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Der Göttinger Musenalmanach

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Nur im weit gefassten Wortsinn ein Periodikum stellt die Gattung der im 18. Jahrhundert äußerst beliebten ‚Musenalmanache‘ dar, die einmal im Jahr erschienen, dafür aber im jährlichen Turnus. Wie so viele Publikationsforen der deutschsprachigen Aufklärung wurden sie nach einem französischen Vorbild modelliert – nämlich nach dem seit 1765 erscheinenden und von Claude Sixte Sautreau de Marsy herausgegebenen Almanach des Muses6 –, was der Herausgeber des ersten Göttinger Musenalmanachs Heinrich Christian Boie (1745–1806) schon gleich zu Beginn seiner „Vorrede“ zum ersten Jahrgang gewissenhaft anmerkt: „Der französische Musenalmanach hat die Veranlaßung zu dem deutschen gegeben.“7 Zwar vertritt bereits der Musenalmanach für das Jahr 1770 im Unterschied zu seinem anthologisch sammelnden französischen Modell unter anderem den innovatorischen Anspruch, „manches Stück, selbst von einigen Lieblingen der deutschen Muse, zuerst bekannt zu machen.“8 Er gesteht jedoch im Sinne des zunächst ebenfalls übernommenen Anthologieprinzips freimütig ein: „Anderwärts schon gedruckte Gedichte haben wir, auch ohne Erlaubniß der Verfasser, nehmen zu dürfen geglaubt, aber wir haben immer auf den Ort verwiesen, woher wir sie entlehnten.“9 Wie York-Gothart Mix in seiner maßgeblichen Darstellung der frühen Geschichte des Mediums betont, steht die Göttinger Sammlung „nicht nur am Anfang zahlreicher Musenalmanachsunternehmungen, sondern hat auch zur Entfaltung einer regelrechten Almanachskultur beigetragen“,10 die für die Spätaufklärung charakteristisch ist. Sie war mithin selbst gattungsprägend und hatte darüber hinaus mit 35 Jahrgängen unter allen vergleichbaren Unternehmen des 18. Jahrhunderts am längsten Bestand.11

Der Buchhandelshistoriker Johann Goldfriedrich stellte schon 1909 zum ersten und wohl berühmtesten Vertreter der Gattung fest: „Selten hat ein Unternehmen im literarischen Leben so unbestreitbaren Erfolg gehabt, selten sich in so vielen Ablegern auf deutschsprachigem Boden fortgepflanzt“ wie Boies Musenalmanach für das Jahr 1770.12 Angesichts dieses offenbar vorauszusehenden Erfolgs nimmt es nicht Wunder, dass schon während der Drucklegung der Göttinger Sammlung mit dem eilig zusammengestellten Leipziger Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1770 ein aggressiv agierendes Konkurrenzunternehmen auf den Markt geworfen wurde, dessen editorische und publizistische Strategien noch genauer zu mustern sein werden.

Wie die offenherzige Berufung auf das französische Vorbild bereits nahelegt, war der erste Jahrgang (1770) des Göttinger Musenalmanachs allerdings noch weit davon entfernt, ein genuines Organ der ostentativ patriotischen Sturm-und-Drang-Bewegung oder auch nur des dieser nahestehenden, aber erst 1772 von Almanachbeiträgern gegründeten Göttinger Hainbundes zu sein. Er repräsentiert vielmehr relativ breit die damals gängige Dichtung der mittleren deutschen Aufklärung und ihrer Binnenströmung ‚Empfindsamkeit‘. Dies zeigt schon ein kursorischer Blick auf die Namen der bekanntesten Beiträger, zu denen neben Boie und seinen Göttinger Mitstreitern Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) und Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) Autoren wie Johann Wilhelm Gleim (1719–1803), Anna Louisa Karsch(in) (1722–1791), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und Moritz August von Thümmel (1738–1817) zählen, doch immerhin auch schon Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737–1823) und Johann Heinrich Merck (1741–1791) – beide zumindest Wegbereiter der literarischen Jugendbewegung.

