Читать книгу Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - Страница 22
Podestas Erzählung 10
ОглавлениеDie wenigen Tage bis zum Achtundzwanzigsten verbrachte Schmidbruch in einer sich ständig steigernden Unruhe. Je näher der Tag der Probevorführung rückte, um so mehr wuchs seine Ungeduld. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem bisherigen Leben einem Ereignis mit ähnlicher Erwartung entgegengefiebert zu haben. Er kannte sich selbst nicht mehr. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich bei einer größeren geschäftlichen Aktion seiner selbst nicht mehr sicher war. Freilich, seine Umgebung merkte nichts von seiner Unruhe und Unsicherheit. Er hatte es seit jeher verstanden, sich so zu beherrschen, daß kein Mensch merken konnte, was in ihm vorging. Auch seine bekannten Zornesausbrüche schienen nur einer unbeherrschten Natur zu entspringen, in Wirklichkeit waren sie wohlberechnet und genauestens dosiert. Es kam öfters vor, daß er jetzt mitten in der Nacht aufwachte, weil er geträumt hatte, mit der Probevorführung habe irgend etwas nicht gestimmt. Oder aber er fiel in das andere Extrem und stellte wilde Spekulationen darüber an, wie er nach gelungener Probevorführung mit Hilfe der Freßrobots das Publikum zu ungeahnten Konsumationen animieren werde.
Er träumte davon, als Retter der ISAG zu ihrem Ehrenpräsidenten ernannt zu werden. Die Hotellerie der ganzen Welt wird seinen Einfall preisen und anwenden, der Staatsminister in Ansehung seiner Verdienste ihn für den höchsten Orden des Landes vorschlagen. Dann bekam er es wieder jäh mit der Angst zu tun, weil er sich mit Podesta eingelassen hatte. Der Mensch wird mich hoffnungslos kompromittieren, dachte er, wie konnte ich so einem Menschen nur Vertrauen schenken, wäre ich doch wenigstens anonym geblieben.
Er saß in seinem Büro und dachte darüber nach, was er am besten unternehmen könne, um seiner Unruhe Herr zu werden.
Ich muß etwas tun, dachte er sich, um nicht mehr an diesen verfluchten Achtundzwanzigsten denken zu müssen.
Da erinnerte er sich des Yoga-Unterrichtes, den er im ersten Jahr seiner Präsidentschaft auf Anraten seines Gönners von Stechenkamp genommen hatte. Er stand auf, ging an die hell getönte Wand seines Büros und machte einen Kopfstand. Es tat ihm unsagbar wohl. Als er jedoch wieder an seinem Schreibtisch saß und gedankenverloren auf die Wand hinblickte, an der er eben einen Kopfstand gemacht hatte, bemerkte er voll Schrecken, daß er während dieses Kopfstandes mit seinen Füßen unbewußt groß und ungefüge „28“ auf die Wand gezeichnet hatte.
Er schlug beide Hände vor sein Gesicht und floh, von ungläubigem Entsetzen gepeinigt, aus seinem Büro. Er wollte in die Stadt fahren und irgend etwas trinken. Aber er traute sich dann nicht in seinem Zustand, in ein Auto zu steigen, und ging zu Fuß. Die Stadt stand damals gerade vor den Bürgermeisterwahlen. Von den Plakatwänden schrien die Plakate der wahlwerbenden Parteien.
Schmidbruch entsann sich, daß ihm vor Jahren von einer politischen Partei der Vorschlag gemacht wurde, ein Parlamentsmandat zu übernehmen. Er hatte damals abgelehnt. Keine Zeit für Politik, hatte er sich damals gesagt. Ob er das heute noch tun würde? Plötzlich schien es ihm zweifelhaft, daß er damals das Richtige getan hatte. Schließlich hieß er nicht Huber und war nicht irgendwer, sondern hieß Ernst Schmidbruch und war Präsident der ISAG. Präsident der ISAG, da muß einer schon etwas leisten, daß er es so weit bringt in seinem Leben. Noch dazu, wenn er wie Schmidbruch ganz von unten angefangen hat. Ich hätte es auch als Politiker zu etwas gebracht, sagte er sich, und, wer weiß, vielleicht wäre das Volk mit mir besser gefahren als mit all den anderen, die im Grunde genommen nur meinen Platz einnehmen.
