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ОглавлениеDer Winter wurde kalt. Um abends einschlafen zu können, wickelte Philipp sich das seitenstarke »Neue Deutschland« um die Füße. Gegen Mitternacht aber wurde er regelmäßig wach. Die Geräusche der tieffliegenden Luftbrückenmaschinen, die in Minutenabständen zur Landung in Tempelhof ansetzten, und die Wärme des Ofens unterbrachen seinen Schlaf. Er musste lernen, dass der große Kachelofen nach dem Anheizen Stunden zum Sammeln der Wärme brauchte, um diese dann viel später abzustrahlen. Die Wirtin bot sich an, gegen einen Mietaufpreis den Ofen schon vorher anzuheizen. Das aber konnte Philipp sich nicht leisten. Er musste mit dem Geld, aber auch mit seiner knappen Brikettzuteilung haushalten. Der Erfolg war am Abend ein kaltes und spät in der Nacht ein überheiztes Zimmer. Die Zeitung und das Federbett, zur Einschlafzeit sehr nötig, waren ab Mitternacht überflüssig.
Christian erzählte, dass er seit einigen Tagen seine Schularbeiten im Haus der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion machte, und riet Philipp, den Ofen kalt zu lassen, die Briketts für das Wochenende zu sparen und auch dorthin zu kommen. Dieses Haus, nahe der Uni zwischen der Neuen Wache und dem Kastanienwäldchen gelegen, wurde von den Berlinern weiterhin Singakademie genannt. Dort gab es einen warmen Raum, in dem man sich aufhalten durfte.
Anfangs hatte Christian geglaubt, seine Schularbeiten während der Fahrt von und nach Potsdam machen zu können. Aber durch die vielen Menschen in der S-Bahn fand er nicht immer einen Sitzplatz und dann auch nicht die notwendige Konzentration. Zu Hause wollte er sich so wenig wie möglich aufhalten, um dem neuen Partner der Mutter aus dem Wege zu gehen. Wenn er von ihm sprach, redete er nur von dem Dicken und schimpfte auf ihn. Die Mutter müsse diesen Eindringling bedienen, als sei sie seine Angestellte. Schon am Morgen vor dem Aufstehen brächte sie ihm eine Flasche Wein und ein Glas ans Bett, schenke ihm so oft ein, bis er die Flasche geleert habe. Erst dann stände er auf, torkele mit glasigen Augen durch die Wohnung und nörgele an allem und jedem herum. Sicher, der Dicke habe selber den Wein bei den Russen geklaut, er sei also sein Eigentum, und er könne damit machen, was er wolle. Aber er lebe nun mal in dieser Familie, und was könne man alles eintauschen gegen den vielen Wein. Die Mutter schwiege zu alledem, bediene die Großmutter und den Dicken und ginge ihren Tauschgeschäften nach mit dem, was er sonst noch mitbrächte.
Maria Koscheks Vater, Oberst Albert von Sasse, war Berufssoldat und aus einer Familie, in welcher der Offiziersberuf Tradition hatte. Ihre Mutter, Edelgard von Kleist, stammte wie letztlich alle von Kleists aus einem pommerschen Adelsgeschlecht, das sich bis auf das 13. Jahrhundert zurückverfolgen ließ. Ihre direkten Vorfahren waren auch Soldaten. Stolz war sie aber auf einen früheren Vorfahren, Franz Alexander von Kleist, der im 18. Jahrhundert gelebt hat. Auch er war erst im Militärdienst, trat aber bald aus und brachte es als eine Art Modedichter in seiner Zeit zu einiger Berühmtheit. Edelgard besaß sein wohl bekanntestes Buch »Das Glück der Ehe«, an dem sie bis zum Hungertode ihres Mannes nach dem verlorenen Krieg ihren Ehealltag zu messen pflegte.
Die von Sasses hatten zwei Töchter und zum Kummer des Vaters keinen Sohn. Cäcilie, die ältere Tochter, brach früh die Schule ab, lernte einen Monteur kennen, der vorübergehend beim Brückenbau in Potsdam beschäftigt war, folgte ihm nach Essen und heiratete ihn gegen den Willen ihrer Eltern. Die Ehe war glücklich; sie bekamen vier Kinder. Cäcilies Mann war fleißig und brachte es in der Firma Krupp bis zum Meister. Oberst von Sasse aber sagte sich von seiner ältesten Tochter los und verbot seiner Frau, seiner zweiten Tochter Maria und auch dem Hausmädchen Trude, an der Cäcilie sehr hing, den Kontakt mit diesen Proleten.
