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Der Herausforderer greift an: Goethes Götter, Helden und Wieland

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Es ist anzunehmen, dass die von Goethe im Herbst 1772 geschriebene Satire Das Unglück der Jakobis die Einwände, die in den etwa gleichzeitig veröffentlichten Rezensionen der Frankfurter gelehrten Anzeigen gegenüber der Empfindsamkeit Johann Georg Jakobis formuliert worden sind, in eine poetischere Form transponiert hat. Warum von Goethe das Stück wenig später vernichtet worden ist, entzieht sich der Kenntnis. Vielleicht scheute er zu diesem Zeitpunkt noch, die satirisch zugespitzte, wenn nicht direkt beleidigende Auseinandersetzung mit einem der beliebtesten deutschen Schriftsteller in Umlauf zu bringen.

In den zu Beginn des Jahres 1773 verfassten Stücken Jahrmarktsfest zu Plundersweilen und Ein Fastnachtsspiel von Pater Brey führte er zwar in drastischer, stellenweise skatologischer Weise vor, dass manche Hohepriester der Empfindsamkeit bloß auf die Befriedigung ihrer niederen Machtgelüste und Liebesbegierden aus sind. Es handelte sich jedoch um Maskenspiele. Und diese funktionierten in ihrem ursprünglichen Produktions- und Rezeptionszusammenhang, dem Darmstädter Freundeskreis Goethes, anders als nach ihrer Drucklegung für das Lesepublikum. Von den Freunden konnten die Hauptfiguren der Stücke auf Personen aus dem eigenen Kreis, etwa den – von Goethe, Herder und Merck als Statthalter Jakobis betrachteten – Franz Michael Leuchsenring bezogen werden. Die beiden Satiren dienten Goethe im internen Zusammenhang nicht nur dazu, die eigene Auffassung des richtigen Fühlens und Dichtens gegenüber einer falschen Richtung der Empfindsamkeit zu festigen, sondern zielten auch darauf, den Einfluss einer bestimmten Person auf die Freunde und Freundinnen zurückzudrängen bzw. diese Person aus dem Kreis zu entfernen.

Als die beiden Stücke 1774 in dem Sammelband Neueröffnetes moralisch-politisches Puppenspiel veröffentlicht wurden, war das Lesepublikum nicht in der Lage, das Maskenspiel als persönliche Satire zu durchschauen. Allenfalls ließen sich einzelne Figuren und manche Stellen als eine allgemein gehaltene Polemik gegen die Empfindsamkeit deuten. Das Zurücktreten der persönlichen Satire eröffnete den Lesern umgekehrt die Möglichkeit, die beiden Stücke stärker als poetische Produkte des Sturm und Drang zu rezipieren. Im Kontrast zu den empfindsamen Figuren, deren Rede- und Handlungsweisen karikiert werden, wird die Kraftfülle der volkstümlichen Sprach- und Spielformen deutlich, die Goethe erneuert. Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilen und das Fastnachtsspiel von Pater Brey gehen über eine satirische Kritik der Empfindsamkeit weit hinaus, indem sie performativ die Überwindung der Empfindsamkeit durch ihre neuartige Sprach- und Formpoetik demonstrieren. Von daher ließe sich sagen, dass sie gegenüber der Öffentlichkeit als poetische Modelle für das Programm des Sturm und Drang fungierten.

Götter, Helden und Wieland, die satirische „Farce“, in der Goethe sich frontal gegen den renommiertesten Dichter dieser Zeit wandte, entstand ein Jahr nach dem Unglück der Jakobis im Herbst 1773. Durch den großen Erfolg des Götz von Berlichingen war Goethe inzwischen selbst zu einem bekannten Dichter geworden und mag sich stark genug gefühlt haben, um sogar Wieland herauszufordern. Im Nachhinein hat Goethe behauptet, er sei von Jakob Michael Reinhold Lenz überredet worden, das Stück zu publizieren (vgl. MA 16, S. 693). Letztlich stimmte er der im Frühjahr 1774 erfolgenden Drucklegung zu und eröffnete so den satirischen Feldzug, den die Stürmer und Dränger gegen Wieland unternahmen.

