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Satirisches Panorama des literarischen Feldes: Lenz’ Pandämonium Germanicum

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Zur gleichen Zeit, als andere Stürmer und Dränger für Goethes Werther eintraten, wurde aus ihrer Gruppe die mit Götter, Helden und Wieland begonnene Polemik gegen Wieland fortgesetzt. Auch das war Goethe nicht recht, der nach seinem Aufstieg zum ‚Star‘ der Literaturszene kein Interesse mehr hatte, Wieland öffentlich zu bekriegen. Einen besonderen Furor gegen Wieland entwickelte Lenz, wohl nicht zuletzt, weil sein Ärger darüber, dass er im Gegensatz zu Goethe kaum Anerkennung als Dichter fand, eine Zielscheibe suchte. Da er an der Idealisierung Goethes festhielt, konzentrierte sich seine Aggression auf Wieland. Im Zeitraum der Jahre 1774 bis 1775 schrieb er gegen Wieland die satirischen Gedichte Menalk und Mopsus und Éloge de Feu Monsieur **nd sowie das aristophanische Stück Die Wolken, dessen Manuskript unter den Freunden kreiste, bis Lenz – gegen den Rat von Goethe, Schlosser, Lavater und anderen – das Stück an der Jahreswende 1775/76 drucken ließ, es aber dann doch nicht veröffentlichen wollte. Dass Lenz auch das im Frühjahr 1775 entstandene Stück Pandämonium Germanicum, seine umfassendste Literatursatire, nicht publizierte, hatte wieder mit dem Widerstand Goethes zu tun. Nach einem Gespräch in Straßburg gab ihm Lenz das schriftliche Ehrenwort, das Stück werde niemals das Licht der Welt erblicken (vgl. Lenz, S. 739).24

Das in Manuskriptform überlieferte Pandämonium Germanicum ist ein satirisches Panorama des literarischen Feldes in Deutschland, das die aktuelle, durch das Genie Goethe und die Bewegung des Sturm und Drang grundlegend veränderte Situation des Jahres 1775 schildert. In den ersten beiden Teilen des Dreiakters treten einzelne Akteure des literarischen Feldes in unterschiedlichen Konstellationen auf. Im ersten Akt steigen Goethe und Lenz einen steilen Berg (den Olymp der Dichtung) hinauf, wobei Goethe leichtfüßig voraneilt, während Lenz auf allen Vieren hinterherkriecht. Gemeinsam blicken die beiden aber auf die Gruppen der „Nachahmer“, der „Philister“ und der „Journalisten“ herab, die bereits am Fuße des Berges erbärmlich scheitern. Wenngleich die „Journalisten“ den Dichter Goethe als größtes Genie aller Völker und Zeiten preisen und die Parolen des Sturm und Drang nachplappern, verstehen sie doch nichts vom Wesen des Künstlers und der Bedeutung der Kunst (vgl. Lenz, S. 255). Der zweite Akt versammelt im „Tempel des Ruhms“ jene Schriftsteller, die das mittelmäßige Niveau der deutschen Literatur vor dem Erscheinen der Stürmer und Dränger repräsentieren. Der Reihe nach kommen Hagedorn, Lafontaine, Gellert, Rabener, Liscow, Rost, Gleim, Uz sowie Wieland und Ja[k]obi zu Wort, bejubelt von den deutschen Kunstrichtern und Literaturliebhabern, belächelt aber von den französischen Kritikern, an deren Vorstellungen von den beaux arts und belles lettres man sich sklavisch orientiert. Den größten Raum erhält, seinem Renommee entsprechend, Wieland, der allerdings den lyrischen Wettstreit mit Jakobi um die Gunst des weiblichen Publikums verliert. Als Goethe auftaucht und Wieland die (verstimmte) Leier aus der Hand nimmt, sind Wieland und Jakobi die ersten, die vor dem wahren Dichter in die Knie sinken. In einer eigens den „Dramenschreibern“ gewidmeten Szene wird Weisse von den Kritikern Schmidt und Michaelis umschmeichelt und, obwohl er ständig den französischen „Soubrettenton“ anschlägt, als „deutscher Shakespear“ bezeichnet (Lenz, S. 266f.). Diese Peinlichkeit beenden die eintretenden Freunde Lessing, Klopstock und Herder, die, nachdem sie Shakespears Geist herbeigerufen haben, in einem Winkel des Raums das „Bübchen“ Lenz entdecken. Die von ihm nach dem Maßstab der alten Tragödien entworfenen Menschenfiguren findet Herder allerdings „viel zu groß für unsre Zeit“, worauf Lenz antwortet: „So sind sie für die kommende. Sie sehn doch wenigstens ähnlich. Und Herr! die Welt sollte doch auch itzt anfangen, größere Leute zu haben als ehemals.“ (Lenz, S. 269) Die Szene – und der zweite Akt – endet damit, dass Lessing, Herder und Klopstock über Lenz, den ‚braven Jungen‘, urteilen: „Leistet er nichts, so hat er doch groß geahndet“, und der von hinten herbeispringende Goethe ausruft: „Ich will’s leisten.“ (Lenz, S. 270) Der dritte Akt besteht nur aus einer einzigen, mit „Gericht“ betitelten Szene, einem nächtlichen Gespräch unterschiedlicher Geister über die Wissenschaften und Künste. Der „Ewige Geist“ preist Klopstock und Herder als diejenigen Autoren, die im gegenwärtigen Jahrhundert den richtigen Weg zur Kunst gewiesen hätten. Im Abspann erwacht Lenz, ähnlich wie Wieland in Götter, Helden und Wieland, aus seinem Traum und fragt, ob er das kommende Säkulum rufen solle. So deutet er vage die Möglichkeit an, dass er selbst der Wegweiser für die Zukunft sein könne.