Maria war in ihrer Jugend aufgeschlossen und lebenslustig. Schon als junges Mädchen war sie etwas füllig. Ihr zu einem Knoten gebundenes schwarzes Haar, die lebhaften Augen, ihr herausfordernder Blick und ihre kecken Bewegungen hatten etwas Provozierendes. Sie schaffte die Mädchenbildungsanstalt nur dank der Intervention des Vaters und besuchte anschließend die Hauswirtschaftsschule. Trotz mancher Schwierigkeiten in der Erziehung war diese Tochter doch der Liebling ihres Vaters und − wie er zu sagen pflegte − ersetzte ihm den fehlenden Sohn. Als der Oberst bemerkte, dass seine Tochter sich auffallend stark für das andere Geschlecht zu interessieren begann, nahmen er und seine Frau sie zu den Offiziersbällen mit. Er wollte nichts dem Zufall überlassen. Maria lernte auch eine stattliche Anzahl junger Reichswehroffiziere kennen, und weil sie sich leicht hingab, pflegte sie auch bald zu vielen intime Beziehungen. Immer aber, wenn die Liebhaber in Uniform merkten, dass die Eltern ihres Liebchens sie zu binden trachteten, suchten sie das Weite. So brachten die Ungeschicklichkeit der Eltern und die aufgeschlossene Art Marias ihr in Offizierskreisen bald den Ruf ein, sie sei eine Festung, die zu erobern wenig Ruhm bedeutete.
Schließlich traf Maria auf einem der Bälle im Offiziersclub einen polnischen Offizier, der von ihrem Ruf noch nichts wusste. Er hieß Roman Koschek, war Militärvizeattaché in der polnischen Botschaft in Berlin und trug, so fand Maria, die schönste Uniform von allen anwesenden Offizieren. Hochaufgeschossen, hielt er sich kerzengerade und war mit seinem kurzen, blonden Haar beinahe der ideale nordische Typ, wären da nicht seine linkischen Bewegungen und seine beim Gehen ein wenig zu sehr nach außen gestellten Füße gewesen.
An diesem Abend tanzte sie nur noch mit dem Polen. Bald wurden ihre Umarmungen enger. Maria ließ es geschehen, ermutigte ihn, indem sie ihren Busen und dann ihren ganzen Körper an seiner Uniform rieb. Vom Tanzen erhitzt, gingen sie in einer Pause in den Park, um sich abzukühlen. Sie schritten nebeneinander her, Roman erzählte von Polen und dass er vom Ministerpräsidenten Marschall Pilsudski persönlich für den Berliner Posten ausgewählt worden sei. Der Marschall habe ihm gesagt, dass er noch viel mit ihm vorhabe. Sie kamen tiefer in den Park. Das Mondlicht ließ die Epauletten und die Messingknöpfe an seiner Uniform aufblinken.
Viele seiner Mitschüler, erzählte Roman Koschek, hätten als Fremdsprache Französisch gelernt, er aber habe sich immer schon für Deutschland interessiert und die deutsche Sprache vorgezogen. Und jetzt sei er froh hier zu sein, in dem Land, von dem man so viel lernen könne.
Sie waren inzwischen stehen geblieben. Maria lehnte an einem Baum, und Roman stand vor ihr. Mit leicht geöffnetem Mund lauschte sie seinen Worten. Er berührte ihren Arm, ihre Schulter, presste mit beiden Händen ihren Busen und küsste sie. Dann versuchte er ihren Rock zu heben, stellte sich aber so ungeschickt dabei an, dass sie ihm helfen musste. Er ließ seine Hosen runter und liebte sie stehend. Maria wehrte sich nicht. Als er aber, erhitzt von der Liebe, seinen Rock öffnen wollte, protestierte sie.
»Bitte nicht, lass den Uniformrock geschlossen!«
Von dem Abend an trafen sie sich immer, wenn ihre Zeiten es erlaubten oder Maria einfach die Hauswirtschaftsschule schwänzte, an sonnigen Tagen im Grunewald, oder sie gingen in ein Hotel. Roman wollte, um möglichst unauffällig zu bleiben, in Zivil kommen. Maria aber bestand darauf, dass er seine Uniform anzog. So stieg an manchen Tagen mit Sonnenschein ein junger polnischer Offizier mit einem Diplomatenkoffer an der Station Grunewald aus der S-Bahn und strebte dem nächsten Waldweg zu. In dem Koffer führte er eine Wolldecke mit.
Als Maria schwanger wurde, waren die Verliebten zuerst ratlos, entschlossen sich aber dann, dass Maria es ihren Eltern sagen und mit ihnen beraten solle, was zu tun sei. Der erste Gedanke von Vater von Sasse war, einen befreundeten Arzt aufzusuchen und einen Eingriff vornehmen zu lassen. Ein Pole! Konnte es denn kein Deutscher sein? Da kannte sie nun so viele deutsche Offiziere, und ausgerechnet der erste Offizier einer slawischen Rasse, den sie kennen lernte, musste es sein. Dass diese Rasse der germanischen unterlegen war, daran gab es ja wohl keinen Zweifel. Sicher, in letzter Zeit hörte man auch Gutes über Polen. Der junge Mann sei ein Schützling von Marschall Pilsudski? Der Marschall hatte doch erst im letzten Jahr die ganze polnische Regierungsclique aus Zivilisten weggejagt und sorgte seitdem für Ordnung in dem Land. An so einem Soldaten konnten sich die Deutschen nun wirklich mal ein Beispiel nehmen.
