Читать книгу Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - Страница 10
6. Kapitel
ОглавлениеPodesta hatte, als er ein Nachlassen der Aufmerksamkeit Pizarrinis zu bemerken glaubte, sich kurz entschlossen, einen schon mehrmals erprobten Kunstgriff anzuwenden, und war dem darauf völlig unvorbereiteten Pizarrini mit dem Kommunisten-Geschütz in die Parade seiner beginnenden Unaufmerksamkeit gefahren. Die Wirkung war wie erwünscht. Pizarrini war sofort wieder bei der Sache. Er blickte Podesta verdutzt an und sagte bloß: „Kommunisten? Das verstehe ich nicht.“
Podesta hätte zufrieden sein können. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, Pizarrini von diesem Thema, nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte, wieder abzulenken, wäre nicht gerade Schmidbruch wieder zurückgekommen und hätte nicht Pizarrini aller Trunkenheit zum Trotz mit beharrlicher Zähigkeit daran festgehalten, mit dem Präsidenten selbst ins Gespräch zu kommen. Was ihm dessen Mitarbeiter, dieser Ingenieur Podesta, da alles erzählte, erachtete er zwar für ungeheuer wichtig und informativ, aber die dabei aufgeworfenen Probleme wollte er doch lieber mit dem Präsidenten selbst besprechen.
Haha, so dumm war Pizarrini nicht und so betrunken auch nicht, als daß er sich nicht längst seinen Reim auf die ganze Sache gemacht hätte. Für ihn stand fest: Aus der Unterhaltung mit Präsident Schmidbruch konnte die große Chance seines Lebens erwachsen.
Gut, er hatte nun schon einige Schnäpse getrunken und war nicht mehr ganz richtig, hatte vielleicht einen Rausch, aber er wäre nicht Pizarrini, der bleiche, fette, junge Buchhalter gewesen, hätte er sich nicht zugleich mit diesem Selbstgeständnis gesagt, daß auch ein Rausch gebucht und in Ordnung gehalten werden kann.
Podesta hielt Schmidbruch bisweilen für einen vertrottelten Präsidenten, und daß er gerade jetzt daherkam, für einen weiteren Beweis dafür. Er warf ihm einen wütenden Blick zu.
Schmidbruch, der seinen Mitarbeiter hingegen wiederum in Verdacht hatte, daß er bisweilen Geschäfte auf eigene Rechnung machte, nahm diesen Blick als sicheres Zeichen dafür, daß er gerade im richtigen Augenblick gekommen war, solches zu verhindern, und setzte sich mit zufriedenem Lächeln nieder.
Wer jedoch beschreibt seine Überraschung, als sich Pizarrini ihm zuwandte und ihn mit dem gesammelten Ernst seines in Ordnung gehaltenen Rausches fragte: „Herr Präsident, was halten Sie vom Kommunismus?“
Jede Frage hätte er sich erwartet, nur diese nicht. Aber Schmidbruch konnte sich beherrschen. Von den tausend Falten seines Gesichtes bewegte sich keine, auch nicht die kleinste. Er blickte Pizarrini tief in die Augen und sagte voll würdiger Altersweisheit: „Junger Mann, auch unter den Kommunisten gibt es solche und solche.“
Pizarrini nickte ihm zu und wartete offenbar auf weiteres. Schmidbruch sah ihn forschend an. Die Sache begann schwierig zu werden. Ja, wenn er Pizarrinis Gesinnung besser gekannt hätte, wäre es die einfachste Sache der Welt gewesen, aber so? Er wußte nicht, sollte er schimpfen oder loben, verdammen oder in den Himmel heben. Da trat ihm Podesta auf den Fuß und bedeutete ihm zu schweigen.