Was Goethe zu Götter, Helden und Wieland veranlasste, ist in kommentierten Werkausgaben so genau nachzulesen, dass hier einige Stichworte genügen. Zum Einen hatte sich Goethe über kritische Randnotizen zu Wielands Shakespeare-Übersetzungen geärgert, in denen ästhetische Geschmacklosigkeiten des ansonsten als großartiger Künstler gerühmten (und eben zum ersten Mal ins Deutsche übertragenen) Engländers getadelt werden. Für die Stürmer und Dränger, die Shakespeare als gottgleiches Genie verehrten, waren diese kritischen Einwände ein Sakrileg. Zum Anderen war Goethe übel aufgestoßen, wie sich Wieland in seinen Briefen an einen deutschen Freund über das deutsche Singspiel (1773) über Euripides, den griechischen Dichter, erhoben und sich angemaßt hatte, er, Wieland, habe in der eigenen Alceste (1773) den Stoff von seinen antiken Barbarismen befreit und in eine dem heutigen Stand der Humanität entsprechende Fassung gebracht.

Goethe legt die Farce als eine komische Travestie in der antikisierten Form eines Totengesprächs an. Im Unterreich, dem – eine besondere Invektive – der karikierte Autor eigentlich noch nicht angehört, lässt er Wieland auf Euripides und die Figuren der Alkestis bzw. Alceste treffen. Am Ende entpuppt sich das Totengespräch als ein Traum, der Wieland im Schlaf heimgesucht hat. – Der Höhepunkt des Stücks ist die Begegnung mit Herkules, der sich über seine Behandlung in Wielands Singspiel beklagt, nämlich die Umgestaltung des kraftstrotzenden Halbgotts zu einem empfindsamen, mit Alzeste und Admet trauernden Menschen voller moralischer Tugenden:

HERKULES Bin ich dir als Zwerg erschienen?

WIELAND Als wohlgestalter Mann, mittlerer Größe tritt mein Herkules auf.

HERKULES Mittlerer Größe! Ich!

[…]

WIELAND Wahrhaftig ihr seid ungeheuer. Ich hab mir euch niemals so imaginiert.

HERKULES Was kann ich davor daß er so eine engbrüstige Imagination hat. Wer ist denn sein Herkules auf den er sich so viel zu Gute tut? Und was will er? Für die Tugend! Was heißt die Devise? Hast du die Tugend gesehen, Wieland? Ich bin doch auch in der Welt herumgekommen und ist mir nichts so begegnet.

WIELAND Die Tugend für die mein Herk[ules] alles tut, alles wagt, ihr kennt sie nicht! (MA 1.1, S. 690)

Während Wieland, wenn auch nur halbherzig, den Tugendbegriff des gegenwärtigen, aufgeklärten Jahrhunderts vertritt, beschwört Herkules die Lebenskraft großer „Kerls“, wie es sie zu seiner Zeit gegeben habe (vgl. MA 1.1, S. 691). Goethe macht Herkules so zum Sprachrohr der Kraft-Philosophie und Kraft-Poetik des Sturm und Drang.

