Читать книгу Sturm und Drang - Oliver Müller - Страница 9
Die Frankfurter gelehrten Anzeigen
ОглавлениеSchon seit 1736 existierten die Frankfurtischen Gelehrten Zeitungen – „ein offenbar nur regional verbreitetes Rezensionsorgan, ohne herausragendes Profil und ohne große Ausstrahlung“ –, doch kam es zur Jahreswende 1771/72 durch einen Eigentümer- und Herausgeberwechsel „zu einem markanten Einschnitt in der Geschichte der Zeitschrift: Sie wurde von einem noch jungen, ehrgeizigen und unternehmungslustigen Verleger, dem Frankfurter Johann Conrad Deinet, erworben“,53 der zur selben Zeit auch Goethes Essay Von deutscher Baukunst (1772) sowie 1773 den Götz von Berlichingen druckte, den er 1774 sogar in seinen Verlag übernahm.54 Infolge der Umstellungen erhielt das kritische Journal den neuen Namen Frankfurter gelehrte Anzeigen. Die Ergebnisse von Hermann Bräuning-Oktavios jahrzehntelangen Forschungen55 hat Hans-Dietrich Dahnke hinsichtlich des programmatischen Relaunches der Zeitschrift zusammengefasst:
[F]ür den Jahrgang 1772 zeichnete ein neues Rezensententeam verantwortlich, das in seiner Gänze zwar immer noch bunt gemischt war, insofern als ihm auch Beiträger alten Zuschnitts, mit traditionellen Meinungen und Methoden, zumal für Spezialdisziplinen angehörten, das aber in seinem Kern tatsächlich neu und frisch, ja wirklich noch weithin jung war: Neben dem 30-jährigen Chefredakteur Johann Heinrich Merck wirkten, um nur die wichtigsten der Mannschaft zu nennen, Johann Georg Schlosser, 32 Jahre alt, Johann Wolfgang Goethe, 22 Jahre alt, und Johann Gottfried Herder, 27 Jahre alt, dazu einige weitere solide und leistungsfähige Universitäts- und Schulmänner aus hessischen Landen mit. Diese jungen Leute, die in Abgrenzung und Erneuerung ziemlich übereinstimmende Positionen vertraten und in für damalige Verhältnisse ungewöhnlich enger und intensiver Weise zusammenwirkten, gaben dem neuen Jahrgang sein Profil und verhalfen ihm zu einem nachhaltigen, für ein Rezensionsorgan dieser Art ganz exzeptionellen Ruhm.56
Letzterer ist nicht zuletzt auf das scharfe Profil sowie auf die beherzte, häufig sogar provokante Taktik öffentlicher Aufmerksamkeitserregung zurückzuführen.
Dass die Frankfurter gelehrten Anzeigen in den zeitgenössischen medialen Auseinandersetzungen dezidiert Stellung bezogen, lässt sich etwa an den Rezensionen des Jahrgangs 1772 zu den konkurrierenden Musenalmanachen veranschaulichen. So schrieb Merck zum Jahrgang 1772 der Göttinger Sammlung enthusiasmiert:
Der Musenalmanach des Herrn Boie ist dieses Jahr das angenehmste Portefeuille für den wahren Kenner der deutschen Dichtkunst. So wohl im äussern als innern Werthe hat er sehr vieles vor den ersten beyden Jahrgängen voraus. […] Die Gedichte sind durch die ganze Sammlung sowol gewählt, daß man nicht ein einziges wegstreichen könnte, das ganz und gar schlecht wäre.57
Dagegen hatte sechs Wochen vorher eine nicht genau zuweisbare,58 kollektiv erstellte ‚Protokoll-Rezension‘,59 an der Merck offensichtlich ebenfalls beteiligt war, zum selben Jahrgang des Leipziger Konkurrenzunternehmens merklich verhaltener eingesetzt:
Es unterscheidet sich dieser Almanach von den vorigen darin, zu seinem Vortheil, daß weniger Anecdotensucht, weniger Unbescheidenheit gegen unsre besten Schriftsteller darin herrscht; allein dagegen ist auch die Sammlung der Gedichte ärmer und leichter an innerem Gewichte, und die Notiz poetischer Neuigkeiten mit gewöhnlicher Flüchtigkeit geschrieben.60
Dabei handelt es sich wohlgemerkt um den zweiten Jahrgang, der ohne ‚Diebstahl‘ aus der Göttinger Sammlung zusammengestellt worden ist.