Das Pandämonium Germanicum, das sich noch am ehesten mit der Beschreibung des Literaturbetriebs in Nicolais Sebaldus Nothanker vergleichen lässt, ist unter den Literatursatiren des Sturm und Drang ein einzigartiger Text. In der Form eines Schauspiels liefert Lenz eine umfassende Analyse des literarischen Feldes in Deutschland um das Jahr 1775, eine Analyse, die die wichtigsten Autoren mit ihren jeweiligen Kunstauffassungen und Literaturgenres schildert, ihre Allianzen und Konkurrenzen verzeichnet sowie die Beziehungen zwischen Autoren, Kritikern und Publikum darstellt. Neben den individuellen Positionen der Autoren werden auch generelle Mechanismen des literarischen Feldes herausgearbeitet. Aber damit nicht genug. Das Pandämonium Germanicum ist nicht nur ein präzises Tableau der aktuellen Verhältnisse innerhalb des deutschen Literaturbetriebs. Vielmehr erfasst es die historischen Veränderungen, die durch das Auftreten der Stürmer und Dränger bewirkt worden sind. Das literarische Feld wird nicht als ein statischer Zustand, sondern als ein dynamischer Prozess dargestellt, der von der überholten Konstellation der Aufklärer und Empfindsamen über den soeben errungenen Triumph des Stürmers und Drängers Goethe in eine noch nicht klar absehbare Zukunft der deutschen Dichtung führt.

Eine solche Beobachtungsweise, die die Literatur als ein soziales Feld konkurrierender Akteure und als einen historischen Prozess der künstlerischen Innovation wahrnimmt, konnte sich (in Deutschland) erst in den 1770er Jahre entwickeln. Dass später diese Jahre als ‚Epoche‘ des Sturm und Drang bezeichnet wurden, besitzt aus literatursoziologischer Sicht eine Berechtigung, weil die Art, wie die Stürmer und Dränger als künstlerische Avantgarde agierten, paradigmatisch für die neue Handlungslogik des literarischen Feldes war. Insofern haben die Stürmer und Dränger wirklich Epoche gemacht.

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