Schmidbruch jedoch glaubte, Podesta wollte ihm bedeuten, daß Pizarrini ein Kommunist sei, und schickte sich schon an, ein Loblied auf den Kommunismus anzustimmen, als ihm blitzschnell der Gedanke durch den Kopf schoß, daß er als Präsident einer AG sich nicht als fanatischer Kommunist gebärden könne, ohne damit Argwohn zu erwecken; andererseits war ihm natürlich daran gelegen, Pizarrini nicht zu verstimmen. So war die Situation. Und da er sie klar erkannt zu haben glaubte, bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten mehr, ihr zu begegnen. Schwierig ist bei derlei Schwindeleien immer nur die grundsätzliche Frage der richtigen Grenzen, innerhalb derer man sich bewegen darf, das Einerseits und Andererseits, das man zu beachten hat. Hat man das erkannt, hat man die Grenzen richtig abgesteckt, ist alles andere nur noch Spiel und Routine, eine Sache, die Schmidbruch sozusagen mit der linken Hand zu erledigen gedachte.
„Solche und solche“ wiederholte er bedächtig, und dann fuhr er zögernd und nur langsam schneller werdend fort, „wissen Sie, junger Mann, ich habe mich ja nie viel um Politik gekümmert, ich habe immer nur meinen Beruf geliebt. Ja, wenn ich heute so zurückdenke, dann glaube ich sagen zu können, über meinem Leben könnte sozusagen als Motto stehen: Ein Leben für den Beruf. Aber der Mensch kann nicht nur für seinen Beruf leben. Das ist klar, das ist nun einmal so. Der Mensch braucht einen Ausgleich. Er braucht sozusagen etwas Höheres, einen Speicher seelischer Kraftreserven, der ihn, wenn ihn das Alltagsleben zu zermürben droht, mit frischen Kräften speist. Und so, wie ich mir heute im Alter diesen Ausgleich schaffe, indem ich am Steuer meines Mordial 22, dieses prachtvollen, unerhört schnellen Wagens, harte Bewährung suche und leiste, so huldigte ich auch schon in meiner Jugend der Forderung Nietzsches: Lebe gefährlich! Ich war und bin ein begeisterter Turner. Ah, Sie hätten mich damals in meiner besten Zeit sehen sollen. Wenn ich etwa nach der Kür auf den Ringen mit zweifachem Salto mortale auf das Hochreck wechselte, um mich dort mit einer dreifachen Riesenwelle mit unnachahmlicher Eleganz über den Barren zum Bodenturnen abrollte. Glauben Sie mir, das hat mir seither keiner mehr nachgemacht und ich hätte – von Geld ganz zu schweigen – viel Ehr und Lorbeer damit einheimsen können. Ja, viel, olympische Ehren wären mir sicher gewesen. Aber für mich war, ist und bleibt das Turnen keine Sache äußeren Ruhmes, sondern Auftrag und Erfüllung einer unabdingbaren, inneren, ethischen Forderung: mens sana in corpore sano. Wenn wir seinerzeit als junge Turner so hinauszogen in die Natur, ein kampffrohes Trutzlied gegen Welschland auf den jugendfrischen Lippen, in Viererreihen marschierten, Liedchen sangen, Fähnchen schwangen, so recht nach Turners Wahlspruch: frisch, fromm, fröhlich, frei! Juchheissa, heissa, heissassa, was gäbe es da wohl Schöneres, was Erhebenderes als solch Gemeinschaftserlebnis? Nichts, junger Mann, glauben Sie mir, nichts! Wer die vier F, frisch-fromm-fröhlich-frei, nie im Pulsschlag seines Blutes gefühlt hat, ist und bleibt ein armer Tropf! Wer sie aber zum Leitstern seines Lebens erkoren, der ist glücklich zu preisen! Er hat ein Universalrezept, mit dem er heil durch alle Wechselfälle des Lebens bis an den sicheren Tod kommt. Wo andere müde werden, bleibt er frisch, wo andere Skrupel bekommen, bleibt er fromm, wo andere verzweifeln, fröhlich. Er ist im ungeschmälerten Besitz der Einsicht in die Notwendigkeit, fügt sich und bleibt