Die wehleidigen „Klagen“ des Herausgebers und mittlerweile ordentlichen Gießener Universitätsprofessors Schmid „gegen den Wansbecker Boten, gegen den Deutschen und gegen den ganzen Trupp der Recensenten“ sowie die nachfolgende lobende Besprechung des ebenfalls von Schmid herausgegebenen Bandes Das Parterre (1771)61 werden ironisch quittiert: „Wir wollen die Recensenten der Notiz hier nicht widerlegen. Nur einige Anmerkungen werden uns unsere Leser erlauben. Wir finden das Parterre des Hrn. Dr. und Prof. Schmid in Gießen mit ungemeinem Glimpf und mit seinen Wendungen der Freundschaft getadelt.“62 Der Anspruch, die literarische Avantgarde der Zeit zu vertreten, geht aus der beiläufigen Bemerkung hervor, dass ein anakreontisches Gedicht auf das Landleben „um volle 30 Jahre zu spät kommt.“63 Demgegenüber lautet das Urteil über den Göttinger Musenalmanach mit einem doppelten Seitenhieb auf Schmid:
Im Ganzen macht […] diese Sammlung Deutschland Ehre, und wir hoffen, daß Herr Boie durch die Sorgfalt, womit er alles Schlechte zu entfernen sucht, künftig mehr wahre Dichter einladen werde, auch die in diesem Jahrgang noch mittelmäßige Produktion durch reichhaltigere Werke des Genies zu verdrängen. Wenn wird die Muse Deutschlands endlich ohne Rücksicht auf Parterr und Publikum dichten, nicht aufmerken, ob sie gehört wird, sondern ob sie begeistert ist!64
Aus diesen Worten, die in einer Abkehr von der überkommenen Wirkungsästhetik auf Genialität und Leidenschaft setzen, spricht bereits unüberhörbar die Poetik des Sturm und Drang.65
Literaturpolitische Bestätigung findet diese Diagnose in Mercks hymnischer Besprechung des Jahrgangs 1773 der Göttinger Sammlung:
Herr Boie hat uns mit seinem Musenalmanach aufs künftige Jahr ein sehr angenehmes und frühes Geschenke gemacht. Der Sammler hat sich nun einmal, durch seine gewissenhafte Wahl, das Zutrauen der besten Köpfe Deutschlands erworben, und da ein Mann von mehreren Talenten sich nicht fürchten darf, hier in einer Art von allgemeinem Ausruff unter unschicklicher Gesellschaft bekannt zu werden, so wird es Herrn Boie niemals an treflichen Beyträgen fehlen.66
Im Sinne einer self-fulfilling prophecy der eigenen literaturpolitischen Agenda fährt die Besprechung vielsagend fort: „Es erscheinen dieses Jahr einige Namen von Dichtern, die nächstens allgemeiner bekannt zu werden verdienen, dahin gehören […] Herr Bürger in Göttingen und Herr Hölty, der unter den neuern Klopstockischen Nachahmern vielleicht am meisten Sprache und Rhythmus in seiner Gewalt hat.“67 Die hier betriebene Propaganda für eine innovative Form von Dichtung zielt auf eine kumulative Verstärkung von Aufmerksamkeit. Sie transportiert eine Vorstellung von Poetik und Ästhetik, die in anderen Beiträgen der Zeitschrift noch expliziter und vor allem noch frecher artikuliert wurde, etwa in den teils emphatischen, teils sarkastischen Rezensionen des jüngsten Beiträgers Goethe, der überhaupt kein Blatt mehr vor den Mund nahm.
