Читать книгу Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - Страница 20
Оглавление12. Kapitel
Der Winterhimmel spannte sich in hellem Blau voll einer unsagbar weiten und fernen Herrlichkeit über die Szene. Dem Trauerzug voran schritten Fahnenträger des Schützenvereins, des Männergesangsvereins, der Bürgermusik, dann kam der geistliche Kondukt, dann kam der Sarg, getragen von sechs Männern, die schwarze, mit gelben Tressen verzierte Uniformen und Dreispitze trugen.
Hinter dem Sarg schritten als nächste Angehörige zwei ältere Damen, Cousinen, und die einzigen noch lebenden Verwandten des als Junggeselle Verstorbenen.
Dann kamen die Angestellten der Firma, an ihrer Spitze Pizarrini mit Zylinder und schwarzem Stadtpelz.
Dann kam die Bürgermusik, deren langjähriges verdientes Mitglied der Verstorbene war.
Dann kam der Männergesangsverein, der vollzählig erschienen war, dessen langjähriges verdientes Mitglied der Verstorbene war.
Dann kam ein Wagen mit Kränzen, gezogen von zwei Rappen, die der Tierschutzverein beigestellt hatte, dessen langjähriges, verdientes, zuletzt zum Ehrenmitglied ernanntes Mitglied der Verstorbene war.
Dann kam ein langer, langer, nicht enden wollender Zug von Trauergästen, die alle den allseits beliebten Verstorbenen mehr oder weniger gut gekannt hatten und ihm nun die letzte Ehre erwiesen. Der Hornist der Schützenkompanie blies zur letzten Retraite, die schmetternden Töne stiegen wie aufflatternde Vögel in den klaren Winterhimmel und verloren sich, lang noch im Ohr nachhallend, in seiner weißblauen Unendlichkeit.
Gebete, Litaneien liefen unaufhörlich und in monotonem Rhythmus durch den sich langsam vorwärts bewegenden Leichenzug.
Podestas Erzählung
9
Präsident Schmidbruch ging mit Podesta durch den langen Gang, der zum Sitzungssaal führte. Mit gezücktem Schlüssel und starr nach vorne gerichtetem Gesicht schritt Schmidbruch, obwohl an der Seite Podestas, doch eine knappe Schrittlänge voraus. Podesta musterte ihn verstohlen von der Seite und versuchte, ein Gespräch anzufangen. Er deutete auf die bemalten Gangfenster und sagte: „Schöne Glasmalereien.“
„Hm“, antwortete Präsident Schmidbruch kühl.
„Leider verstehe ich nichts von Malerei“, setzte Podesta fort.
„Hm“, antwortete Präsident Schmidbruch merklich kühl.
Wieder einer, der mit mir nur das Notwendigste reden will, dachte sich Podesta und schwieg still. Aufpassen, aufpassen, er will sich anbiedern, dachte Präsident Schmidbruch und nahm sich vor, sollte Podesta noch etwas sagen, nicht mehr „Hm“, sondern nur noch „H“ zu antworten. Daran, so dachte Präsident Schmidbruch, an dieser Nuance müßte Podesta erkennen, daß er mit ihm kein Privatgespräch führen wolle.
„Hm.“
„Wie meinten, Herr Präsident?“
„H.“
Unter Schweigen erreichten sie das Ende des Ganges. Der Sitzungssaal war sehr groß. Ja, man kann ruhig sagen, er hatte – der Bedeutung des Unternehmens, dem er diente, gemäß – riesige Ausmaße. In seiner Mitte stand ein riesiger Marmortisch, der gut acht Meter lang war. An den hell getäfelten Wänden hingen verschiedene Wappen und Porträts bedeutender Persönlichkeiten, die sich um die ISAG verdient gemacht hatten. Podesta entdeckte auch das Bild Schmidbruchs. „Das sind ja Herr Präsident persönlich“, sagte er und deutete mit ausgestrecktem Arm auf das Bild. „Kommen wir zur Sache“, entgegnete Schmidbruch, „meine Zeit ist begrenzt.“
Er führte Podesta an das untere Ende des langen Marmortisches und hieß ihn Platz nehmen. Dann schritt er an das obere Ende und nahm dort Platz. Podesta blickte den langen Tisch hinauf und sagte dann etwas kleinlaut, mehr zu sich selbst als zu Präsident Schmidbruch: „Da sitzen wir aber ziemlich weit auseinander.“
„Das sitzen wir“, entgegnete Schmidbruch. Ihre Stimmen verhallten in dem leeren Saal.