Dennoch lohnt sich im gegenwärtigen Kontext ein genauerer Blick auf den ersten Jahrgang und seine Erscheinungsumstände, weil Letztere nicht nur die Entwicklung der Folgebände entscheidend geprägt haben, sondern zudem das buchhandelsgeschichtliche Bedingungsgefüge des literarischen Feldes zu beleuchten erlauben, in welchem dann maßgebliche Texte des Sturm und Drang ans Licht der Öffentlichkeit traten. Einen öffentlichen Hinweis auf gewisse Unstimmigkeiten im Vorfeld gab eine dem ersten Jahrgang in späteren Bindungen angehängte und auf den 1. Januar 1770 datierte „Nachricht“ des Verlegers Johann Christian Dieterich, die in den meisten erhaltenen Exemplaren der Originalausgabe fehlt, aber auch in der zuletzt von Christoph Daniel Ebeling herausgegebenen Hamburger Zeitschrift Unterhaltungen13 unter einer Anzeige des Göttinger Musenalmanachs abgedruckt wurde.14 Darin heißt es einleitend:

Da unter der Aufschrift Leipzig, und der Anzeige bey Dodsley und Compagnie, ein Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1770 erschienen ist, so sieht sich des gegenwärtigen Verleger zu Rettung seiner Ehre genöthigt anzuzeigen, daß die Stücke der Herren Kästner und Gotter, die sich in jenem befinden, nicht von ihm aus dem Dodsleyischen Calender sind gestohlen worden. Von diesen Stücken war zuvor keines gedruckt; ihre Verfasser gaben sie zur gegenwärtigen Sammlung her; es sind also nur zwei Arten möglich, wie sie in die Dodsleyische haben kommen können, Einmahl, daß Abschriften davon, in die Hände dessen, der dieselbe veranstaltet, gekommen sind, Zweytens, daß sie aus gegenwärtiger abgedruckt sind.15

Der erste Satz dieser im behäbigen Kanzleistil des 18. Jahrhunderts etwas umständlich formulierten Mitteilung deutet im Modus einer umgekehrten Verneinung und mit zwei bezeichnenden Hervorhebungen eine „beispiellose Gaunerei“16 an, nämlich die Ungeheuerlichkeit der Bestechung eines Buchdruckergesellen sowie des Druckfahnendiebstahls durch das schlampig zusammengestoppelte Leipziger Konkurrenzunternehmen Almanach der deutschen Musen, in dem sich dann 18 Beiträge aus Boies Sammlung wiederfanden.17 Der schwerwiegende Vorwurf hatte tatsächlich seine Berechtigung und wird im weiteren Verlauf der Ausführungen Dieterichs noch deutlicher ausgesprochen:

Auf welche Art nun auch der Sammler des Dodsleyischen Calenders zu den Aufsätzen gekommen ist, die nach ihrer Verfasser Absicht in dem hiesigen zuerst erscheinen sollten, so ist ihm doch gewiß bekannt gewesen, daß sie nicht bestimmt waren, von ihm herausgegeben zu werden, und daß der Misbrauch, den er vielleicht von der Offenherzigkeit damaliger Freunde gemacht hat, das ist, was die Rechtsgelehrten ein furtum usus [d.i. ‚Diebstahl‘, N.C.W.] nennen.18

Die weitere Argumentation der „Nachricht“ differenziert im Gestus einer Anklageschrift zwischen der Rolle des hinter der obskuren Raubdruckfirma „J. Dodsley & Compagnie“19 stehenden Leipziger Verlegers Engelhard Benjamin Schwickert (1741–1825)20 und jener des ebenfalls anonymen, aber Boie bestens bekannten und mit Johann Benjamin Michaelis kooperierenden berüchtigten Herausgebers Christian Heinrich Schmid (1746–1800), damals immerhin (allerdings unbesoldeter) außerordentlicher Professor just der Rechtswissenschaften an der Universität Erfurt. Dieterich appelliert an das gemeinaufklärerische Ehrgefühl der Leserschaft:

Ein hungriger Buchhändler pflegt wohl was ihm in die Hände fällt, wenn er was damit zu erwerben hofft, zu drucken, ohne sich zu bekümmern, mit was für Rechte er es thut; dieses muß man dulden, wie andere Bosheiten, die man nicht hindern kann: Bey einem Gelehrten, der sich mit den schönen Wissenschaften beschäfftiget, sollte man doch soviel Gefühl der Achtung, die er andern Gelehrten schuldig ist, vermuthen, daß er geschriebene Aufsätze von ihnen nicht drucken liesse, ohne sie zu fragen, ob sie solches genehmigen.21