Seine Emphase für eine neuartige Vorstellung von Literatur äußert er etwa anlässlich eines Verrisses von Johann Georg Sulzers Shakespeare-Bearbeitung Cymbelline (1772), indem er „Schäckespear“ als Dramatiker bezeichnet, „der den Werth einiger Jahrhunderte in seiner Brust fühlte, dem das Leben ganzer Jahrhunderte durch die Seele webte!“68 An Sulzers Adaption bemängelt Goethe vor allem die Missachtung der in Shakespeares ‚unregelmäßigen‘ Stücken angelegten Historizität und der daraus resultierenden inadäquaten dramatischen Anlage:
Es ist schon ein ganz ungenialisches Unternehmen, das Schäckespears Stücke, deren Wesen, Leben der Geschichte ist, auf die Einheit der Sophokläischen, die uns nur die That vorstellen, reduzieren will; nun aber gar so, nach der Abhandlung vom Trauerspiel in dem ersten Theil der älteren Leipziger Bibliothek zu modeln! Wir sind gewiß, daß es jeder – auch nur Leser Schäckespears mit Verachtung aus der Hand werfen wird.69
Passagen wie diese zeigen nicht nur, dass Goethe sich des von Herder (gerade in dessen berühmtem Aufsatz Shakespear70) propagierten ästhetischen Konzepts der Geschichtshaltigkeit als Kampfbegriff gegen jede Art von normativer Regelhaftigkeit bediente. Sie führen zudem vor Augen, wie eng hymnische Emphase und vernichtender Spott in seinen Besprechungen miteinander sowie mit der unterschwelligen Attacke gegen konkurrierende Journale (wie der Leipziger Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste) verknüpft erscheinen. Auffallend ist jedenfalls, dass die vom Kritiker gefällten Urteile stets mit der größtmöglichen Leidenschaft vorgetragen wurden.
Die kritische, ja polemische Auseinandersetzung mit Sulzer, dem einflussreichen Berliner Akademiemitglied, spielt überhaupt eine wichtige Rolle im Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen. Nachdem Merck schon im Februar den ersten Band (1771) von dessen großem Lexikon Allgemeine Theorie der schönen Künste ausführlich verrissen hatte,71 wetterte Goethe im Dezember in einer noch ausführlicheren und zugleich spöttischeren Rezension der Sulzer’schen Programmschrift Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung (1772) – einem Vorabdruck des grundlegenden Lexikonartikels Künste; Schöne Künste aus dem 2. Band (1774) – gegen die systematisierende akademische Ästhetik generell, vor der er „unsre gute[n] junge[n] Freunde“ eindringlich warnt: „Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber. Warum sollte er sich damit beschäftigen? Weil es so Mode ist? Er bedenke, daß er sich durch alle Theorie den Weg zum wahren Genusse versperrt, denn ein schädlicheres Nichts, als sie, ist nicht erfunden worden.“72 Die neue Poetik der ‚Natürlichkeit‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Unmittelbarkeit‘ postuliert er im Duktus eines Stoßgebetes: „Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit, und gebe jedem Anfänger einen rechten Meister!“73
Im weiteren Verlauf seiner Sulzer-Rezension bedient sich Goethe des in der damaligen Theoriebildung höchst aktuellen Begriffs der ‚Kraft‘74 als Waffe gegen das klassizistische Postulat einer „Verschönerung der Dinge“75 in künstlerischer Naturnachahmung:
Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt nichts gegenwärtig alles vorübergehend, tausend Keime zertreten jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte neben einander existirend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel, sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten.76
Aus diesen Worten spricht nicht mehr das sentimentale Naturbild der ‚Empfindsamkeit‘, sondern ein neues, rousseauistisches Naturverständnis.