„Sie werden“, begann Schmidbruch, während seine Blicke gelangweilt von einem Bild zum anderen wanderten, „Sie werden an Ihrem Platz unter der Tischplatte ein paar Kopfhörer finden und auf der Tischplatte, das heißt in diese eingebaut, ein Mikrophon bemerken. Bedienen Sie sich beider. Es genügt dann, wenn Sie so leise reden, daß ich Sie normalerweise gar nicht verstehen kann.“
Schmidbruch hatte während der letzten Worte ebenfalls Kopfhörer unter der Tischplatte hervorgeholt und sie aufgesetzt. Er wartete, bis Podesta ebenfalls die Kopfhörer aufhatte, und flüsterte dann ganz leise in das auch an seinem Platz in den Tisch eingebaute Mikrophon: „Es genügt, wenn Sie so leise reden.“
Podesta nickte und sagte mit halblauter Stimme: „Können Sie mich so verstehen?“
Schmidbruch dröhnten die Ohren.
„Leiser“, zischte er zornig zurück.
„Ist das leise genug?“
„Noch etwas leiser.“
„So? Geht das? Ist das recht jetzt?“
„In Ordnung.“
Die Tür ging auf, und im Türspalt erschien der Kopf des Nachtwächters. Seine flinken Mausäuglein durchmaßen den Sitzungssaal mit so schnellen Blicken, daß ihnen die Anwesenheit des Präsidenten Schmidbruch und Podestas ganz entging. Verwundert stellte der Nachtwächter bei sich fest, daß der Saalwart vergessen hatte, das Licht auszulöschen, und griff schon nach dem Schalter, als er im letzen Augenblick noch an den beiden Enden des riesenlangen Sitzungstisches Präsident Schmidbruch und Podesta gewahrte. Sie hatten Kopfhörer umgeschnallt und starrten sich über die lange Tischplatte hin in solcher Intensität mit Operngläsern an, daß sie den Nachtwächter gar nicht bemerkten.
„Verzeihung“, murmelte dieser, „ich wußte nicht, daß der Herr Präsident noch eine Sitzung haben.“ Schmidbruch schien es, als höre er von der Tür her eine Stimme. Er richtete sein Opernglas auf sie hin. Als er niemanden sah, der Nachtwächter hatte sich inzwischen schon zurückgezogen und die Tür wieder sorgfältig geschlossen, fragte er Podesta: „Haben Sie nichts gehört?“
„Nein.“
Hm, dachte Schmidbruch, der Tisch wird doch keinen Fehler haben. Es war ein ganz neuer Tisch, dessen Anschaffung sogar für ein Unternehmen wie die ISAG keine unerheblichen Kosten verursacht hatte. Dieser riesenlange Sitzungstisch war nämlich nicht deshalb so teuer, weil seine Platte aus Marmor und seine Füße aus kunstvoll zusammengekitteten Flaschenhälsen bestanden, sondern war es deshalb, weil er mit der neuesten Top-Secret-Anlage versehen war.
(Top-Secret, ein Spitzenerzeugnis elektro-akustischer Qualitätsarbeit, in Amerika zuerst entwickelt, sichert jede Konferenz vor unliebsamen Mithörern, die mit ihren raffiniertest verborgenen Abhörapparaten bisher auch das leisest geführte Gespräch zu belauschen imstande waren. Top-Secret – niemand kann mithören – stellt die durch die enorme Entwicklung der Abhörapparate tödlich bedrohte Freiheit der Geheimhaltung geschäftlicher Absprachen wieder her. Kein Konferenztisch ohne Top-Secret.)
„Kann ich beginnen?“ fragte jetzt Podesta, ohne daß ein Wort zu hören war, in das Tischmikrophon hinein.
„Beginnen Sie“, hauchte Schmidbruch zurück.
„Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, ich …“
„Was Sie mir bereits mitgeteilt haben, brauchen Sie mir nicht noch einmal erzählen. Einen weiblichen Freßrobot haben Sie bis jetzt fertiggestellt, Sie werden nun noch ein männliches Modell bauen. Wieviel Geld brauchen Sie noch, bis wann kann ich mit einer Probevorführung beider Modelle rechnen? Das ist alles, was ich von Ihnen zu erfahren wünsche.“
„Ich benötige für den Bau eines männlichen Freßrobots mindestens noch einmal zweitausend, wahrscheinlich aber dreitausend Freiheiten.“
(Eine Freiheit ist zehn Kronen; diese Obereinteilung des Geldes erregte bei ihrer Einführung manche Polemiken. Sozialistische Kreise verteidigten sie mit dem Hinweis, Geld sei Arbeit und nur der verdiene Freiheiten, der sich durch Arbeit Geld verdiene. Die Kommunisten erklärten, dieses Argument stimme nur unter den Gegebenheiten eines kommunistischen Staates, in den kapitalistischen Staaten komme eine solche Obereinteilung des Geldes einer kapitalistischen Selbstentlarvung kapitalistischer Lohnsklaverei gleich. Romantisch bestimmte Theoretiker der nationalen Partei lehnten diese Obereinteilung des Geldes auf das entschiedenste ab. Geld, so sagten sie, sei etwas schändlich Schmutziges, der Begriff der Freiheit jedoch etwas so Edles und Hehres, daß es ein Kulturgreuel ersten Ranges sei, die hehre Freiheit durch das schmutzige Geld auszudrücken. Der Finanzminister jedoch, der diese Obereinteilung einführte, ein kurz angebundener Mann, empfahl sie damit, daß man als Einheitsbezeichnung eines größeren Geldbetrages einen glanzvollen Namen wählen müsse, und da wisse er keinen, der glanzvoller sei als der der Freiheit. Ein weiterer Vorteil sei, daß die Freiheit nicht ein in den Wolken schwebendes, unerreichbares Ideal sei, sondern eine ganz konkrete Sache, die in allen Staaten der Erde gehandelt werde und daher für den internationalen Zahlungsverkehr, für den diese Obereinteilung des Geldes ja hauptsächlich eingeführt werde, besonders geeignet sei. Man hätte, so der Finanzminister, aus diesem Grunde auch Frieden als Obereinheit wählen können, auch Frieden sei eine konkrete Sache und werde international gehandelt, aber er gebe zu bedenken, daß man unausbleiblich zur Zielscheibe der Kabarettisten und ähnlich übelwollender Leute werden würde, wenn man etwa Rüstungsaufträge in der Folge mit zigtausend Frieden bezahle. Jedermann müsse eingestehen, daß sich aus all diesen Erwägungen heraus Freiheit besser als Bezeichnung der neuen Obereinheit des Geldes eigne. Im übrigen, so schloß der Finanzminister seine diesbezügliche Rede vor dem Parlament mit dem ihm eigenen sarkastischtrockenen Humor, habe Freiheit mit dem Geld eine uralte Eigenschaft gemein: non olet, woher man beide auch bekomme.)
„Ich lasse Ihnen in den nächsten Tagen dreitausend Freiheiten überweisen. Wann sind beide Modelle zur Probevorführung bereit?“
„Ich brauche zum Bau des männlichen Freßrobots mindestens noch sechs Wochen.“
„Gut“, Schmidbruch zog einen Taschenkalender heraus, „sagen wir sieben Wochen, dann würde ich für den Achtundzwanzigsten des nächsten Monats die Probevorführung ansetzen. Ist Ihnen das recht?“
„Einverstanden, Herr Präsident.“
„Gut, dann können wir gehen. Die Besprechung ist beendet.“ Sie gingen hinaus. Der Regen hatte nachgelassen.
Schmidbruch nickte Podesta kurz zu, stieg in seine Limousine und brauste davon.
Podesta duckte seinen Kopf tief in den hochgestellten Kragen seines Mantels, steckte beide Hände tief in die Manteltaschen und schlenderte langsam die im Schein der Laternen matt glänzende Straße hinab. Manchmal blieb er vor einer der hell erleuchteten Auslagen stehen, blickte gedankenlos hinein, ging wieder weiter. Aus der halboffenen Tür eines Bierlokals dröhnten die grölenden Stimmen von Betrunkenen: … und träumt von einem Mägdelein.
Podesta träumte nicht von einem Mägdelein. Was denkt wohl ein Mann wie Podesta, wenn er spätnachts allein durch eine vom Regen leergeschwemmte Straße geht?
Podesta dachte an den Flug der Tauben, der grauen Vögel, die durch die engen Gassen seiner südlichen Heimatstadt fliegen, handhoch über das bucklige Pflaster dahinsegeln und dann mit wenigen Flügelschlägen den Himmel erreichen, der sich weit und herrlich über die windschiefen Dächer wölbt.