Tatsächlich hatte Schmid sich mehr auf die „schönen Wissenschaften“ als auf die Rechtsgelehrsamkeit kapriziert und sollte dann ab 1772 eine ordentliche Professur für Rhetorik und Poesie an der Universität Gießen bekleiden. Bezeichnend ist im Zusammenhang der öffentlichen Anklage die Berufung Dieterichs auf das ‚natürliche‘ Urheberrecht, dessen Verletzung wenige Jahre später zahlreiche Werke des Sturm und Drang zum Opfer fallen sollten: „Ein Schriftsteller hat doch wohl über seine Arbeiten, in Absicht auf ihre Bekanntmachung, ein Eigenthum, und er kann Begriffe von der Redlichkeit haben, nach denen er dieses Eigenthum nicht ihrer zweenen zugleich zu überlassen im Stande ist.“22 Dieterichs und Boies schmerzliche Erfahrung blieb bald auch Größen wie Johann Wolfgang Goethe nicht erspart, dessen dramatischer Erstling Götz von Berlichingen gleich in fünf illegitimen und sorglos produzierten Nachdruckausgaben große Erfolge feierte, während der Verfasser auf seinen im Selbstverlag gedruckten Exemplaren sowie auf einem Berg von Schulden sitzen blieb.23 Aber bereits aus Goethes erster Gedichtsammlung Neue Lieder mit Melodien (1769) sollten Schmid sowie der „für literarisches Piratentum allgemein bekannte“ Verleger Schwickert ohne Wissen des Autors vier Gedichte im Jahrgang 1773 des Almanachs der deutschen Musen nachdrucken.24

Besonders schändlich erschien Schmids Vorgehensweise vor dem Hintergrund des damaligen Ehrenkodex der Gelehrten insofern, als der Herausgeber des Leipziger Almanachs der deutschen Musen Textgrundlagen verwendet hat, „in denen Druckfehler und Schreibefehler noch nicht verbessert waren“,25 wie Dieterich empört berichtete und was er in der Folge an zahlreichen zum Teil hanebüchenen Beispielen demonstrierte. Er präsentierte sich damit öffentlich als vir bonus, nämlich als seriöser Verleger, der die Interessen seiner Autoren und ihrer Werke zu vertreten wusste. Tatsächlich setzte Boies Musenalmanach für das Jahr 1770 im Unterschied zu der von ihm inkriminierten mangelnden verlegerischen und editorischen Sorgfalt des Leipziger Konkurrenzunternehmens auf den Anschein größtmöglicher Solidität, indem er im Sinne des Schutzes seiner (wie damals überhaupt üblich) häufig anonym publizierenden Beiträger etwa eigens proklamierte: „Wir haben wenigstens keinen Nahmen genannt, der nicht schon vorher genannt war, so sehr auch die Mode unsrer Zeit ein solcher Verfahren rechtfertigen möge.“26

Die abschließende Erklärung Dieterichs erhebt implizit den nach wie vor bestehenden Anspruch seines Herausgebers Boie auf die zeitliche und konzeptionelle Priorität hinsichtlich der Gründung eines deutschen Musenalmanachs, die diesem durch das als illegitim gebrandmarkte Vorpreschen eines Konkurrenzunternehmens streitig gemacht worden war. In der Öffentlichkeit galt ja „nicht er, sondern Schmid als Urheber des ersten deutschen Musenalmanachs.“27 Demensprechend fasst er die ‚gegnerische‘ Vorgehensweise in ein historisch bezeichnendes Bild:

Der Verleger gegenwärtigen Almanachs, hat sich zu dieser Erklärung gemüssigt gesehen, weil es ihm beynahe gegangen ist, wie jener Marketenderfrau, der ein spitzfündiger Landsknecht ihr Faß von hintenzu anzapfte, und etwas von ihrem Biere eher verkaufte als sie selbst. | Der Dodsleyische Calenderschreiber ist wie er sagt zu schüchtern einen Wahrsager abzugeben: Etwas, wozu freylich kein Muth, wenigstens nicht von der guten Art, gehört, hat er doch den Zigeunern abgelernt: fremde Kinder stehlen, sie verstellen, und zu Krüpeln machen.28

Die zuletzt verwendete Metaphorik der dem Musenalmanach für das Jahr 1770 angehängten „Nachricht“ des Verlegers ist nolens volens ein Beleg für die typisch kleinbürgerliche Vorurteilsstruktur von Vertretern der sich aufgeklärt wähnenden Mittelschicht des deutschen 18. Jahrhunderts. Sie bestätigt indirekt, dass mit diesem Jahrgang noch kein charakteristisches Produkt des Sturm und Drang vorliegt, dessen Hauptvertreter Goethe die ‚Zigeuner‘ ja bald gut rousseauistisch nicht mehr als Kriminelle, sondern im Gegenteil als ‚edle Wilde‘ imaginieren sollte.29