Die literaturwissenschaftlichen Kommentatoren haben nachgewiesen, dass Götter, Helden und Wieland fortwährend auf Wielands Werke anspielt oder aus diesen zitiert. Noch nicht genügend betont wurde jedoch, dass sich Goethe mit dem Schreiben einer komischen Travestie in dialogischer Form auf das Terrain seines Gegner begab und ihm dort Konkurrenz machte. Seit den Comischen Erzählungen (1762ff.), die selbst auf das Vorbild des – später von Wieland vollständig übersetzten – griechischen Autors Lukian verwiesen, war Wieland für diese spielerische Art der Mythen-Umschreibung und Antike-Rezeption bekannt. Indem Goethe seinerseits die Wielandsche Dichtart in der Lukianschen Form des Totengesprächs adaptierte, versuchte er zu zeigen, dass er dem Gegner sogar auf dessen eigenem Gebiet an dichterischer Kraft und geistigem Witz überlegen war. Die Virtuosität dieser Waffenübung führte freilich nicht zur öffentlichen Niederlage des Gegners. Und sie ließ das eigentliche, künstlerische Problem ungelöst, das Goethe bei Wieland aufgedeckt hatte, an dem er aber auch selbst laborierte. Die bereits in der ‚Querelle des anciens et des modernes‘ diskutierte Frage, wie die zivilisierte Gesellschaft der Moderne mit der mythisch geprägten Welt der Antike künstlerisch umgehen solle, ließ sich nicht durch die polternde und so wieder komisch wirkende Figur des Herkules mitsamt seiner großmäuligen Forderung nach „Kerls“, die in einer Nacht fünfzig Kinder machen, ernsthaft beantworten. Für das Problem der Antike, mit dem der junge Goethe unter anderem bei seinen Entwürfen zu einem Prometheus-Drama konfrontiert war, fand er während der Zeit des Sturm und Drang keine Lösungen, die über kurze, zu prägnanten Bildern kondensierte Gedichte (Prometheus, Ganymed) hinausgereicht hätten. Als er Ende der 1770er Jahre den griechischen Tragödienstoff der Iphigenie auf Tauris bearbeitete, schwenkte er weitgehend auf die Linie von Wielands Alceste ein und legte gleichfalls eine humanisierte Fassung mit singspielartigen Zügen vor.

Kehrt man nach diesem problemgeschichtlichen Exkurs zu Götter, Helden und Wieland zurück und fragt wieder literatursoziologisch nach Goethes Wirkungsabsicht, so ist klar, dass Wieland in den Augen des Publikums als ein Dichter von geringer Imaginationskraft erscheinen sollte, der seinen Vorrang in der literarischen Öffentlichkeit nicht verdient. Klar ist auch Goethes Absicht, sich selbst als ein Dichter von ungleich stärkerer Imaginationskraft zu präsentieren. Er konnte davon ausgehen, dass das Publikum die anonym erschienene Farce dem namentlich bekannten Autor des Götz von Berlichingen zuschreiben würde, zumal die Rede von den großen „Kerls“ eine auffällige Verbindung zwischen der Herkules-Figur und der Götz-Gestalt herstellte. Wenn Goethe aber geglaubt haben sollte, Wieland mit der Farce öffentlich schaden oder ihn zu einem direkten Schlagabtausch provozieren zu können, so hätte er sich getäuscht. Denn Wieland reagierte mit demonstrativer Gelassenheit. In dem von ihm seit 1773 herausgegebenen Teutschen Merkur, der führenden Literatur- und Kulturzeitschrift dieser Zeit, brachte er im Juni 1774 die kurze Notiz:

Wir empfehlen diese kleine Schrift allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witze, der sich aus allen möglichen Standpunkten sorgfältig denjenigen auswählt, aus dem ihm der Gegenstand schief vorkommen muß, und sich dann herzlich lustig darüber macht, daß das Ding so schief ist. (Zit. nach MA 1.1, S. 990)

Goethe musste die Souveränität von Wielands Haltung anerkennen und fürchtete nun umgekehrt, sich selbst vor dem Publikum „prostituiert“ zu haben. In den nächsten Jahren verzichtete er darauf, konkurrierende Autoren satirisch anzugreifen.

