Читать книгу Gesang der Lerchen - Otto Sindram - Страница 17

10

Оглавление

Philipp arbeitete in den Semesterferien in einer Duisburger Gärtnerei, um sein Stipendium durch Westgeld aufzubessern. Der Gärtnereibesitzer hielt ihm bei der Einstellung einen Vortrag über die Vorteile der freien Marktwirtschaft und dass seit der Gründung der Bundesrepublik es jeder zu etwas bringen könne, wenn er nur tüchtig zupacke.

Philipp musste mit vielen anderen an den Emscherböschungen das Gras kurzschneiden. Die Emscher war früher ein Fluss, jetzt aber war sie kanalisiert und führte nur stinkende Industrieabwässer.

»Pass bei der Arbeit auf, dass du da nicht hineinrutschst«, warnte ihn der Vorarbeiter, »lebend kommst du aus der Chemiebrühe nicht wieder raus.«

Immer nach der Frühstückspause verschwanden die anderen Arbeiter für einige Zeit, und Philipp war mit dem Vorarbeiter allein.

»Was ist mit denen, wo gehen die alle hin?«, fragte er.

»Das sind alles Arbeitslose, die müssen sich täglich beim Arbeitsamt melden, sonst verlieren sie ihre Unterstützung. Das ist für den Alten ein gutes Geschäft, aber auch für die Arbeitslosen.«

Einen Teil von seinem Lohn gab Philipp seiner Mutter, den Rest nahm er mit.

Als er nach Berlin zurückkehrte, war er reich. Er rechnete sich aus: Das Westgeld, in Westberlin umgetauscht in − wenn der Kurs günstig war − bis zu sechsmal so viel Ostmark, machte mehr als drei Monate Stipendium aus.

Zuerst aber ging Philipp nach Karlshorst und lieferte den Stadtplan ab. In dem Büro saß ein ihm unbekannter Offizier. Philipp fragte nach dem Vorgänger und zeigte den Stadtplan. Der Mann sprang auf und holte aus dem Nebenraum einen weiteren Offizier dazu. Sie legten Philipp eine Art Verbrecherkartei vor, und er musste seinen Auftraggeber heraussuchen. Dann prasselten die Fragen der beiden Männer auf ihn ein: Wann, wo, wie oft er sich mit diesem Staatsfeind getroffen habe.

Die Offiziere drohten: »Geben Sie zu, Sie haben gegen die Sowjetunion gearbeitet! Wir wissen alles!«

Philipp erzählte immer wieder, wie der Offizier ihn um den Plan gebeten und dass er den Mann nie vorher gesehen habe. Endlich durfte er gehen. Der Stadtplan wurde einbehalten; Geld für seine Auslagen bekam er nicht.

Nach seiner späteren Flucht in den Westen erzählte er manchmal, dass die Sowjetunion ihm noch Dreimarkzwanzig in Westwährung schulde. Als aber das Riesenreich pleite war, sagte er: »Nun werde ich mein Geld wohl nie mehr bekommen.«

Am zweiten Tag nach seiner Rückkehr fuhr Philipp in den Westsektor, um seinen Ferienlohn umzutauschen. In der Schlange vor der Wechselstube am Bahnhof Zoo sah er Werner Peitz, den neuen Klassensprecher. Philipp wusste, dass Werner ein Genosse war. Als der Philipp sah, versuchte er sich hinter den anderen Wartenden zu verstecken, aber Philipp ging auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich.

»Man muss das ja mal kennen lernen«, sagte Werner.

»Genau!«, sagte Philipp, »nur darum bin ich auch hier.«

Wieder in Ostberlin, ging Philipp zuerst in einen HO-Laden, um einzukaufen. Endlich konnte er sich Lebensmittel leisten, welche auf Marken nicht zu bekommen waren und für die ihm sonst das Geld fehlte. Als er den Laden verließ und die Rechnung überdachte, stellte er fest, dass er für diesen Einkauf im Westen sicher den doppelten Betrag hätte zahlen müssen.

Draußen standen eine Frau und ein Kind und betrachteten die Schaufensterauslagen.

»Mutti, ich möchte auch mal Milch haben«, bettelte das Kind.

»Das können wir uns nicht leisten«, entgegnete die Mutter.