In der damaligen Gelehrtenöffentlichkeit, die zumindest vorderhand noch einem überkommenen Ehrenkodex verpflichtet war, bedrohten die plausibel wirkenden Anschuldigungen indes das Prestige des ‚gegnerischen‘ Herausgebers Schmid empfindlich, worauf dieser in den zwei folgenden Jahrgängen des Leipziger Almanachs

mit allerlei fadenscheinigen Argumenten versucht[e], sich als Unbeteiligten und als Opfer böswilliger Verleumdungen und schnöden Neides darzustellen. Angesichts der Stichhaltigkeit der von den Göttingern hervorgebrachten Vorwürfe erklärte der Redaktor des Almanachs der deutschen Musen schließlich sogar, er habe das Unternehmen aus den Händen eines nicht genannten Vorgängers übernommen, der allein für die Bestechung, den Druckbogendiebstahl und den unrechtmäßigen Nachdruck einzelner Beiträge verantwortlich zu machen sei.30

Offensiver operierte hingegen der anonyme Rezensent des Journals Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, für das der (mit Schmid und Friedrich Just Riedel offenbar auch bei der Herausgabe des Leipziger Almanachs kollaborierende) berüchtigte Lessing- und Herder-Gegner Christian Adolph Klotz verantwortlich zeichnete. Dessen mit dem Kürzel „Kr.“ bezeichneter Kritiker erklärte zunächst den Inhalt der inkriminierenden Dieterich’schen „Nachricht“ ohne jede Angabe von Gründen für nicht überzeugend31 und ergoss dann über den Musenalmanach für das Jahr 1770 sowie den „zweyte[n] Herausgeber“ – „wie man sagt, ein gewisser uns unbekannter Hr. Boie32 – eine wahre polemische Schlammflut. Gegenüber der Göttinger Sammlung, die „sich die Sache sehr leicht“ mache,33 drehte er den Spieß einfach um und erhob unzählige Male den Vorwurf des gedanklichen Diebstahls („steht auch im Leipziger Almanach“, „ist aus dem Französischen gestohlen“ etc.),34 was angesichts der fragwürdigen Vorgehensweise Schmids besonders niederträchtig wirken musste. Zuletzt versuchte er auch noch, dem Göttinger Almanach die weitere Daseinsberechtigung überhaupt streitig zu machen: „Ich habe meine Meynung desto dreister gesagt, da die Herausgeber eine Fortsetzung versprochen, und schon ansehnliche Beyträge zu besitzen vorgeben.“35

Schon im zweiten Jahrgang 1771 reagierte Boie auf die Erfahrung des Raubs der von ihm mühsam gesammelten und redigierten Texte und – mehr noch – seiner Idee insgesamt durch die weitgehende Aufgabe des vom französischen Vorbild übernommenen anthologischen Prinzips: Er ging notgedrungen „dazu über, vorwiegend Erstdrucke zu veröffentlichen“,36 was er damit begründete, dass sein Musenalmanach „mit andern ähnlichen Sammlungen nicht zu sehr“ übereinstimmen sollte: „Aus eben diesem Grunde sind der gedruckten Stücke diesmal nicht viele.“37 Um die neue Form der Beitragsrekrutierung erfolgreich zu etablieren, bei der „die Kluft zwischen Produzent und Rezipient eingeebnet schien“ und „die verschiedensten Publikumsschichten“ animiert wurden, „sich literarisch zu betätigen“,38 forderte Boie seine gesamte Leserschaft in einem bis dahin ungekannten Akt der öffentlichen Ansprache auf: „Die Fortsetzung hängt von dem Beyfall des Publikums ab. Verlangt man sie, so wünscht der Verleger die Beyträge vor Ende des halben Jahres zu erhalten, weil die Verhinderungen, die bisher die Ausgabe verzögert haben, diesmal wegfallen.“39 Auf diese Weise wurde zwar noch nicht der Begriff und die ästhetische Realisierung, aber doch bereits die wenig später von Johann Gottfried Herder (1744–1803) theoretisierte und von Gottfried August Bürger (1747–1794) praktizierte Vorstellung einer ‚Volkspoesie‘ breitenwirksam propagiert. Es mutet insofern nur konsequent an, dass im zweiten Jahrgang trotz des nach wie vor bestehenden Übergewichts von etablierten Dichtern der mittleren Aufklärung – darunter jetzt auch Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) und Salomon Gessner (1730–1788) – mit Bürger sogar ein genuiner Vertreter der Sturm-und-Drang-Dichtung erstmals im Göttinger Musenalmanach abgedruckt wurde.40 Gezielt richtete Boie „sein Augenmerk auf jüngere Poeten, die ihm als vielversprechende Talente erschienen und die bisher noch kaum in Erscheinung getreten waren.“41 Dass die konzeptionelle Neuausrichtung erfolgreich war, zeigte folgende „Nachricht“ Boies im dritten Jahrgang:

Die vielen und unerwarteten Beyträge die der Herausgeber dieser Sammlung zu erhalten das Glück hat, werden ihm die Fortsetzung derselben leichter machen, als der Anfang gewesen ist. Sie wird inskünftige jedesmal mit dem Anfang des Novembers erscheinen, und diejenigen, die sie mit ihren Beyträgen beehren wollen, werden gebeten, die Einsendung derselben nicht zu sehr zu verzögern.42

Die nächsten Jahrgänge brachten dann erstmals und zunehmend massiert Gedichte von Autoren wie Matthias Claudius (1740–1815), Johann Heinrich Voß (1751–1826), Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748–1776), Johann Martin Miller (1750–1814) oder den Brüdern Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg (1748–1821 bzw. 1750–1819),43 wodurch ein vollkommen neuer lyrischer Ton breitenwirksam propagiert wurde.44 Die vom aggressiven Leipziger Konkurrenzunternehmen Almanach der deutschen Musen, das seinerseits „von vornherein der absterbenden Literatur geweiht war“,45 gleichsam erzwungene Konzentration Boies auf die Publikation von Erstdrucken beförderte also zweifelsohne den Durchbruch einer innovativen Form von Lyrik. Und:

Die starke Berücksichtigung dieser Autoren führte natürlich sehr bald dazu, daß die ursprüngliche Intention der Sammlung mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Der [literaturgeschichtlich besonders bedeutsame, N.C.W.] Musen Almanach A MDCCLXXIV war schließlich keine unparteiische Blütenlese mehr, sondern das Publikationsforum der Göttinger Hainbündler. Andersartige literarästhetische Richtungen wurden – vor allem seitdem der Bundesälteste Voß die Sammlung allein betreute [d.h. seit 1775, N.C.W.] – kaum noch berücksichtigt.46

Stattdessen finden sich im Jahrgang 1772 sechs (z.T. aus dem Englischen übersetzte und anonymisierte) Gelegenheitsgedichte von Herder, im Jahrgang 1773 weitere vier und nun sogar (allerdings ebenfalls anonym publizierte) Texte von Goethe (1749–1832), in späteren Jahrgängen auch vereinzelte von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831) oder Johann Anton Leisewitz (1752–1806)47 – allesamt Hauptvertreter der Dichtung des Sturm und Drang.

Mit der Übernahme der Herausgeberschaft durch Leopold Friedrich Günther Goeckingk (1748–1828) von 1776 bis 1778 und schließlich Bürger selbst von 1779 bis 1794 verwandelte sich der Göttinger Musenalmanach gänzlich in ein Medium einer populären Dichtung, die der Tradition der seit 1772 florierenden und gegen Ende des Jahrzehnts schon wieder abflauenden literarischen Strömung des Sturm und Drang allenthalben sichtlich die Treue hielt.48 Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Göttinger Musenalmanach bei aller Prominenz im gesamten deutschsprachigen Raum zwar als Sprachrohr des Göttinger Hainbundes fungierte, aber kaum als ein programmatisches Organ der Sturm-und-Drang-Bewegung generell. Dazu fehlte ihm angesichts seiner Abstinenz von Kritiken, die schon Klotz’ Rezensent bemängelt hatte,49 sowie seiner weitgehenden Konzentration auf lyrische Texte die Möglichkeit zu poetologischer Selbstverständigung. Manche der maßgeblichen Sturm-und-Drang-Autoren wie Heinrich Leopold Wagner (1747–1779) haben gar nicht in ihm veröffentlicht,50 andere wie Goethe nur insgesamt acht Gedichte.51 Zwar diente Goethe der Almanach zum einen der breitenwirksamen „Propagierung eines neuen Kunstverständnisses, zum anderen der Artikulierung von Unmut gegenüber dem herrschenden Kunstbetrieb.“52 Doch wurde die Rolle des poetologisch programmatischen publizistischen Organs der Sturm-und-Drang-Bewegung schlechthin von einem Periodikum im engen Wortsinn übernommen, nämlich vom Jahrgang 1772 der zwei Mal wöchentlich erscheinenden Frankfurter gelehrten Anzeigen.

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