Wahrscheinlich hat Goethe im Sommer 1774 auch erkannt, dass für seine Position im literarischen Feld etwas anderes wichtiger war. Durch den Götz von Berlichingen hatte er als Dichter einer neuen Kunstrichtung öffentliches Aufsehen erregt, nun ging es darum, diese Position durch ein weiteres Kunstwerk abzusichern und auszubauen. Der Roman Die Leiden des jungen Werthers, an dem er arbeitete, erfüllte genau diese Funktion. In unserem Zusammenhang ist der Roman interessant, weil er einer Strategie folgte, die letztlich effektiver war als die satirische Polemik. Goethe verlagerte die Auseinandersetzung mit den moralischen und ästhetischen Normen der Aufklärung und der Empfindsamkeit in das Kunstwerk selbst, ja er vollzog mit der radikal abweichenden Poetologie des Romans die literaturpolitische Wende zu einer neuen Kunstauffassung. Ohne Mittel der Polemik zu verwenden, entfaltete das Kunstwerk eine ungleich größere provozierende Wirkung. Wie kein anderer Text seiner Zeit polarisierte der Werther das literarische Publikum und reizte Gegner zu scharfen Kritiken, Satiren und Polemiken. Am bekanntesten ist Friedrich Nicolais Parodie Freuden des jungen Werthers (1775) geworden, die, abgesehen von der Ridikülisierung einzelner Szenen des Werther, mit großer Ernsthaftigkeit über die gegen die Normen der Aufklärung verstoßende Moralität und Poetologie des Romans diskutiert und dabei die erzählerische „Meisterschaft“ anerkennt, aber auch die bedenklichen, weil den Leser berauschenden Effekte dieser Art von Kunst kritisiert.22 Auf Nicolais Parodie hat Goethe nur mit zwei nicht für die Publikation bestimmten Gedichten reagiert, in denen er seinen Ärger auf sehr derbe Weise abließ (vgl. MA 1.1, S. 263f.). Was die Öffentlichkeit betraf, so vertraute Goethe offenbar auf die künstlerische Kraft des Romans selbst, und der überwältigende Erfolg beim Lesepublikum festigte seine Position als führender Dichter der Gegenwart.

Bezeichnenderweise konnte sich nur Goethe diese Zurückhaltung erlauben. Andere Stürmer und Dränger nahmen für den Werther Partei, wohl in der Hoffnung, im Verbund mit Goethe ihre eigene, deutlich schwächere Position zu stärken. Während Lenz die Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers schrieb, deren geplante Veröffentlichung letztlich von Goethe unterbunden wurde, publizierten 1775 Merck und Heinrich Leopold Wagner ihre Verssatiren Pätus und Arria bzw. Prometheus, Deukalion und seine Rezensenten zur Verteidigung des Werthers gegen die Kritik. In Wagners Stück wird unter anderem Friedrich Nicolai als Orang Utan verulkt.23 Die Strategie, sich als Gruppe der Stürmer und Dränger hinter Goethe zu scharen und seinen Erfolg – mit Bourdieu gesprochen: sein symbolisches Kapital – zu vergemeinschaften, schlug fehl. Erstens war Goethe, sobald er sich als neuer ‚Star‘ in der literarischen Öffentlichkeit etabliert hatte, nicht mehr an seinen ehemaligen Mitstreitern interessiert; im Gegenteil fand er ihre Schützenhilfe schädlich für das eigene Fortkommen. Deswegen versuchte er sie abzuschütteln, als er auf den Spuren Wielands an den Fürstenhof nach Weimar ging. Zweitens trugen Autoren wie Lenz und Wagner, die die polemischen Kämpfe des Sturm und Drangs fortsetzten, gerade auf diese Weise dazu bei, dass sie in der literarischen Öffentlichkeit als bloße Nacheiferer Goethes wahrgenommen wurden, denen es aber im Gegensatz zu ihrem Vorbild an dichterischem Vermögen zu fehlen schien. Für Lenz war besonders fatal, dass sein anonym veröffentlichtes Drama Der Hofmeister zunächst nicht ihm, sondern Goethe zugeschrieben wurde: Der neben Goethe begabteste Dichter des Sturm und Drang stand in den Augen des damaligen Publikums ohne ein eigenes Werk da, das ihm die nötige Autorität für scharfe Attacken gegen andere Schriftsteller hätte verschaffen können. Da Goethe nicht nur die Publikation polemischer Texte, sondern auch dichterischer Werke seines ‚Freundes‘ verhinderte, hat er gewollt oder ungewollt alles getan, um Lenz als Konkurrenten auf dem literarischen Markt auszuschalten.

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