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Podestas Erzählung 8

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Die Fassade des Präsidiums der ISAG war mit rotem Marmor verkleidet. Über dem Portal stand in goldenen Lettern: Interkontinentale Speisewagen AG. Durch die goldumrandeten Fenster des Portals sah man in einen langen, breiten Gang. Unter dem roten Läufer, der den Boden dieses Ganges deckte, lugten diskret schwarze, rhombenförmige Marmorplatten hervor, deren mit eingelegtem Messing umrandete Spitzen sich zu gelben Zickzackbändern vereinigten, die in nervöser Hast auf die schwere Eichentür am Ende des Ganges zuliefen. Über dieser Eichentür stand in schlichter Goldschrift: SITZUNGSSAAL.

Die hohen Fenster zu beiden Seiten des Ganges waren mit farbenprächtigen Glasmalereien geschmückt, die in allen Sprachen des Kontinents mit den gleichbedeutenden Worten für „Guten Appetit!“ beschriftet waren und entsprechend dazu die verschiedenen Nationalspeisen darstellten. Wer könnte die prangende Pracht der Braten, die graziöse Würde der Mehlspeisen, die Sirenengesängen gleich unwiderstehlich lockenden Löffelaugen der Saucen, wer die durchscheinende Zartheit weiß schimmernder Fischlein, wer die bizarren Formen, die abenteuerlichen Farben der Salate und Zutaten beschreiben, die im Lichte dieser Gangfenster gleichsam von innen heraus erstrahlten. So mancher, der das erste Mal durch diesen Gang schritt, wurde schwermütig. Andere wieder wurden gegen sein Ende hin von einer übermächtigen Heiterkeit erfaßt. Es geschah mit solchen oft, daß sie sich knackend und schnalzend ihre falschen Gebisse zurechtrückten und mit bäuchlings verschränkten Händen hin und her zu tanzen begannen. Von einem berühmten Hungerkünstler und Meisteryogi wird berichtet, daß er noch vor der Mitte des Ganges umgekehrt ist und mit einem Ausdruck von Hochmut und Verbitterung im hocherhobenen Gesicht den Gang wieder verlassen hat. Allen aber ist noch die Affäre Mooshuber in Erinnerung. Mooshuber, einer der angesehensten Männer der Stadt, wollte die kostbaren Fenster zertrümmern und konnte gerade im letzten Augenblick noch von dem rasch herbeigeeilten Portier daran gehindert werden. Wie sich bei der daraufhin unausbleiblich gewordenen polizeilichen Untersuchung herausstellte, führte Mooshuber ein Doppelleben und war schon seit Jahren geschworener Anhänger einer berüchtigten Rohkosttheorie. Doch nun: zurück zu Podesta.

Am Abend desselben Tages, an dem Podesta jenen eingeschriebenen Brief bekommen hatte, von dem im vorigen Kapitel berichtet wurde, an diesem Abend regnete es. Es regnete in Strömen. Der Asphalt, nass und glitschig wie die Haut einer Nacktschnecke, glänzte schwarz im Schein der Laternen. In der Straßenmitte, wo der Regen frei und mit voller Heftigkeit auf ihn aufprallte, sprangen die zerschellenden Tropfen handhoch zurück, so daß es bisweilen aussah, als wäre die Straße hier mit einer Unzahl stumpfer, grauer Stacheln bewehrt.

Polizeirevierinspektor Kajetan Horninger, der – von der nahen Sebastianskirche schlug es neun Uhr – um diese Zeit gerade das zweite Mal seine Runde machte, suchte, als sich der Regen für Minuten wieder besonders verstärkte, unter dem breiten Marmorportal des Präsidiums der ISAG provisorischen Schutz vor den entfesselten Wassermassen.

Pflichtgemäß blickte er die Straße hinauf und hinunter und stellte dabei erwartungsgemäß fest, daß sie vollkommen leer war. Wer wird auch schon bei so einem Wetter auf die Straße gehen, dachte er sich, wenn er nicht muß, dachte er weiter und betrachtete sein Bild in dem stark spiegelnden Türglas.

Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und sagte mit gewohnter, militärischer Knappheit: „Einundzwanzig Uhr.“ Die Uhr von der Sebastianskirche hatte die Stunde wieder eine Minute zu früh geschlagen. Er schüttelte mißbilligend den Kopf. Solche Ungenauigkeiten ärgerten ihn. Noch drei Stunden, dachte er. Um Mitternacht erst würde er abgelöst werden. Der Regen hatte wieder etwas nachgelassen, und er machte sich daran, seinen Rundgang fortzusetzen. Da hörte er Schritte. Er drehte sich um. Ein kleiner, dicker Mann in einem schwarzen Gummimantel und einer Baskenmütze auf dem Kopf lief um die Ecke scheinbar direkt auf ihn zu. Horninger, der erst wenige Schritte weitergegangen war, blieb stehen und wartete. Allein, der Dicke wollte nicht zu ihm, ja, es hatte den Anschein, als hätte er Horninger noch gar nicht gesehen. Mit einer Behendigkeit, die Horninger ihm nie zugetraut hätte, sprang er die paar Stufen des Portals des ISAG-Präsidiums hinauf und wollte durch die gläserne Tür in das Gebäude hinein. Die Tür war natürlich verschlossen. Horninger hatte nichts anderes erwartet, und es erschien ihm verdächtig, daß der Dicke allem Anschein nach eine offene Tür erwartet hatte. Jetzt rüttelte er sogar daran, als könne er es nicht glauben, daß die Tür verschlossen sei, und als er nun gar anfing, mit beiden Fäusten auf das Glas loszutrommeln, daß es weithin hallte, war dies für Horninger das letzte Signal einzugreifen. Er ging zurück, klopfte dem Dicken auf die Schulter und sagte zu dem sich überrascht umdrehenden und ihn anstarrenden Mann in gemessenem, leicht verweisendem Ton: „Ihren Ausweis, bitte!“ Der Dicke zuckte zusammen und begann dann umständlich und nervös in all seinen Taschen herumzukramen, bis er schließlich ein zerknülltes Papierchen herauszog und es Horninger hinreichte. Der nahm es, studierte es aufmerksam und sagte dann streng und den Dicken kritisch musternd: „Das ist ja eine Beitragsquittung der Caritas!?“

Der Dicke nickte.

„Und noch dazu vom vorigen Jahr“, setzte Horninger kopfschüttelnd hinzu. Diese Feststellung schenkte dem Dicken wieder die Sprache, dagegen war er gewappnet. Über Polizeirevierinspektor Kajetan Horninger begann sich ein Redeschwall zu ergießen: „Natürlich vom vorigen Jahr. Heuer hätte ich es selbst notwendig gehabt, von der Caritas unterstützt zu werden.

Aber wenn Sie glauben, daß ich da etwas bekommen habe, so täuschen Sie sich. Nicht das Schwarze unterm Nagel. Es gäbe dringendere Fälle als den meinen. Ob diese dringenderen Fälle auch immer ihren Beitrag geleistet hätten, frage ich. Und wissen Sie, was ich darauf zur Antwort bekomme, nein, das wissen Sie nicht, das können Sie nicht wissen, Herr Inspektor, das sei unwesentlich, schließlich sei die Caritas keine Versicherung. Da bin ich gegangen. Ich habe nichts mehr gesagt und bin einfach gegangen“, er unterbrach seinen Redefluß und schien sich wieder auf das Verlangen Horningers nach einem Ausweis zu besinnen. Er deutete auf das Papierchen hin und sagte: „Immerhin, es steht mein Name drauf.“

Horninger hielt das Papierchen ins Licht und las mühsam: „Alois Weiss“, er blickte den Dicken an, „sind Sie das?“

„Nein, ich bin der andere, der darunter unterschrieben hat, da, gleich neben dem Datum.“

„Isidor Podesta?“

„Ingenieur Isidor Podesta, jawohl, das bin ich.“

„Da ist ja die Spende gar nicht von Ihnen“, entfuhr es Horninger, „da haben Sie ja nur kassiert.“

„Nur kassiert ist gut. Man sieht, daß Ihnen die Materie fremd ist. Was ist denn schon eine Spende wie diese da gegen die Arbeit, sie einzusammeln? Mein lieber Herr Inspektor, das müßten Sie erst einmal selbst erleben, wieviel verlorene Zeit, Stiegen auf, Stiegen ab, was man sich alles gefal...“

Unbemerkt von Horninger und Podesta hatte sich eine riesige Luxuslimousine lautlos vor das Portal geschoben, erst das Zuschlagen der Wagentür ließ sie überrascht herumfahren. Ein mittelgroßer Herr in einem grauen Mantel kam auf sie zu.

„Herr Präsident!“ schrie Podesta und eilte ihm entgegen.

