Читать книгу Sturm und Drang - Oliver Müller - Страница 16
Mercks Rhapsodie als Auftakt zu den Literatursatiren der Jahre 1772 bis 1775
ОглавлениеAbgesehen von zwei Schriften von Goethe und Lenz, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich noch in andere Kontexte gehören, begann die literatursatirische Produktion der Stürmer und Dränger um 1772/73.17 Goethe schrieb im Herbst 1772 die Satire Das Unglück der Jakobis, die er allerdings bald darauf vollständig vernichtete. Um den Jahreswechsel 1772/73 herum entstand Mercks Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt dem Jüngern. Im Laufe des Jahres 1773 verfasste Goethe dann eine ganze Reihe kleinerer Stücke mit literatursatirischen Zügen, welche aber teilweise nur für Eingeweihte zu erkennen waren: Jahrmarktsfest zu Plundersweilen, Ein Fastnachtsspiel von Pater Brey, Satyros oder der vergötterte Waldteufel, Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes. Das vorletzte in der Reihe, Götter, Helden und Wieland, ist allerdings eine klare Literatursatire, die nach ihrem Druck im März 1774 auch von der literarischen Öffentlichkeit so verstanden wurde.
Einer anderen Phase gehören die 1774/75 geschriebenen Literatursatiren von Lenz und Wagner an. Während Goethe nach dem öffentlichen Durchbruch als Dichter des Werther auf literatursatirische Angriffe verzichtete und sich sogar mit Wieland versöhnte, setzte Lenz mit den Gedichten Menalk und Mopsus und Éloge de Feu Monsieur **nd sowie der – sofort nach dem Druck eingestampften – Verskomödie Die Wolken die persönliche Polemik gegen Wieland fort. Dagegen rechnete Wagner in Prometheus, Deukalion und seine Rezensenten mit den unterschiedlichen Kritikern von Goethes Werther ab und reihte sich so öffentlich in die Phalanx der Stürmer und Dränger ein, die es aber zu diesem Zeitpunkt als geschlossene Gruppe gar nicht mehr gab. Das von Lenz wiederum nicht für die Publikation freigegebene Pandämonium Germanicum bildet insofern einen Abschluss, als es einen Überblick über die neue Rangordnung in der deutschen Autorszene gibt und dabei auch die unterschiedlichen Karriereverläufe von Goethe und Lenz selbst vermerkt. Spätere Literatursatiren von Lenz, Wagner und Maler Müller waren bloße Nachhutgefechte.
Mercks Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt dem Jüngern, ein Gedicht in 178 Knittelversen, erschien Anfang 1773 als anonymer Einzeldruck. Freilich machte Merck aus seiner Autorschaft kein besonderes Geheimnis. Am 11. Februar 1773 schrieb er Christoph Martin Wieland: „Die Rhapsodie ist von mir nach Swift“, und am 2. April desselben Jahres teilte er Friedrich Nicolai mit: „Die Rhapsodie ist von mir, u. beynahe, wie ich Ihnen nicht nöthig zu sagen habe, eine wörtliche Übersetzung von Swift.“18 Der Hinweis auf die Vorlage ist wichtig, denn tatsächlich ist Mercks Gedicht eine direkte Adaption von Jonathan Swifts On Poetry. A Rhapsody (1733). Wie eng sich Merck an Swift anlehnte, geht aus dem Vergleich der Gedichtanfänge hervor:
All Human Race wou’d fain be WitsAnd Millions miss, for one that hits.Young’s universal Passion, Pride, Was never known to spread so wide. Say, Britain, cou’d you ever boast, – Three Poets in an Age at most? Our chilling Climate hardly bears A Sprig of Bays in Fifty Years: While ev’ry Fool his Claim alledges, As if it grew in common Hedges.20 | Der Herren Poeten giebt es viel.Zehn fehlen, Einer trifft das Ziel.Mein liebes Deutschland hast du dennDrey Dichter auf einmal gesehn?Es trägt in funfzig Jahren kaumEin Sprößchen unser Lorbeerbaum.Doch greift darnach ein jeder ThorAls käms aus allen Hecken vor.19 |
Merck übernimmt von Swift das Grundschema des Gedichts. Auf die Klage, dass in der heutigen Zeit zu viele Menschen ohne das nötige Genie nach dem Ruhm des Dichters streben, folgen ironische Ratschläge, wie unbegabte Schriftsteller doch noch zu einem gewissen Erfolg gelangen können: nämlich entweder durch Lobeshymnen auf mächtige Fürsten oder aber durch Schmähkritiken auf bedeutendere Autoren. Bei Swift ist die Satire mit aktuellen Anspielungen auf den literarischen Betrieb und die politischen Verhältnisse in Großbritanien gespickt, es werden sogar wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beim Namen genannt. Merck geht nicht so weit. Zwar passt er an einigen Stellen die Schilderung des literarischen Marktes an die deutsche Situation um 1770 an, etwa indem er – abweichend von der Vorlage – bestimmte Genres der Dichtung aufzählt, die in Deutschland gerade Konjunktur haben.21 Merck vermeidet aber jede persönliche Anspielung auf einzelne Schriftsteller. (Und den politischen Schlussteil von Swifts Satire, der ironisch das englische Königshaus und die Ministerriege besingt, lässt er ganz beiseite.) So ist seine Rhapsodie eine allgemeine Satire auf den literarischen Markt, die gerade dann, wenn man sie mit Swifts Gedicht vergleicht, wenig konkret und völlig harmlos erscheint.
