Читать книгу Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - Страница 21
13. Kapitel
ОглавлениеPizarrini starrte Podesta so unablässig ins Gesicht, daß dieser glaubte, er höre ihm aufmerksam zu. Pizarrini jedoch sah und hörte ganz andere Dinge.
„Hieronymus Bitter“, stellte sich der kleine, rotbackige Mann, der Pizarrini eine unheimliche Ähnlichkeit mit Podesta zu haben schien, vor. Aber es war nicht nur die Ähnlichkeit mit Podesta, weshalb ihm Bitter so bekannt vorkam; er hätte schwören können, ihn schon früher einmal gesehen zu haben.
„Pizarrini“, stellte er sich nun seinerseits vor.
Sie verneigten sich kurz voreinander und stießen dabei mit ihren Köpfen zusammen.
Komischerweise spürte Pizarrini nicht das geringste dabei. Er hörte nur, wie es „klack“ machte und eine entferne Stimme irgendwo sagte: „Zuviel Fälschung“. Jeden anderen hätte dies vielleicht irritiert, Pizarrini nicht.
Er sah Bitter forschend an und sagte in dem knappen, gemessenen Ton, den er sich, seit er Oberbuchhalter bei der ISAG geworden war, zur Gewohnheit gemacht hatte: „Sie wünschen?“
„Sie werden mich wahrscheinlich nicht mehr kennen“, antwortete Bitter und sah ihn fragend an. Pizarrini schüttelte verneinend seinen Kopf.
„Es handelt sich“, fuhr Bitter fort, „um eine zwar einfache, aber doch längere Zeit in Anspruch nehmende Geschichte.“
„Wenn es sich um eine längere Sache handelt, wollen wir uns dann nicht lieber setzen?“
Pizarrini wies einladend auf zwei bequeme Grabsteine in der Nähe und streifte ihre Schneehauben herab. „Nach Ihnen“, sagte Bitter und wartete, bis sich Pizarrini niedergesetzt hatte, dann setzte er sich ebenfalls.
„Also, bitte, fangen Sie an“, forderte Pizarrini Bitter auf.
„Ich bin“, begann Bitter, „der Vorsitzende des Landesgremiums der Leichenbestatter und habe Ihnen über Auftrag des teuren Verstorbenen Aufklärung darüber zu geben, warum er es in Übereinstimmung mit alter Überlieferung ablehnte, zahlungssäumigen Leichenbestattern Verzugszinsen zu berechnen.“
Pizarrini errötete.
Hieronymus Bitter übersah das geflissentlich und fuhr fort: „Die ersten Leichenbestatter – mein Unternehmen gehört übrigens zu den ältesten und, wie ich in aller Bescheidenheit sagen darf, solidesten Leichenbestattungsunternehmen im ganzen Land – die ersten Leichenbestatter also versahen ihre verantwortungsvolle und mühsame Arbeit umsonst, ehrenamtlich und nicht hauptamtlich, wenn ich so sagen darf. Sie genossen dafür lediglich gewisse Privilegien und darunter auch dieses, daß ihnen keine Verzugszinsen berechnet werden durften. In einer der ältesten, leider nur mehr in Bruchstücken erhaltenen Friedhofsordnung unseres Landes, in der nach ihrem besterhaltenen Fragment benannten ‚De Sepulcris‘ können wir das heute noch nachlesen. Die Entstehungsgeschichte dieses speziellen Privilegiums der Befreiung von Verzugszinsen dürfte bis in vorgeschichtliche Zeiten zurückgehen und wird wohl nie genau erforscht werden.“
„Weiter, weiter“, drängte Pizarrini ungeduldig.
„Als im Laufe der Zeit im Zuge der Industrialisierung und Technisierung des Lebens die Begräbniskosten immer mehr stiegen, die Begräbnisse selbst immer mehr Zeit in Anspruch nahmen und differenzierter wurden, konnte der Modus der ehrenamtlichen Funktion der Leichenbestatter nicht mehr aufrechterhalten werden. Die ordentliche Erfüllung der übernommenen Pflichten erforderte nunmehr den ganzen Mann. Die Entwicklung vom unentgeltlich ausgeübten Ehrenamt zum auf wirtschaftlich-kommerzielle Basis gestellten Unternehmen war nicht mehr aufzuhalten. Erhalten aber hat sich aus jener glücklicheren Zeit unserer Ehrenamtlichkeit der schöne Brauch, zahlungssäumigen Leichenbestattern keine Verzugszinsen zu berechnen. Ein altehrwürdiger Brauch ist das, Herr Pizarrini, ein Brauch, dessen tiefer Symbolgehalt dartut, daß Versäumtes nicht immer durch Verzugszinsen wettgemacht werden kann, ein Brauch zugleich, der der p.t. Kundschaft immer wieder vor Augen führen soll, daß wir Leichenbestatter wohl mit kommerziellen Mitteln und Methoden arbeiten, arbeiten müssen, in Wirklichkeit jedoch höheren Zielen zustreben als der Erreichung eines in schnödem Mammon ausdrückbaren Gewinnes.“
Pizarrini hatte Hieronymus Bitter mit unbewegter Miene zugehört. Nun jedoch wollte er auffahren und diesem biederen Burschen, der viel von frommen Bräuchen und nichts von der ordnungserhaltenden Funktion der Verzugszinsen zu verstehen schien, einmal ordentlich seine Meinung über diesen und ähnliche, nichts als Verwirrung und Unordnung stiftende Bräuche sagen. Da geschah etwas, das ihn still sein hieß.
Die Getreuen des Männergesangsvereins stellten sich am offenen Grab auf und stimmten nun, nachdem sich die übrigen Trauergäste bereits zerstreut hatten, noch einmal das Lieblingslied ihres teuren, langjährigen, verstorbenen Vereinsmitgliedes an. Gerade in dem Augenblick, in dem Pizarrini sich anschickte, Hieronymus Bitter kurz und angemessen seine Meinung zu sagen, klang es vom offenen Grab des verunglückten Chefs herüber: „Der Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch den grünen Wald …“
Erschüttert schwieg Pizarrini. Er schloß seine Augen und sah voll einer unheimlichen Wirklichkeit den jetzt dort unten ruhenden Chef an der Kasse sitzen, Geld kassieren und die frische Melodie des munteren Jagdliedes leise vor sich hin pfeifen.
Er konnte nicht sagen wie, aber plötzlich begriff er die Berechtigung jenes alten Brauches, den er eben noch in Grund und Boden verdammen wollte.
Hieronymus Bitter mußte irgendwie ahnen, was in Pizarrini vorging, denn er drückte nun teilnahmslos Pizarrinis Hand, steckte ihm gleichzeitig mit unendlicher Behutsamkeit und Diskretion ein Prospekt seines Unternehmens in die Manteltasche und ging leise weg.
Pizarrini sah ihm lange nach. Dann nahm er das Prospekt aus der Manteltasche und betrachtete es. „Hieronymus Bitter, Leichenbestattungsunternehmen und Sargtischlerei“ stand in schlichter Goldschrift auf einem schwarzen Umschlag. Pizarrini steckte das Prospekt wieder ein und verließ, während die Getreuen des Männergesangsvereines eben die vierte Strophe anstimmten, langsamen Schrittes den verschneiten Friedhof.