Darüber hinaus lästert Goethe gleich einleitend über den traditionell rhetorischen Sprachduktus des verhassten Akademismus: „Sehr bequem ins Französische zu übersetzen, könnte auch wohl aus dem Französischen übersetzt seyn.“77 Vorbild ist hier Herders Polemik gegen die ‚charakterlose‘, ‚französierte‘ Sprache des klassizistischen Rationalismus. Dass es sich bei diesen spöttischen Worten um eine Attacke auf die fehlende Entsprechung von „Gedanke und Ausdruck“ handelt, geht aus dem abschließenden Satz eines von Goethe mit Begeisterung gelesenen Kapitels der Herder’schen Fragmente (1766–67) hervor: „[E]s ist beinahe immer ein Kennzeichen einer mittelmäßigen Poesie, wenn sie gar leicht zu übersetzen ist.“78 Dies sei ein Resultat der Unmöglichkeit, „in der wahren Dichtkunst, Gedanke und Ausdruck von einander zu trennen“,79 wie Herder selbst in einer äußerst bildreichen, assoziativen und bewusst am mündlichen Ausdruck orientierten Sprache vorgeführt hatte.
Verglichen etwa mit dem hölzernen Kanzleistil der an den ersten Göttinger Musenalmanach angehängten Dieterich’schen „Nachricht“ fällt tatsächlich der neuartige, forciert subjektive und deshalb lebendig wirkende Ton der FGA-Rezensionen auf. Insbesondere Goethes Kritiken nähern sich stilistisch streckenweise dem panegyrischen oder frechen Stil seiner dithyrambischen Essays Zum Schäkespears Tag (1771) und Von deutscher Baukunst (1772) an.80 Dass der gedanklich sprunghafte Duktus auch hier einem ausgeklügelten poetologischen Kalkül entspricht, belegt etwa seine spöttische Rezension von Friedrich Just Riedels Launen an meinen Satyr (1772), worin er den „leichtgereitzte[n] Muthwillen eines vollsaftigen Jünglings“81 vermisst. Der „ernste[n] Laune“ des Verfassers, der nach dem Antritt einer gut dotierten Professur an der Kaiserlichen Kunstakademie in Wien „dem Publiko“ nunmehr bezeugt, „daß er einen mißbilligenden Blick auf seine vergangene Theilnehmung an literarischen Händeln werfe, und dann seinen Stallmeister Satyr förmlich abdanke“, setzt Goethe eine bezeichnende Charakterisierung des Stils von Laurence Sternes A Sentimental Journey entgegen. Er illustriert am Beispiel des Sterne’schen Ich-Erzählers seine eigene Reflexion über die stilistische Vorgabe genialischer ‚Unordnung‘: Demnach „greift ein Yorick mit der Gelassenheit eines Reichen in die Fülle seiner Besitztümer, faßt aus dem gedrängten Haufen wunderlich associirtes Zeug auf, läßt eins über das andere fallen, setzt ein Halbbetrachtetes weg, um ein ohngefähr erblicktes Merkwürdiges zu ergreiffen, wirft dann alles wieder unter einander, und schaut zufrieden drein“.82
Solch ein genialischer Schreibstil, der einer forciert ‚antirhetorischen‘ Rhetorik entspringt und sich an mündlicher Ausdrucksweise orientiert, wäre dem verhassten Akademiker Schmid – von Goethe abschätzig als „Scheiskerl in Giessen“83 apostrophiert – oder dessen Freunden Riedel und Klotz schwerlich zuzutrauen gewesen; er wurde von Schmid denn auch als „lallende Affektation“ gebrandmarkt.84 Nicht von ungefähr fungiert der genialische Darstellungsstil als eminentes Distinktionsmerkmal der Poetik und Dichtung des Sturm und Drang. Just Schmid war es dann aber, der nach dem im Dezember 1772 (auch aufgrund neuer politischer Verhältnisse in Hessen-Darmstadt85) erfolgten Abgang Mercks 1773 für die Frankfurter gelehrten Anzeigen zu schreiben begann und von Gießen aus 1775 gänzlich die Herausgabe der Zeitschrift übernahm, die schnell wieder in die alte Mittelmäßigkeit zurückfiel.86 Bereits die zwischenzeitliche Übernahme der Direktion des Journals durch Karl Friedrich Bahrdt hat 1773 dessen Ende als wichtigstes publizistisches Organ des Sturm und Drang besiegelt, nachdem zentrale Beiträger wie Herder und Goethe zeitgleich mit Merck ihre Mitarbeit beendet hatten.