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Zur Vorgeschichte der Literatursatiren des Sturm und Drang
ОглавлениеIn ihrem Buch über die Satiren des Sturm und Drang beschreibt Franziska Herboth auch die Vorgeschichte der Satire – oder richtiger: der satirischen Schreibart – in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts.14 In diesem Zusammenhang betont sie mit Recht, dass die in der aufklärerischen Theorie fundamentale Unterscheidung zwischen der allgemeinen, die Schwächen der Menschen tadelnden Satire und dem personalisierten, die Fehler eines einzelnen Menschen bloßstellenden Pasquill in der schriftstellerischen Praxis nicht immer Bestand hatte. Gerade der neben Rabener bekannteste deutsche Satiriker in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Christian Ludwig Liscow, überschritt wiederholt die Grenze zum Pasquill, so z.B. in der 1734 erschienenen Schmähschrift Eines berühmten Medici glaubwürdiger Bericht von dem Zustande, in welchem er den (S.T.) Hrn Prof. Philippi den 20ten Junii 1734 angetroffen. Gleichwohl war in der aufklärerischen Literatur die allgemeine Satire weit häufiger anzutreffen.
Die literaturgeschichtliche Darstellung Herboths lässt sich um einen für das Thema dieses Aufsatzes wichtigen Punkt ergänzen: In der deutschen Aufklärung gibt es bis 1770 relativ wenige Literatursatiren. Zwar ist neben dem allgemeinen Genre der Moral- und Sittensatire auch das spezielle Genre der Gelehrtensatire gut vertreten, in der der Typus des einsamen Stubengelehrten mit seiner nutzlosen Wissensanhäufung kritisiert wird.15 Doch Satiren, die die Literatur im engeren Sinn zum Gegenstand machen, also z.B. bestimmte Theorien von Dichtung oder Arten der Poesie, Moden des literarischen Geschmacks oder gar einzelne Autoren mit ihren literarischen Werken thematisieren, findet man vor 1770 nicht eben häufig. Zu nennen sind vor allem die Satiren und Parodien, die zur literaturpolitischen Auseinandersetzung zwischen den ‚Leipzigern‘ um Gottsched und den ‚Zürichern‘ um Bodmer und Breitinger gehören. Bekanntlich stritten sich die beiden Lager um die Frage, ob das ‚Wunderbare‘ in der Dichtkunst zugelassen sei. Aber natürlich rangen sie zugleich um die Vorherrschaft in der literarischen Öffentlichkeit. Im Jahr 1741 veröffentlichte Johann Joachim Schwabe, ein Anhänger Gottscheds, anonym das satirische Epyllion Der deutsche Dichterkrieg, auf das Bodmer unverzüglich mit dem kleinen Versepos Complott der herrschenden Poeten und Kunstrichter antwortete. Bodmer, der – abweichend von der üblichen Auffassung der aufklärerischen Poetik – die personalisierte Satire in bestimmten Fällen für erlaubt hielt, wenn sie nicht der bürgerlichen Ehre des Angegriffenen schade, verspürte vielleicht auch deshalb weniger Hemmungen als seine Zeitgenossen, in literaturpolitischen Streitigkeiten das Mittel der Satire und Parodie zu verwenden. Das gilt nicht nur für den Kampf gegen Gottsched, den er unter anderem mit seiner Schrift Gottsched oder der parodierte Cato (1765) weiterführte, sondern auch für die Fehde mit Johann Peter Uz, dessen anakreontische, den Genuss von Wein und Liebe besingende Poesie er 1751 in der Ode Die Sänger des Weins parodistisch zu einem Lob des Wassertrinkens verkehrte.16 Uz schlug 1753 mit seinem Epyllion Sieg des Liebesgottes zurück, indem er in der Nebenfigur des Dichters Cleanth die Versuche Bodmers verspottete, die Gattung des großen Versepos mit biblischen Stoffen in christlichem Sinn wiederzubeleben. Im weiteren Verlauf der Fehde, an der sich übrigens auch der junge Wieland mit wüsten Pamphleten gegen Uz beteiligte, wurde wiederum der Sieg des Liebesgottes von anderen Parteigängern Bodmers gleich mehrfach parodiert.
Trotz der angeführten Beispiele, die sich sicherlich um den einen oder anderen Fall vermehren ließen, bleibt für die Zeit vor 1770 festzuhalten, dass in Deutschland die Literatursatire kein häufig genutztes Mittel der Auseinandersetzung war. Lessing und Nicolai, die sich in den 1750er und 1760er Jahren ihre Position als führende Literaturkritiker erarbeiteten, schrieben, vom aufklärerischen Gebot des vernünftigen Argumentierens geprägt, zwar teilweise scharfe Streitschriften; Literatursatiren zählten aber nicht zu ihrem Waffenarsenal. Signifikanterweise änderte sich das bei Nicolai in den 1770er Jahren, als er unter anderen gegen die Stürmer und Dränger zu Felde zog.