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Polemische Literaturkritik im Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen

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Mit Goethes Eintreffen in Straßburg, im April 1770, begann die Formierung eines literarischen Freundeskreises, zu dessen Treffpunkten in den nächsten Jahren auch Frankfurt, Darmstadt, Gießen sowie Zürich gehörten. Mit Ausnahme von Herder, der seit 1767 als Schriftsteller kontinuierlich publizierte, beschränkten sich die Angehörigen dieses Kreises zunächst auf die interne Kommunikation, wobei auch eigene Texte vorgestellt und diskutiert wurden. So trug Goethe seine Rede Zum Schäkespears Tag, die heute als frühe Programmschrift des Sturm und Drang gelesen wird, bei einer kleinen Feier im Frankfurter Zirkel vor. Der Aufsatz Von deutscher Baukunst, den der Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck im November 1772 als einen anonym erscheinenden Einzeldruck in Auftrag gab, war das erste selbstständig veröffentlichte Werk Goethes.

Der erste von einigen Freunden gemeinsam unternommene Schritt in die literarische Öffentlichkeit war die Anfang 1772 erfolgte Übernahme der Redaktion der Frankfurter gelehrten Anzeigen, die zunächst von Merck, dann, von Juli bis Dezember 1772, von Johann Georg Schlosser geleitet wurde. Neben Merck und Schlosser zählten Goethe und Herder sowie eine Handvoll weiterer Jungautoren zu den regelmäßigen Beiträgern dieses reinen Rezensionsorgans. Zu den Besonderheiten des von den Stürmern und Drängern gestalteten Jahrgangs 1772 gehörte, dass zumindest ein Teil der Besprechungen kollektiv entstanden ist. Rückblickend berichtet Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit über das gemeinsame Rezensieren: „Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referierte, manchmal fand sich ein Korreferent; die Angelegenheit ward besprochen, an verwandte angeknüpft, und hatte sich zuletzt ein gewisses Resultat ergeben, so übernahm Einer die Redaktion.“ (MA 16, S. 585)

Alle Rezensionen erschienen ohne Verfasserangabe in der Zeitung. Dies war für die Rezensionsorgane der Aufklärung keineswegs ungewöhnlich. Die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die sich selbst als Forum der gesamten Gelehrtenrepublik verstand, begründete die Anonymität mit dem aufklärerischen Prinzip, es komme beim Rezensieren nicht auf das Ansehen der Autoren, sondern die Überzeugungskraft der Argumente an. Dass der Verzicht auf die Angabe einzelner Verfasser in den Frankfurter gelehrten Anzeigen einen anderen, strategischen Sinn hatte, nämlich diese Zeitung als das gemeinsame Organ einer bestimmten Gruppe erscheinen zu lassen, die eine neue Richtung der Literatur proklamiert, wurde den Lesern durch den Stil der Besprechungen deutlich gemacht. Die Redaktion maßte sich polemische Urteile über die bestehende Literatur mit ihren verschiedenen Spielarten an und wagte es zugleich, neue Richtlinien zu postulieren. Dass hier eine offenbar kleine Gruppe von weitgehend unbekannten Autoren, aus deren Chor man nur die Stimme Herders heraushören konnte, so unerhört frech auftrat, brachte die Frankfurter gelehrten Anzeigen ins Gespräch der literarischen Öffentlichkeit. Obwohl die Zeitung eigentlich kein großes Verbreitungsgebiet besaß, redete man über sie bald in ganz Deutschland.

So schrieb am 13. Oktober 1772 der Leipziger Schriftsteller Christian Felix Weisse an seinen Ansbacher Freund und Kollegen Johann Peter Uz:

Kennen Sie schon die gel. Zeitung von Frankfurth am Main? Unter vielen guten und richtigen Urtheilen kommt viel Wunderbares und Eigenes darin zum Vorschein: richterliche, partheyische Aussprüche, und wehe dem, den ein Verdammungsurtheil trifft! Man richtet alles nach einer besondern Theorie, redet beständig von Ideal und Intuitionsgefühle. Kein Gedicht ist ein wahres Gedicht, was nicht Handlung hat, d. i. kein Drama ist, kein Drama aber gut, was nicht mit Leib und Seele Shakespear ist. Nach dieser Theorie werden selbst Gessners Idyllen verworfen. Unter den Deutschen ist Niemand Dichter als Gerstenberg, Klopstock, Lessing und Wieland. […] Wir hier halten alle für einen der Hauptverfasser Herdern, denn seine Sprache verräth ihn.9