Wenn die Sache mit den Freßrobots nur halb so gelingt, dachte er weiter, wie ich es mir vorstelle, schmeiße ich die Brüder hinaus. Voll Mißmut erinnerte er sich an einige Aufsichtsräte, die ihm in letzter Zeit hart zugesetzt hatten.
Wenn die einmal etwas weniger bekommen, wollen sie einen am liebsten gleich umbringen. Pah, er würde es ihnen zeigen. Er war sechzig vorüber, aber für einen Mann wie ihn war das kein Alter. Hatte er nicht eben erst vor wenigen Minuten noch einen Kopfstand gemacht? Das sollte ihm doch einer von diesen Fettnäpfen nachmachen.
„Kujonieren lasse ich mich nicht“, brummte er vor sich hin, „ich werfe ihnen alles hin, dann sollen sie sehen, wie sie weiterkommen.“
Wozu, plötzlich überfiel ihn wieder das alte Mißtrauen gegen Podesta, wozu, dachte er, lasse ich mich denn überhaupt mit so einem Menschen ein? Habe ich das notwendig? Ach was, andere Gedanken, andere Gedanken, signalisierte er sich, andere Gedanken. Er faßte einen jähen Entschluß, packte einen Vorübergehenden bei der Schulter und hielt ihn fest.
Der Festgehaltene, ein junger Mann von vielleicht vier-oder fünfundzwanzig Jahren, wollte aufbegehren. Aber bevor er noch ein Wort sagen konnte, fragte ihn schon Schmidbruch mit der Zudringlichkeit eines hartgesottenen Reporters: „Wie werden Sie wählen?“
Jetzt erst sah der Befragte Schmidbruch genauer an.
„Herr Präsident“, sagte er bestürzt und blickte Schmidbruch entgeistert an.
„Woher kennen Sie mich?“
„Ich bin Subportier im Präsidium, Herr Präsident.“
„Was machen Sie dann hier?“
„Ich habe heute dienstfrei, Herr Präsident.“
Schmidbruch ließ ihn los und nickte ihm freundlich zu. Der junge Mann entfernte sich mit großer Hast. Schmidbruch ging weiter. „Gemeindepolitik“ las er auf einem der Plakate, „Gemeindepolitik ist Arbeit“. Auf einem anderen Plakat stand: „Wählt nicht Parteien, wählt Persönlichkeiten“.
Ausgezeichnet, dachte Schmidbruch, Persönlichkeiten, das ist es, was uns heutzutage fehlt. Aus dem Aquarium in der Auslage eines Delikatessengeschäftes glotzte ihn ein Karpfen an.
„In der Politik fehlt“, murmelte er vor sich hin und starrte in die Auslage.
Neben dem Aquarium lagen gerupfte Hähnchen, tiefgefroren und kunstvoll aufeinandergeschichtet. Eine Verkäuferin im weißen Mantel und eine dicke Frau mit einer großen Einkaufstasche traten von hinten an die Auslage. Die Frau zeigte mit dicken Wurstfingern auf eine der in dem Aquarium ruhelos hin und her schwimmenden Forellen. Die Verkäuferin fischte die Forelle mit einem kleinen Netz heraus, wickelte sie in ein weißes Tuch und trug sie nach hinten. Die Frau folgte ihr gemächlich nach.
Schmidbruch drehte sich angewidert um und ging weiter. Bald darauf kam er an einer kleinen Kneipe vorbei, die noch von der Art war, wie sie in seiner Jugend sehr modern gewesen war und die man jetzt fast nirgends mehr sah.
