Читать книгу Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - Страница 6

2. Kapitel

Оглавление

Pizarrini ging nach dem Mittagessen sofort in das Geschäft zurück und versenkte sich mit in einem ihm sonst zu dieser Tageszeit nicht eigenen Eifer in seine Arbeit. Dies war aber nur ein Zeichen dafür, daß ihm das Erlebnis während der Mittagspause mehr zu schaffen machte, als er sich eingestehen wollte. Er stürzte sich mit einer wütenden, zur Ordnung entschlossenen Verbissenheit auf die Belege zu seiner Rechten und begann sie zu buchen. Pizarrini war Buchhalter aus innerer Berufung, und seine Lebensmaxime lautete: Ordnung halten. Man darf das nicht verwechseln: Ordnung und Ordnung-Halten sind zweierlei. Es gibt, um den Unterschied zwischen beiden auf kürzestem Weg deutlich zu machen, keine Ordnung schlechthin, sondern immer nur eine ganz bestimmte Ordnung, die man zur Lebensmaxime erheben kann, wohl aber gibt es das Ordnung-Halten schlechthin, mit dem man so was anstellen kann. Pizarrini also war für das Ordnung-Halten, und jenes „der Ordnung halber“, das er der ahnungslosen Tonschi zur Antwort gegeben hatte, war mehr als irgendeine leichthin gegebene Antwort. „Der Ordnung halber“, das war für Pizarrini lapidarer Ausdruck seiner ebenso lapidaren Weltanschauung vom Ordnung-Halten, die man in dem einen Satz zusammenfassen kann: Selbst Unordnung läßt sich in Ordnung halten.

Mit anderen Worten: Pizarrini war für die Ordnung des Ordnungs-Haltens. Er war Buchhalter und wußte, welch ein vorzügliches Werkzeug des Ordnung-Haltens die glorreiche Erfindung der Buchhaltung war.

Pizarrini war wie viele dicke Menschen Optimist. In dem manchmal turbulenten und nervösen Betrieb des Geschäftes, in dem er arbeitete, war er ein Fels unerschütterlicher Ruhe und Gelassenheit. Pizarrini wußte: Es gibt nichts, das sich nicht buchen ließe. Sogar ein Konkurs läßt sich buchen. Er hütete sich freilich, seinen Chef in schwierigen Tagen mit dieser Weisheit zu trösten, aber er kostete in fröhlicher Gelassenheit von ihr, wenn sich der Chef über schlechte Geschäfte ereiferte, als einem gar köstlichen Geheimnis, das ihn gegen derlei Verzweiflungen feite.

Nun aber saß er in stiller Wut an seinem Schreibtisch und buchte mit verbissener Beharrlichkeit zu einer Zeit, während der er sonst seinen alltäglichen Verdauungsspaziergang zu machen pflegte, Geschäftsfall auf Geschäftsfall, wie sie ihm die Belege zu seiner Rechten vorwiesen.

Nicht daß ihn der, wie er sich jetzt einzugestehen bereit war, etwas überstürzte Bordellbesuch in der Mittagspause aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht hätte, davon konnte keine Rede sein. Kronen 4,50 für ein halbes Kilo künstlichen Schnee, Dekoration SOLL, Kassa HABEN. Daß solche Besuche bisweilen ohne Ergebnis verlaufen, das wußte er, das hatte er in jenem dickleibigen wissenschaftlichen Buch gelesen, das er sich vor Jahren von einem Freund ausgeliehen hatte.

„Das Geschlechtsleben des Mannes in tiefenpsychologischer Sicht“ hatte es geheißen.

Kronen 84,10 Stromkosten, Strom SOLL, Kassa HABEN.

Nein, das konnte ihn nicht aufregen, das ließ ihn kalt, schließlich war er kein Primitivling, sondern ein differenzierter Mensch; wenn er bisweilen über sich nachdachte, dann schien ihm seine Lebensmaxime des Ordnung-Haltens nichts anderes zu sein als Ausdruck seiner verzweifelten Bemühungen, sein inneres Chaos zu bändigen. Vielleicht hatte er auch einen verdrängten Ödipuskomplex. Wer konnte das schon sagen?

Kronen 6,80 Abortgrube reinigen, allgemeine Spesen SOLL, Kassa HABEN.

Was Wunder, daß dieser Besuch zu keinem Ergebnis führte. Nein, nein, das konnte ihn wahrhaftig nicht aufregen. Das war mehr oder weniger sogar normal, daß dieser, wie er sich immer mehr einzugestehen begann, wirklich überstürzte und eigentlich wohl auch unüberlegte oder zumindest zu wenig überlegte Besuch so verlief, wie er verlaufen war. Das war wirklich nicht alarmierend. Alarmierend wäre es gewesen, wäre er anders verlaufen.

Kronen 35,20 a conto Christian Mayer, Christian Mayer HABEN, Kassa SOLL.

Was ihn aufregte, war etwas ganz anderes. Aufregte? „Aufregen“ ist eigentlich nicht das richtige Wort dafür. Irritierte? Jawohl, „irritieren“ ist besser. Ärgerte? „Ärgern“, zweifellos auch „ärgern“. Es irritierte und ärgerte ihn an dieser Sache etwas ganz anderes.

Kronen 15,– a conto Frau M. Gruber, nein, Kronen 50,– Gruber HABEN, Kassa SOLL.

Fünfzehn Kronen hatte er für diese Befriedigung seines Ordnungssinnes bezahlt.