Dass Merck eine vierzig Jahre alte, in ihrer literaturpolitischen Frontstellung – besonders gegen die Fürsten-Panegyrik – nicht mehr aktuelle Vorlage aus England verwendete, ohne größere Anpassungen vorzunehmen, zeigt, wie wenig er auf die um 1770 virulenten Veränderungen auf dem deutschen Literaturmarkt zielte. Er fiel damit nicht nur hinter die polemischen Rezensionen aus dem Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen zurück, sondern wurde auch von den satirischen Schilderungen in Friedrich Nicolais Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker überholt, dessen erster Band wenige Wochen nach der Rhapsodie im Frühjahr 1773 erschien. Denn zum einen legte Nicolai in diesem Band eine umfassende Analyse des deutschen Buchmarktes mit seinen Mechanismen und Tendenzen vor, wie es niemand zuvor getan hatte. Zum anderen nutzte er den Roman für den gezielten Kampf gegen solche Genres der Schriftstellerei, die nach seinem Urteil den Fortgang der Aufklärung bedrohten, und nannte dabei auch Autorennamen und Buchtitel. Während er in den ersten beiden Büchern vor allem gegen dogmatische Glaubenslehren, pedantische Wissenskompendien und eine praxisferne Gelehrtenliteratur sowie gegen die fabrikmäßige Predigt- und Übersetzungsproduktion polemisierte, karikierte er im dritten Buch des ersten Bands und weiteren Teilen des Romans die empfindsame Mode in der zeitgenössischen Dichtung.
Die von Nicolai geschilderte Figur des Schöngeistes Säugling ist auf den empfindsamen Schriftsteller Johann Georg Jakobi gemünzt, der zur gleichen Zeit von Goethe und anderen Stürmern und Drängern angegriffen wurde. Wenn auch, geistesgeschichtlich betrachtet, die jeweilige Kritik unterschiedlich begründet war – in der übertriebenen Empfindsamkeit vermisste der Aufklärer Nicolai vernünftiges Denken und praktisches Handeln, der Stürmer und Dränger Goethe leidenschaftliches Fühlen und künstlerische Genialität –, so gab es in literatursoziologischer Hinsicht doch ein gemeinsames Motiv: Mit Jakobi wurde ein Repräsentant jener Literaturrichtung attackiert, der es um 1770 am erfolgreichsten gelang, ein größeres Lesepublikum zu erreichen. Die in eine Liebesgeschichte eingekleidete Literatursatire auf den Dichter Säugling, die als besonders unterhaltsame Nebenhandlung durch alle drei Bände des Sebaldus Nothanker geführt wird, dürfte übrigens entscheidend dazu beigetragen haben, dass Nicolais Fortsetzungsroman zu einem der größten Publikumserfolge der Jahre 1773–76 wurde. Im Sebaldus Nothanker ist die Literatursatire nicht nur ein Medium der Kritik an literarischen Konkurrenten, sondern zugleich ein Mittel, um selbst auf dem literarischen Markt zu reüssieren.
Weit mehr als Mercks Rhapsodie markierte Nicolais Roman den Übergang in eine neue Entwicklungsphase der literarischen Öffentlichkeit, die durch einen wachsenden Wettbewerb von Schriftstellern auf dem literarischen Markt und eine verschärfte Form der persönlichen Auseinandersetzung zwischen den Repräsentanten unterschiedlicher Richtungen und Auffassungen charakterisiert war. Nicolai, der nach der Veröffentlichung von Goethes Werther auch die Stürmer und Dränger polemisch bekämpfte, so wie sie ihn, den Anführer der Berliner Aufklärung, angriffen, gehörte gemeinsam mit ihnen zu den Wegbereitern dieser Entwicklung.