Читать книгу Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - Страница 12

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7. Kapitel

Die jungen Hühnchen, die nicht zu mager und nicht zu fett sein sollen, werden geputzt und dressiert in eine Bratpfanne gegeben, innen nur wenig gesalzen, mit Thymian und einer Spur Knoblauch, den man aber auf keinen Fall hervorschmecken darf, eingerieben, mit brauner Butter übergossen und schnell gebraten – zirka eine halbe Stunde –, bis die Haut goldbraun und knusprig ist.

Das Brüstchen wird sparsam mit luftgeselchtem Speck gespickt. Man gibt Croûtons mit Salmi aus falschem Schnepfenkot als Garnierung.

Der Kellner legte ihnen die Hühnchen speisegerecht auf die Teller und schenkte den restlichen Wein nach. Die geleerte Falsche, mit zwei Fingern am schlanken Hals gefaßt, wie absichtslos hin und her schwenkend, fragte er leichthin: „Noch eine?“

„Noch eine!“ antworteten sie einträchtig, nippten von dem goldgelben Wein und sogen in festlichem Vorgefühl den von den Tellern aufsteigenden Bratenduft mit aufgeblähten Nüstern durch ihre Nasen.

Schmidbruch zog mit Nonchalance ein Streifchen Speck aus dem knusprigen Brüstchen und legte es auf seine Zunge, wo es langsam zerging. Im Gegensatz zu der gerade noch gezeigten Nonchalance bemächtigte sich nun seines Wesens eine natürliche, durch nichts zu unterdrückende Feierlichkeit, die von dem inneren Glanz auszugehen schien, in dem seine Augen erstrahlten, während das Streifchen Speck auf seiner leicht gegen den Gaumen gedrückten Zunge kleiner und kleiner wurde.

Pizarrini hatte indessen ein Croûton auseinandergeschnitten und mit dem ihm allem Unbekannten gegenüber eigenen Mißtrauen davon gekostet. Doch wann ward wohl ein Mißtrauen schneller und gründlicher beseitigt als hier? Zuerst zögernd, dann – eingeleitet von einem jähen Ausruf des Entzückens – rasch und bedenkenlos zermalmte er das resche Gebäck mit ungeahnten Wonnen. Gier erfaßte ihn. Er spießte sich Bissen auf, die sein in diesem Augenblick an ein aufgerissenes Karpfenmaul erinnernder Mund kaum bewältigen konnte.

Schmidbruchs feierlich gehobene Stimmung störte solche Unart gewaltig, und er konnte sich eines deutlichen, mißbilligenden Kopfschüttelns nicht enthalten.

Pizarrini, der es sofort bemerkt hatte, tat, als hätte er es nicht bemerkt. Depp, dachte er sich, Depp! Der bildet sich wohl ein, ich könnte diese hinreißenden Dingerchen mit derselben Gelassenheit verzehren, mit der ich meine alltägliche Käsesemmel esse. Was weiß der, wozu ich fähig bin?

Sein mittägliches Abenteuer fiel ihm ein, und überzeugt von der wilden Leidenschaftlichkeit seines Wesens beschloß er, seiner Freßlust nicht länger nutzlos Widerstand zu leisten.

Mit demonstrativer Unbekümmertheit stürzte er sich auf die zwei übriggebliebenen Croûtons und fraß sie prackend und schmatzend zusammen. Als er mit ihnen fertig war, bestellte er sich nochmals drei. Dann erst wendete er sich dem Hühnchen zu. Podesta machte weniger Umstände, Er hatte die Fähigkeit zu essen, zu trinken, beides zu genießen und obendrein noch reden zu können.

Ja, es war, als könne er es mit vollem Mund und nasser Gurgel besser als in jedem anderen Zustand.

Podestas Erzählung

4

Schmidbruch befolgte den Rat Wondrascheks schon am nächsten Tag. Eine eigenartige Stimmung ergriff ihn, als er den Bahnhof betrat, und ließ ihn nicht mehr los.

Alles roch nach Abschied. Alles schien ihm den Stempel des Provisorischen, des Vorläufigen zu tragen. Selbst der feste, solide Betonbau, ausgestattet mit allem Komfort eines modernen Bahnhofs, schien ihm nicht frei davon.