Horninger wundert sich nicht schlecht, als er sah, daß der mit „Präsident“ angesprochene Herr Podesta die Hand gab und ihm dabei – so kam es wenigstens Horninger vor – sogar noch freundlich zunickte. Er glaubte sich auch erinnern zu können, das faltige, magere Gesicht dieses Präsidenten schon gesehen zu haben. Auch die Luxuslimousine kam ihm bekannt vor. Er salutierte und dachte noch, hoffentlich macht mir dieser Podesta keine Scherereien, als dieser auch schon anfing: „Stellen Sie sich vor, Herr Präsident, dem Inspektor war ich so suspekt, daß er mich um meinen Ausweis gefragt hat.“

„Warum nicht?“ sagte der Präsident mit maliziösem Lächeln, das seinem Gesicht einen ungemein verkniffenen Ausdruck verlieh.

„Nur eine Routineangelegenheit, keine Verdächtigung“, beschwichtigte Horninger den aufgebrachten Podesta. „Schon gut“, sagte der Präsident und schloß die gläserne Tür auf. Horninger wußte nicht, was er tun sollte, er stand da und schaute.

„Es genügt doch, wenn ich mich für Herrn Ingenieur Podesta verbürge?“ fragte ihn Präsident Schmidbruch ironisch.

„Selbstverständlich. Danke, meine Herren, danke, wie gesagt, nur eine Routineangelegenheit.“

Podesta und der Präsident verschwanden hinter der lautlos zufallenden Tür. Horninger starrte ihnen verwirrt nach, dann wandte er sich endlich um und wollte weitergehen. Sein Blick fiel auf die mächtige, schwarze Limousine, und in seiner Verwirrung salutierte er vor dem in kalter Pracht dastehenden Fahrzeug. Das Unvernünftige dieses Tuns brachte ihn wieder zu sich.

Verlegen schaute er sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte, und als er niemanden sah, atmete er erleichtert auf. Schnell ging er weiter.

Je weiter er sich von der Limousine entfernte, um so mehr begann es ihn zu ärgern, daß er vor ihr salutiert hatte. Er wurde auf sich selbst bitterböse und begann sich zu beschimpfen. Er machte sich die wildesten Vorwürfe, die er schließlich alle in dem einen zusammenfaßte, vor dem in dieser Limousine geoffenbarten Reichtum schmählich kapituliert zu haben. Horninger war ein Gerechtigkeitsfanatiker. Er war bei seinen Kollegen und bei seinen Vorgesetzten dafür bekannt, daß er dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz stets mit größtem Eifer zu genügen trachtete, daß er darin seine ganze Ehre einsetzte. Es schmerzte ihn daher nun wirklich, daß er diesen Grundsatz verraten zu haben glaubte. Den ärmlichen Podesta hatte er zur Ausweisleistung aufgefordert, den reichen Präsidenten mit der Luxuslimousine nicht. Wenn er daran dachte, daß er vor der Luxuslimousine sogar salutiert hatte, überfiel ihn eine ohnmächtige Wut, und er schalt sich einen erbärmlichen Speichellecker. Während solcher Überlegungen, Selbstanklagen und Beschimpfungen, seinem obersten Grundsatz untreu geworden zu sein, hatte er das Ende der Straße erreicht und bog nun in eine kleine, schlecht beleuchtete Nebenstraße ein. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Ein leichter Wind war aufgekommen und schaukelte die wenigen, an über die Straße gespannten Drähten hängenden Laternen hin und her. Auf der linken Straßenseite stand, unvorschriftsmäßig geparkt, ein alter, schäbiger Topolino.

„Steht auf der falschen Seite“, murmelte Horninger und zückte seinen Notizblock, schrieb die Nummer des Topolino auf. Dann stockte er, blickte nach rechts, blickte nach links, riß das Blatt, auf dem er die Nummer notiert hatte, aus dem Block heraus, knüllte es zusammen und warf es weit weg. Befreit atmete er auf, salutierte vor dem Topolino wie vorhin vor der Limousine und ging mit schnellen Schritten, als flüchtete er vor sich selbst, weiter.

„Schluß jetzt mit dem Blödsinn“, sagte er zu sich selbst, „Schluß mit dem Blödsinn.“

Er sagte es mindestens noch zehnmal, bis er, keuchend und außer Atem geraten, endlich seinen Reviergang beendet hatte.

Am nächsten Morgen blickte seine Frau erstaunt vom Zeitungsroman auf, als er beim Frühstück zwischen Kaffee und Butterbrot plötzlich ganz unvermittelt sagte: „Gegen Autofahrer werde ich in Zukunft noch viel strenger vorgehen!“

„Was ist denn geschehen?“ fragte sie ihn besorgt.

„Was geschehen ist? Meine Liebe, es braucht nicht immer etwas geschehen, damit etwas geschieht.“ Nur das Knistern der ihren Händen entfallenden, sanft zu Boden gleitenden Zeitung und das leise Plätschern des Kaffees war zu hören, sonst nichts.

Das Ministerium für Sprichwörter

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