„Mal hineinschauen“, sagte er sich, zögerte dann aber und schämte sich dann beinahe, als er schließlich doch eintrat. Ihm war zumute, als mache er etwas Unerlaubtes, etwas für einen Präsidenten ganz und gar Ungehöriges. Er setzte sich an einen der kleinen, runden Marmortische und verlangte einen Magenbitter. Er blickte sich um. Außer ihm waren noch drei Männer hier, die an einem weiter entfernten Tisch saßen, und ein junger Bursche, der an der Bar stand, in einer Illustrierten blätterte und gleichzeitig unaufhörlich auf die Kellnerin einredete.
Die schätzungsweise vierzigjährige Frau, die bediente, war mittelgroß, schlank, hatte schwarzes Haar, ein hageres, grobknochiges Gesicht und einen trippelnden Gang, den Schmidbruch als nervenaufreibend empfand. Offenbar hieß sie Philomena, denn so wurde sie jetzt von einem der drei Männer gerufen. Schmidbruch hatte den Eindruck, als hätte sich in dem Lokal während der letzen dreißig, vierzig Jahre überhaupt nichts geändert. Er nippte an dem Magenbitter, kostete, nickte befriedigt, stürzte das ganze Glas hinunter und bestellte bei Philomena einen neuen. Dieser Vorgang wiederholte sich noch einige Male. Die drei Männer an dem Tisch in der anderen Ecke sprachen allem Anschein nach von den bevorstehenden Gemeindewahlen. Manchmal erregte sich der eine oder andere von ihnen und sprach lauter, so daß Schmidbruch dann und wann Brocken ihres Gespräches verstehen konnte. Dieser Umstand verlieh ihrem Gespräch das Gepräge eines gespenstischen, litaneienhaften Gebrabbels, aus dessen dumpfer Unverständlichkeit da und dort ein paar Brocken wortverständlichen Unsinns herausragten. Aber auch der Junge an der Bar, der unaufhörlich auf die Kellnerin einredete, und diese selbst – hinter der Bar stehend und Gläser wischend und immer wieder dem Jungen zunickend, als wolle sie damit verhindern, daß er zu reden aufhöre – machten auf Schmidbruch einen seltsam unwirklichschemenhaften Eindruck.
Die grauweißen Platten der Marmortische leuchteten wie phosphoreszierende Schimmelflecken durch das muffige Zwielicht des schäbigen Lokals und übten eine merkwürdig beruhigende Kraft auf ihn aus, die ihn weit von allem distanzierte, was ihn vor wenigen Minuten noch so heftig beunruhigt hatte. „Jawohl, so und nicht anders“, schrie einer der drei, und fast im selben Augenblick ließ ein anderer mit lautem Getöse einen fahren. Die drei brachen in wieherndes Gelächter aus. Sie brüllten vor Lachen, daß sie rote Köpfe bekamen.
„Schweine“, sagte die Kellnerin ganz laut zu sich selbst. Der Junge, unberührt von allem, redete unaufhörlich weiter.
„So und nicht anders“, mit unter Lachen erstickender Stimme ließ wieder einer einen fahren. Ihr brüllendes Lachen ging in ein an- und abschwellendes Wimmern über, das sie vollends zu übermannen drohte.
Als Schmidbruch dann auf die Straße trat, war er überrascht, daß draußen Tag war und der Verkehr an der unscheinbaren Tür der Kneipe vorbeiflutete, als wäre hinter dieser Tür nichts.
Schmidbruch wußte es besser. Da waren drei Männer hinter dieser Tür, die über einen Furz lachten, eine Kellnerin, die sich darüber ärgerte, ein junger Mann, den irgend etwas so bewegte, daß er unaufhörlich redete. Schmidbruch winkte einem Taxi und fuhr ins Präsidium zurück. Er war jetzt ganz ruhig geworden und hatte sich entschlossen, das Projekt auch dann weiterzuverfolgen und durchzuführen, wenn die erste Probevorführung mißlingen sollte.