Erstaunlich präzise fasst Weisse eine Reihe von Urteilskriterien und Leitprinzipien, die in den Rezensionen wiederkehren, zusammen, obwohl die Beiträger der Zeitung gerade keine zusammenhängende Theorie der Ästhetik formuliert haben. Am ehesten zeichnet sich in den beiden großen (von Merck bzw. Goethe verfassten) Besprechungen von Johann Georg Sulzers Allgemeinen Theorie der schönen Künste ab, was das – Sulzers Geschmacksästhetik widersprechende – Programm einer aus der eigenen Künstlertätigkeit gewonnenen Genieästhetik sein könnte. In der ersten Rezension vom 11. Februar 1772 heißt es über Sulzers Werk: „Es enthält dieses Buch Nachrichten eines Mannes, der in das Land der Kunst gereist ist; allein er ist nicht in dem Lande geboren und erzogen, hat nie darin gelebt, nie darin gelitten und genossen. Nur Observationen, aber nicht Experimente hat er angestellt.“10 Die zweite Rezension vom 18. Dezember 1772 spricht das ausschließliche Interesse am Künstler und seinem Schaffen noch schärfer aus und scheut nicht davor zurück, die Kunstliebhaber als ‚gaffendes Publikum‘ zu beleidigen, obgleich diese Schmähung letztlich auch die Leser der Frankfurter gelehrten Anzeigen trifft.11 An anderer Stelle wird das Publikum als verächtlicher Haufen beschimpft. Dieses Maß an Unverschämtheit ist freilich ein Extrem in den Frankfurter gelehrten Anzeigen.

Zum charakteristischen Stil der meisten Rezensionen, durch den sie sich von den bekannteren Zeitschriften der Aufklärung abhoben, gehörte jedoch das pointierte, weniger argumentativ begründete als emotional ausgedrückte Urteil über den jeweiligen Gegenstand, genauso wie der polemische Vortrag, bei dem auch die Mittel der Ironie und der Parodie eingesetzt wurden. Wenn es um die Erledigung von Nichtswürdigkeiten ging, reichte zuweilen auch ein einziger Satz, wie im Fall der Schrift Über die Mode und seine Folgen: „Der Verf. sollte sein Talent, Küchenzettel zu verfertigen, das ihm S.22 in seiner Ehe gute Dienste leistet, zu seiner einzigen Beschäftigung machen.“12 Normalerweise gaben sich die Rezensenten mit solcher Buchmarktware gar nicht ab.

Sieht man den gesamten Jahrgang 1772 daraufhin durch, welche der damals bekannteren Schriftsteller und Dichter überwiegend kritisch beurteilt werden, so fallen einem nur die Artikel über Haller, Geßner und Johann Georg Jakobi auf. Während Haller, dem großen Gelehrten aus einer deutlich älteren Generation, in einer Rezension seines Romans Usong jegliches Talent als Dichter abgesprochen wird, tadelt der (von Goethe verfasste) Artikel über Geßners Idyllen, dass seine idealisierten Figuren bloße Projektionen schöner Empfindungen seien, denen es genauso wie den Handlungen der Idyllen an realem, tätigem Leben fehle. Jakobi, der zu Beginn des Jahrgangs als Verfasser schön empfundener und fein ziselierter Poesien gelobt wird, bekommt später mehrfach bescheinigt, seine öffentliche Selbststilisierung als schöne, zärtliche und verletzliche Seele sei unerträglich. Indirekt fällt der Vorwurf fehlender Männlichkeit, will heißen: mangelnder Tat- und Zeugungskraft, auf die empfindsame Dichtung Jakobis zurück. Abgesehen von diesen Angriffen, beschränkt sich die Polemik gegen bekanntere Schriftsteller und Dichter auf gelegentliche Mäkeleien oder Sticheleien. Da in den Frankfurter gelehrten Anzeigen an anderen Stellen „Klopstock, Kleist, Wieland, Geßner, Gleim, Lessing, Gerstenberg“, aber auch – in einer Rezension des Göttinger Musenalmanachs – Ramler, Denis und Claudius sowie, mit Abstrichen, Zachariae, Gotter, Blum und Eschenburg als echte Dichter gerühmt werden,13 muss konstatiert werden, dass die Stürmer und Dränger im Jahrgang 1772 noch kaum versucht haben, die zu dieser Zeit renommierten Schriftsteller als Repräsentanten anderer, falscher Literaturauffassungen direkt zu attackieren.

Die in den folgenden Jahren entstehenden Literatursatiren sind deutlich aggressiver. Denn hier kommt es nicht nur zu Rundumschlägen, die allgemein den schlechten Zustand der deutschen Literatur und den falschen Geschmack des Publikums treffen sollen, sondern auch zur persönlichen Verhöhnung einzelner Autoren, wobei ausgerechnet Wieland, der in den Frankfurter gelehrten Anzeigen wiederholt als – neben Klopstock – größter deutscher Dichter der Gegenwart hervorgehoben worden war, zum Hauptgegner wird.

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