Der Verkehr, das Kommen und Gehen der Reisenden, die Achtungrufe der Gepäcksträger mit ihren hochbeladenen Kofferkarren, die Stimme aus dem Lautsprecher, die den Reisenden die Ankunft und Abfahrt der Züge bekanntgab, all dies, obwohl vertraut aus der Zeit, in der er als kleiner Inspektor selbst noch fast jeden Tag auf irgendeinem Bahnhof weilte, irritierte ihn jetzt ungemein. Doch es war keineswegs so, daß ihm dies alles unangenehm gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, er genoß die Verlorenheit, die Beziehungslosigkeit, das Ziellose, dem er sich hier ausgesetzt empfand, wie einen plötzlich wieder aufkommenden Wind, der weither durch seine Erinnerung wehte. In Gedanken versunken ging er zum nächsten Schalter.

„Eine Fahrkarte.“

„Wohin, bitte?“

Ja, wohin? Wohin wollte er eigentlich? Er wußte es nicht. Er hatte sich komischerweise darüber keine Gedanken gemacht. Er wollte irgendeinen Speisewagen kontrollieren. Das war alles. Speisewägen fuhren in jede Richtung. Es war nur gut, daß niemand hinter ihm stand, so konnte er wenigstens in Ruhe überlegen, wohin er fahren sollte. Der Schalterbeamte aber wurde ungeduldig.

„Wohin?“

„Zweihundert Kilometer irgendwohin.“

Der Beamte stutzte und blickte ihn prüfend an. Nach kurzem Zögern gab er ihm die Fahrkarte und nannte den Preis.

Schmidbruch nahm sie wortlos entgegen und zahlte. „Sie haben gesagt: zweihundert Kilometer irgendwohin. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich die Karte nicht umtauschen werde.“

Der Beamte sagte es mit einer vor Ärger bebenden Stimme.

Schmidbruch gab ihm keine Antwort und ging.

„Auf keinen Fall umtauschen werde!“ schrie ihm der Beamte nach.

Der wird sich noch lange nicht beruhigen, dachte Schmidbruch und stieg in den bereits am Bahnsteig stehenden Zug ein.

Nach der ersten Station ging er in den Speisewagen. Der Wagen war leer. Er bestellte ein Cordon bleu. Der Kellner war ihm nicht sympathisch.

„Arbeiten Sie schon lange im Speisewagen?“ fragte er ihn.

„Ein Jahr. Wünschen Sie etwas zu trinken?“

„Eine Flasche Bier.“

Schmidbruch schaute ihm mißmutig nach. Im anderen Wagenabteil machte sich nun ein zweiter Kellner, ein bedeutend älterer, zu schaffen. Schmidbruch beobachtete ihn interessiert. Plötzlich erkannte er ihn. Er erschrak fast; das war doch …

„Ihr Bier, mein Herr!“

„Danke. Sagen Sie, heißt Ihr Kollege da drüben nicht Ferdinand?“

„Ja, kennen Sie ihn?“

„Ich habe ihn schon jahrelang nicht gesehen.“

Der Kellner ging und flüsterte Ferdinand ein paar Worte zu. Der blickte zu Schmidbruch hin und kam auf ihn zu.

„Sie kennen mich?“ fragte er langsam und blickte Schmidbruch forschend an.

Schmidbruch nickte stumm. Er konnte jetzt nicht reden. Beim Anblick dieses alt gewordenen Gesichtes hatte ihn urplötzlich eine mächtige Rührung übermannt. Jetzt erkannte ihn auch Ferdinand.

„Sie, Herr Präsident?“ sagte er leise.

Der Kellner kam mit dem Cordon bleu. Schmidbruch sagte schnell: „Er braucht nicht zu wissen, wer ich bin.“ Der Kellner servierte ihm und zog sich sofort wieder zurück.

„Es braucht überhaupt niemand zu wissen, daß ich hier war, Ferdinand!“

„Niemand, Herr Präsident können sich vollkommen auf mich verlassen.“

„Setzen Sie sich zu mir her, Ferdinand, wir müssen verschiedenes miteinander besprechen.“

„Ich glaube, es ist besser, ich bleibe stehen, Herr Präsident.“

Ferdinand hatte das leise und mit aller Bescheidenheit gesagt, der er sich vor Präsident Schmidbruch zu befleißen verpflichtet glaubte, aber ein kaum merkbares, undeutbares Lächeln in seinem Gesicht ließ Schmidbruch jeden weiteren Versuch aufgeben, ihn doch zum Niedersetzen zu bewegen; er hatte das bestimmte Gefühl, daß das vollkommen aussichtslos wäre.

„Nun gut, bleiben Sie eben stehen.“

„Sehr wohl, Herr Präsident. Ich bleibe stehen.“

„Reden wir von etwas anderem.“

„Wie Euer Gnaden meinen.“

„Ich bin nicht ‚Eurer Gnaden‘ ich bin …“

„Euer Gnaden ist nicht Präsident, Herr Präsident.“

„Sie sollen nicht Präsident zu mir sagen.“

„Ich bleibe stehen.“

„Ferdinand! Ferdinand, Ferdinand!“

„Ja? Ich stehe zu Ihren Diensten.“

„Ferdinand!“

„Ja?!“

„Ferdinand, was halten Sie davon?“

„Wovon?“

„Davon!“ Schmidbruch zeigte auf die leeren Tische.