Fünfzehn Kronen, wirklich nicht eine Summe, derenthalben er sich ärgern würde. Nein, diese fünfzehn Kronen war ihm die Sache wert. Er war zwar Buchhalter, aber er machte sich nicht allzuviel aus Geld, Geld war eine Sache, die Ordnung verlangte. Ordnung hielt er, und damit war das Kapitel Geld eigentlich für ihn erledigt. Ob er viel davon hatte oder wenig, war ihm seit jeher eine zweitrangige Frage gewesen. Kronen 2,– Spende für die Caritas, Werbungskosten SOLL, Kassa HABEN.

Das war es nicht. Die fünfzehn Kronen irritierten ihn ganz bestimmt nicht. Immerhin, die Person hatte nur zehn Kronen verlangt, und er hatte fünfzehn hingelegt. Was war da mit ihm durchgegangen?

Er hielt inne. Auf seinem Gesicht erschien kaum merklich ein triumphierendes Lächeln. Seine wasserblauen Kinderäuglein blinkten auf. Die Nüstern seiner kleinen, jedoch kühn in jedwedes Konto stoßenden Spitznase blähten sich. Er hatte ihn. Er hatte den lästigen Quälgeist, diesen lächerlichen Floh von fünf Kronen, der so ärgerlich in seinem Unterbewußtsein herumgesprungen war, der sich erfrecht hatte, an seinem ruhevollen Gemüt zu saugen, bis es in Wallung geraten war. Er hatte ihn.

Kronen 34,30 a conto Franz Pschril, Pschril HABEN, Kassa SOLL.

Das war es. Er lehnte sich zurück, legte beide Hände auf seine Oberschenkel, trommelte mit den Fingern ruhelos auf den Knien herum, ließ den Kopf über die Lehne seines Drehstuhls weit nach hinten fallen, daß seine Nase lotrecht nach oben wies, schloß die Augen und begann seine Seele zu erforschen.

Sie hatte zehn Kronen verlangt.

Er hatte fünfzehn Kronen hingelegt.

Warum?

Um das zu bekommen, was er der Ordnung halber erfahren wollte, hätten zehn Kronen genügt.

Er hatte ihr fünfzehn Kronen gegeben. Das waren fünf Kronen mehr, als sie verlangt hatte. Das waren bei zehn Kronen fünfzig Prozent mehr, als verlangt worden war. Wer mehr gibt, will mehr. Er hatte fünfzig Prozent mehr gegeben, als er der Ordnung halber zu geben gehabt hätte, das hieß jedoch nichts anderes, als daß er fünfzig Prozent mehr haben wollte, als er der Ordnung halber zu bekommen gehabt hätte.

Pizarrini war erschüttert. Er ließ seinen Kopf vornüber auf das auf dem Schreibtisch liegende Journal fallen, umschlang ihn mit beiden Händen und stöhnte in die eben erst begonnene, fast noch jungfräulich weiße Journalseite 185 hinein: „Fünfzig Prozent!“

Aber es dauerte nicht lange, da hatte er sich wieder in der Gewalt.

Mit unerbittlicher Härte gegen sich selbst, die einer masochistischen Komponente irgendwie nicht entbehrte, schob er seine zutiefst erschütterte, nach liebevoller Pflege schreiende moralische Selbstachtung beiseite, lehnte sich abermals zurück und begann wieder das Seziermesser seines kühlen Buchhalterverstandes an sein wehwundes Herz zu setzen.

Man hofft immer mehr zu bekommen, als man bezahlt hat. Hoffen ist aber nichts anderes als Ausdruck eines im Unterbewußtsein wühlenden Wollens. Fünfzig Prozent, das ist genau die Hälfte. Um die Hälfte hatte er mehr bezahlt, als er der Ordnung halber zu bezahlen gehabt hätte. Um die Hälfte hatte er mehr bezahlt; nicht, um die Hälfte mehr zu bekommen, sondern um unbewußt mehr als die Hälfte mehr zu bekommen, als er der Ordnung halber bewußt bekommen wollte.

Es schauderte ihn vor der Verruchtheit seines Unterbewußtseins.

Bei allem Schauder jedoch war ihm jetzt wohler als vorher. Der Fehler war erkannt. Nun galt es, ihn zu beheben.

Er begann wieder zu buchen.

Kronen 10,60 für Bodenwachs und Stauböl, Reinigung SOLL, Kassa HABEN.

Im Grunde genommen war das Ganze eigentlich nichts anderes als eine Fehlspekulation seines Unterbewußtseins. Untrügliches Merkmal einer Fehlspekulation ist immer der damit verbundene Verlust. Dieser Verlust betrug in seinem Fall die ganz konkrete Summe von fünf Kronen. Fünfzehn Kronen hatte er hingelegt. Für zehn Kronen hatte er eine Erfahrung gemacht, die nach der Lage der Dinge nun einmal nicht unter zehn Kronen zu haben war, fünf Kronen hatte er verspekuliert.

Kronen 2300,– Erlag an Bank, Bank SOLL, Kassa HABEN.

Gelänge es einem jedoch, den bei einer Fehlspekulation durch Verlust des Einsatzes entstandenen Schaden dadurch wieder zu beheben, daß man es zuwege brächte, den verlorengegangenen Einsatz wieder herauszubekommen, so könnte man eigentlich mit Recht behaupten, die Fehlspekulation, wenn auch nicht ungeschehen, so doch wieder wettgemacht zu haben.

Kronen 235,– an Moden AG, Moden AG SOLL, Bank HABEN.

Somit war klar, was er zu tun hatte. Er würde abends nach Geschäftsschluß noch einmal hingehen und sich fünf Kronen, die er zuviel bezahlt hatte, wiederholen. Kronen 534,– an Hillmann & Co., Hillmann SOLL, Bank HABEN.

Das Ministerium für Sprichwörter

Подняться наверх