Frau von Sasse hatte noch Bedenken wegen der Religion. Alle Polen waren katholisch und pilgerten ständig zur Muttergottes nach Tschenstochau, das wusste man doch. Ganz sicher war er auch katholisch. Und eine Mischehe, das würde bestimmt Probleme geben. Aber der Oberst zerstreute ihre Bedenken. Religion sei Weiberkram, da redete ein Offizier seiner Frau nicht rein, und im Übrigen: Jeder solle nach seiner Façon selig werden, das kenne sie doch. Dafür allerdings müsse die Frau ihrem Manne folgen, wohin immer sein Weg ihn auch führe. Und dass der junge Mann, wenn er Karriere machen wolle, nicht nur in Deutschland bleiben könne, das wäre nun mal so sicher wie Blüchers Sieg über Napoleon. Roman Koschek durfte seinen Antrittsbesuch machen. Er gefiel und gewann im Gespräch von Soldat zu Soldat mit jeder Minute hinzu. Dass er allerdings aus einer Familie von Kleinbauern stammte, fand der Oberst nicht sehr erfreulich, aber woher sollte er sonst wohl auch stammen, wenn er aus einem Land war, in dem es neben einigen anständigen Adligen nur Kleinbauern gab. Immerhin, da sah man doch wieder, wer das Soldatsein im Blut hatte, der setzte sich durch, auch wenn er aus einer niedrigen Schicht stammte. Die Schwangerschaft blieb. Sicher würde es ein Junge, und wenn der aus beiden Familien das Soldatische erbte, so konnte es nur gut gehen.
Nun drängte die Zeit. Vieles war zu bedenken und zu regeln. Papiere aus Polen mussten beschafft werden, die Zustimmungen der polnischen Botschaft und der deutschen Behörden waren nötig, was einige Zeit dauerte. Edelgard von Sasse mahnte immer wieder zur Eile, denn man sah inzwischen bei ihrer Tochter schon ein kleines Bäuchlein, und die Mutter wollte doch so gerne ihr Kind in Weiß heiraten sehen, besonders nach der Enttäuschung mit ihrer Ältesten.
Am Ende wurde alles gut. Es war eine Hochzeit nach dem Wunsch der Brautmutter: die Braut ganz in Weiß und der Bräutigam in seiner Gala-Uniform. Unter den Gästen überwogen die deutschen Offiziere, wenn auch die wenigen polnischen schon wegen der verbreiteten Unkenntnis über deren Uniformen bei den Damen mehr Aufmerksamkeit fanden. Nur Romans Eltern konnten nicht an der Hochzeitsfeier teilnehmen. Beide bedauerten das aufrichtig, aber sie seien krank, wie der Bräutigam sagte.
In der ersten Zeit wohnte das junge Paar mit Zustimmung der polnischen Botschaft im Hause der Brauteltern. Man wollte gemeinsam und in Ruhe eine standesgemäße Wohnung in der Nähe suchen. Dazu kam es aber nicht mehr. Roman erhielt noch in den Flitterwochen einen Befehl, sich umgehend bei dem Standortkommando in Krakau zu melden. Seinen Posten in der Berliner Botschaft erhielt ein anderer.
Maria und ihre Eltern waren sehr besorgt. Was war geschehen? Marschall Pilsudski war als Ministerpräsident zurückgetreten, blieb aber Kriegsminister und wollte mit Hilfe der Armee weiter Ordnung in Polen schaffen. Dafür brauchte er alle ihm ergebenen Offiziere vor Ort.
Roman nahm tränenreichen Abschied von seiner Frau und seinen Schwiegereltern. Sie wussten nicht, wie lange die Trennung dauern würde. Kaum aber hatte der frischgebackene Ehemann in Krakau seine Arbeit in der Kommandantur aufgenommen, besorgte er eine vorläufige Wohnung und ließ Maria nachkommen. Noch vor Wintereinbruch gebar sie einen gesunden Sohn; sie nannten ihn Christian.
Polen hatte einen neuen Bürger, bis seine Mutter − nun schon Witwe − unter deutscher Besatzung einen Antrag stellte, der da lautete: Antrag auf Wiedereindeutschung verloren gegangenen deutschen Blutes. Dem Antrag wurde stattgegeben.