frei, wo andere, mit weniger Einsicht Begabte, widerstreben, eingesperrt werden und sich unfrei fühlen. Und nun, ich merke es Ihnen an, wollen Sie mich fragen, was denn das alles mit Kommunismus zu tun habe. Nichts, werden Sie sich denken, und, daß ich es Ihnen frei gestehe, vor vierzehn Tagen war ich genau derselben Meinung. Doch in der Zwischenzeit hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis, ein meine bisherigen, diesbezüglichen Anschauungen geradezu revolutionierendes Erlebnis. Ich saß in einem Kino und schaute mir eine Wochenschau an, und in dieser Wochenschau war auch ein Aufmarsch kommunistischer Turner zu sehen. Und wie ich diese Jugend da, lauter prächtige Jungens und Mädels mit kraftvollen, gut durchtrainierten Körpern – als alter Turner habe ich da einen Blick dafür, das können Sie mir glauben –, wie ich diese prächtigen Jungens und Mädels da marschieren sehe, in Viererreihen marschieren, Liedchen singend, Fähnchen schwingend, da hat mich das plötzlich gewaltig gepackt, und ich wäre am liebsten noch einmal jung gewesen und mit dieser sonnigen Jugend hinausgezogen in ein schöneres, werkfrohes Leben. In ein Leben, geleitet von einer Theorie von unverwelklicher Frische, erfüllt von einer die Gegenwart kühn mißachtenden, heroisch in die Zukunft gerichteten Frömmigkeit, fröhlich bei dem Gedanken an das schöne Leben meiner Kindeskinder und frei von all den Pseudofreiheiten, die dem erhabenen Gedanken wahren Fortschritts widersprechen.“
Schmidbruch machte eine Pause. Er hatte sich in seine Rolle hineingesteigert, daß ihn weder die verständnislosen, verwunderten Blicke Pizarrinis noch die versteckten Bemühungen Podestas aufzuhalten vermocht hätten, wäre nicht etwas anderes geschehen. Er wollte gerade wieder anfangen und Pizarrini erklären, daß man die Richtigkeit einer Weltanschauung durchaus nicht an ihren menschlichen Schwächen allzusehr ausgesetzten Folgen erkennen könne, sondern einzig und allein an der turnerischen Exaktheit der Disziplin ihrer Anhänger.
Er hatte gerade noch sagen können: „Nicht an ihren Früchten, an ihrer Disziplin werdet ihr sie erkennen…“, als der Kellner mit dem Wein kam und ihn bat, davon zu kosten.
Der Wein war gut, er machte ihn wieder nüchtern. Befriedigt nickte er mit dem Kopf, und der Kellner schenkte ihnen die Gläser voll.
Pizarrini hatte Schmidbruchs Redeerguß nicht verstanden. Das einzige, was er davon behalten hatte, war, daß Schmidbruch in seiner Jugend offenbar ein exzellenter Turner gewesen war.
Komisch, dachte Pizarrini, während er an dem Wein roch, komisch, das reizt mich wieder gar nicht, und ich halte doch bestimmt auch auf Ordnung. Schmidbruch und Podesta schenkten sich bereits zum zweiten Mal ein.
„Trottel“, zischte Podesta, dem Pizarrinis Schweigen nicht geheuer vorkam, Schmidbruch zu. „Trottel, er ist ja gar kein Ko...“
„Er ist kein Ko?“ Schmidbruch zündete sich eine Zigarette an und zog hastig daran. „Er ist kein Ko? Aber du hast mir doch gedeutet, er sei Ko!“
„Bitte?“ sagte Pizarrini, der etwas von Co. gehört hatte, und blickte von seinem Glas auf.
„Der Herr Präsident meinte“, gab Podesta würdevoll zur Antwort, „ich möge fortfahren, Ihnen von der Arbeit des Herrn Präsidenten zu erzählen.“
Pizarrini nickte eifrig ja. Aufgepaßt, flüsterte er sich leise zu, aufgepaßt, Pizarrini, das scheint eine Art Aufnahmeprüfung zu sein, sonst nichts.
Schmidbruch konnte seine Bestürzung nicht gut verbergen und starrte ratlos vor sich hin.
Podesta machte noch schnell einen kräftigen Schluck, dann begann er von neuem.