„Früher war das ganz anders.“

„Das weiß ich selber.“

„Das meine ich aber nicht.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ich meine, früher war überhaupt alles anders.“

„Ach so, Sie meinen, früher war überhaupt alles anders?“

„Ja, das meine ich.“

„Warten Sie, bitte, einen Moment. Ich möchte mir gern ein paar Notizen machen.“

Schmidbruch zog ein giftgrünes Notizbuch aus seiner Rocktasche und notierte: Früher war überhaupt alles anders.

Kaum hatte Schmidbruch seine Notiz zu Ende geschrieben, fuhr Ferdinand fort:

„Früher, ja früher … Früher hat es nur einen Speisewagen gegeben. Und heute? Heute führt jeder Zug, jeder Pimperlzug, möchte ich am liebsten sagen, einen Kinowagen mit, einen Badewagen, einen Lesewagen, einen Sportwagen, einen Spielwagen, einen Aussichtswagen und so weiter und so weiter. Früher ist der Reisende in den Speisewagen gegangen, wenn ihm langweilig war. Heute? Heute geht er ins Kino, ins Bad, er geht lesen, spielen oder sonst irgendeinen Blödsinn machen. Für das Cordon bleu, das Sie da kalt werden lassen. Essen Sie doch, bitte, ist ja eine Schande, wenn es kalt wird, so ein schönes Stück!“

„Kümmern Sie sich nicht um das Cordon bleu, das kann warten, die Hebung des Umsatzes nimmermehr. Mein Werk ist in Gefahr, was kümmert mich da mein Essen. Fahren Sie fort!“

„Sehr wohl. Ich wollte sagen, ich, ich weiß nicht mehr, wo ich unterbrochen habe.“

„Sie sagten: Für das Cordon bleu hier …“

„Ja, für das Cordon bleu hier, ich meine, für das entsprechende Geld natürlich, kann sich heute ein Reisender ein paar Stunden in den Kinowagen setzen, er kann baden, er kann sich massieren lassen dafür oder was weiß ich noch alles mögliche dafür bekommen. Heute hat der Reisende ganz andere Möglichkeiten sich zu zerstreuen, heute ist eben alles ganz anders.“

Schmidbruch notierte: Heute ist alles ganz anders.

„Außerdem“, fuhr Ferdinand fort, „schauen Sie sich einmal um, was für eine Reklame die anderen alle machen. Daß Sie sich heute zum Beispiel im Zug baden können, das lesen Sie in jeder Illustrierten, das sehen Sie auf Plakaten, in Reklamefilmen, ja, sogar …“, er fingerte aus seinem Hosensack eine Schachtel Zündhölzer heraus und hielt sie Schmidbruch hin, „ja, sogar auf den Zündholzschachterln steht es schon oben, ist natürlich“, er warf selbst einen Blick darauf, wie um sich zu vergewissern, „ist natürlich auch ein nacktes Weib darauf. Ohne das geht es ja überhaupt nicht mehr.“

Schmidbruch notierte: nacktes Weib.

Ferdinand war nicht mehr zu halten: „Und was machen wir“, fuhr er fort, „wenn ich respektvollst fragen darf? Wir machen gar nichts. Die gekreuzten Gabeln im Fahrplan und die Aufschrift auf dem Waggon, das ist unsere einzige Reklame.“

Schmidbruch notierte: Reklame.

„Aber das alles wäre noch lange nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß es keine Esser mehr gibt. Ich meine richtige, gute Esser, denen man nicht zuschauen kann, ohne selbst Appetit zu bekommen. Heutzutage essen alle so, als müßten sie eine Arbeit damit verrichten. Wenn man da zuschaut, wie die eilige Welt ihr Essen hinunterwürgt, süß und sauer mit dem gleichen faden Gesicht, vergeht einem jeder Appetit, und es darf einen nicht wundern, wenn unsere Waggons leer bleiben.“

„Sie glauben also, daß ein paar gute, genießerische Esser imstande wären, allgemeinen Appetit zu erregen, die Gäste zum Essen zu animieren, kurz und gut das Hauptmittel wären, unsere Umsätze wieder zu heben.“

„Genau das meine ich, Herr Präsident, genau das, ich werde Ihnen noch etwas erzählen, da war …“

Das Ministerium für Sprichwörter

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