Phase des historischen Übergangs und Umbruchs hin zur europäischen Moderne handelt. Diese Phase trägt in sich zu viele Spannungen, um aus ihr eine eigene Epoche zu konstruieren oder sie widerspruchslos einer anderen, größeren Epoche zuzuschlagen.

An Versuchen einer Epochenzuordnung hat es freilich in der bisherigen Forschungsgeschichte nicht gefehlt. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierende Forschungsrichtung der Geistesgeschichte betonte den Gegensatz zum Rationalismus der (vor allem französischen) Aufklärung und betrachtete den Sturm und Drang entweder als einen direkten Vorläufer der (deutschen) Romantik oder als eine von mehreren Geistesströmungen in der Großepoche der Goethezeit. Dagegen setzte sich seit den 1960er Jahren die bis heute vorherrschende Auffassung durch, ähnlich wie die Empfindsamkeit gehöre der Sturm und Drang trotz Verstandeskritik und Gefühlsemphase in den Zusammenhang der Großepoche der Aufklärung. Für diese Epochenzuordnung haben gerade die diskursgeschichtlichen und wissenspoetischen Studien der jüngsten Zeit gute Argumente geliefert, etwa die Verarbeitung von anthropologischen oder juristischen Diskursen der Aufklärung in literarischen Texten des Sturm und Drang. Andererseits gibt es aber ebenso gute Gegenargumente. So lässt sich kaum bestreiten, dass die radikalen Individualitätskonzepte der Stürmer und Dränger mit den sozialen Normvorstellungen der Aufklärung und der Empfindsamkeit, die den Einzelnen an die Gesellschaft binden, nicht mehr vereinbar waren, so wie auch ihre – gegenüber älteren Genievorstellungen – totalisierte Genieästhetik den Rahmen der in Aufklärung und Empfindsamkeit möglichen Literaturmodelle sprengte. Nicht nur das von den Stürmern und Drängern verkündete Programm, es komme nicht allein auf die künstlerische Schöpfung an, sondern auch ihre Verfahren, literarische Texte – und dies gilt über die poetischen Dichtungen im engeren Sinn hinaus – als ästhetische Gebilde zu organisieren, bahnten den Weg für die Autonomieästhetik der Klassiker und Romantiker um 1800.

Der vorliegende Studienband nimmt keine eindeutige Verortung des Sturm und Drang im Epochenschema der deutschen Literaturgeschichte Matthias Buschmeier/Kai Kauffmann vor. Die in ihm versammelten Beiträge beschreiben stattdessen das faszinierend komplexe Beziehungs- und Spannungsfeld, in dem sich Autoren und Texte der 1760er bis 1780er Jahre, die dem Sturm und Drang zugerechnet werden, positioniert haben. Dem Reihenprogramm der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft gemäß, das im Untertitel des Bandes festgehalten ist, werden in jedem Aufsatz repräsentative Autoren und kanonische Werke behandelt. Doch geschieht dies immer im Zusammenhang von systematischen Fragestellungen, welche in die vielgestaltige Literaturlandschaft zu Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts und zugleich in die perspektivenreiche Forschungsdiskussion zu diesem Zeitraum einführen.

Bei der Auswahl der Fragestellungen wurde darauf geachtet, dass wichtige Themen der etablierten Sturm-und-Drang-Forschung nicht einfach zu den Akten der Wissenschaftsgeschichte gelegt, sondern entsprechend dem heutigen Erkenntnisstand neu durchdacht werden. Dies gilt im vorliegenden Band vor allem für die Studien zur Ästhetik und Poetik der Stürmer und Dränger sowie zu den von ihnen bevorzugten Gattungen und Genres der Dichtung (Lyrik, Drama, Roman, Idylle). Sogar ein durch seine Rezeptionsgeschichte problematisch gewordenes Thema wie die so genannten Kraftkerle des Sturm und Drang vermag überraschende Einblicke zu eröffnen, wenn es systemtheoretisch und sozialhistorisch als Problem der gesellschaftlichen Modernisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden wird.

Neben solchen, nur auf den ersten Blick traditionell literaturgeschichtlich erscheinenden Fragestellungen, machen die Beiträger des Bandes theoretische und methodische Forschungsansätze fruchtbar, die aktuell in der literaturwissenschaftlichen Diskussion als besonders innovativ gelten. Dass die Diskursgeschichte und die ‚Poetik des Wissens‘ auch für die Erforschung des Sturm und Drang ein hohes Erkenntnispotential besitzen, zeigen im vorliegenden Band speziell die Studien zum Verhältnis von Literatur, Physiognomik und Theologie, zur Frage der Geschlechterkodierung, zum Bedingungsverhältnis von anthropologischem und literarischem Diskurs sowie zur Wissenszirkulation zwischen Jurisprudenz und Literatur. Einen anderen Ansatz, nämlich die Kultur- und Literatursoziologie Pierre Bourdieus verfolgen dagegen zwei Beiträge, die die Positionierungen der Stürmer und Dränger im ‚literarischen Feld‘ der 1770er Jahre untersuchen und dabei auf die Funktion bestimmter Schreibformen und Medienstrategien eingehen. Ergänzt werden sie durch einen Beitrag zu der am Ende des 18. Jahrhunderts aufbrechenden Dialektik von Kunst- und Unterhaltungsliteratur im Literatursystem, als deren Präzedenzfall Goethes Erfolgsroman Die Leiden des jungen Werthers analysiert wird.

Mit seiner Konzentration auf repräsentative Autoren und kanonische Texte auf der einen Seite und seinem Spektrum von unterschiedlichen Perspektiven der Forschung auf der anderen Seite ist der vorliegende Band bestens geeignet, eine allgemeine Einführung1 in die Literatur des Sturm und Drang zu ergänzen und einzelne Themen zu vertiefen. Er ist für das Universitätsstudium ebenso nützlich wie für den Schulunterricht. Die verständlich geschriebenen Beiträge sind von einem aufwändigen Anmerkungsapparat, der Band insgesamt vom Versuch einer thematischen Bibliographie entlastet. Die Anmerkungen liefern aber die nötigen Hinweise auf zentrale Forschungsbeiträge und weiterführende Literatur.

Anmerkungen

1 Vgl. Matthias Buschmeier/Kai Kauffmann: Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik. Darmstadt 2010. Besonderer Dank gilt Marco Heitkämper für die Erstellung des druckfertigen Manuskriptes.

Sturm und Drang

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