Als Philipp am ersten Unterrichtstag nach den Ferien das Schulgebäude betrat, fiel ihm zuerst das neue Schild auf: Arbeiter- und Bauernfakultät ABF der Humboldt-Universität Berlin.

Philipp dachte zunächst daran, dass sie ab sofort nicht mehr wie bisher ihr Kotikow-Süppchen im Keller stehend löffeln mussten, sondern wie richtige Studenten in der Mensa im Sitzen essen konnten.

Werner Peitz, der ein Oberschul-Abbrecher und Sohn eines Geschichtsprofessors war, wollte erreichen, dass die Klasse ab jetzt allmorgendlich vor dem Unterrichtsbeginn ein fortschrittliches Lied sang und jemand einen Tagesspruch aufsagte, aber die Mehrheit war dagegen.

Christian erzählte Philipp, dass er in die Partei eingetreten sei und jetzt in dem Studentenheim in der Wilhelmstraße wohne.

»Es war nicht leicht, einen Platz zu bekommen«, sagte er. »Aber mit dem Dicken ging es nicht mehr so weiter, und die Fahrerei kostete zu viel Zeit.« Philipp verstand. Er war neugierig und ließ sich die Heimvorteile schildern. »Gleich hinter dem Heim ist die Musikhochschule. Viele von den Musikstudentinnen wohnen im Heim. Ich habe schon an dich gedacht und dich für einen Platz vormerken lassen. Jetzt wohne ich noch in einem Achtbettzimmer. Ich besorge uns ein Zweibettzimmer; lass mich nur machen.«

Ruth war aus den Ferien nicht zurückgekehrt. Angela zeigte einen Brief, in dem Ruth ihr mitgeteilt hatte, dass sie bald Karl, den Lehrer, heiraten werde.

»Sie ist schwanger«, sagte Angela.

»Da muss sie doch nicht gleich den ersten besten Trottel heiraten«, empörte sich Christian, und zu Philipp: »Das Wegmachen hätte ich doch bezahlt, für Westgeld kein Problem. Sie hat es ja sowieso von uns.«

Christian bot Philipp eine Besichtigung des Studentenheims an und lud ihn ein, künftig mit ihm im Heim die Schularbeiten zu machen statt in der Singakademie.

Das Heim in der Wilhelmstraße war in einem der wenigen unbeschädigten Gebäude untergebracht. Rechts und links davon waren Trümmerfelder. Das Haus hatte vier Etagen und war im neobarocken Stil erbaut. Der Eingang, ein über zwei Etagen reichendes Portal, eingefasst von zwei Säulen, die einen Balkon trugen, wirkte einschüchternd auf Philipp. Zwei Etagen waren mit weiblichen Studierenden belegt. Auf der ersten Etage und im Keller waren die Männer untergebracht. In Parterre gab es einen großen Aufenthaltsraum, einen Musikraum und einen Saal für Versammlungen.

»Hier im Aufenthaltsraum können wir erst einmal unsere Schularbeiten machen«, meinte Christian.

Im Musikraum stand ein Flügel. Christian spielte die Pathétique-Sonate an. Bei dem weiteren Rundgang trafen sie Werner, der auch im Heim wohnte.

»Bist du nicht Berliner?«, fragte Philipp ihn.

»Ja, schon, aber wir haben wenig Platz zu Hause.«

Er erklärte ihnen, von seinem Vater wisse er, dass in diesem Gebäude vor dem Ersten Weltkrieg das Geheime Zivilkabinett von Wilhelm dem Zweiten war, in der Weimarzeit der Preußische Ministerpräsident Otto Braun hier seine Dienstwohnung hatte, später der Präsident des Preußischen Staatsrates Dr. Konrad Adenauer in diesem Haus gewohnt habe und in der Nazizeit hier die Büros von Rudolf Hess und später von Bormann waren. Er wandte sich an Christian.

»Hast du Philipp schon die andere Straßenseite gezeigt? Das müsst ihr euch unbedingt anschauen. Die Reste des Tausendjährigen Reiches, die muss man gesehen haben, ehe sie abgerissen werden.«

Damit verabschiedete er sich, denn er müsse noch die große Kundgebung mitvorbereiten.

»Ihr kommt doch auch?«

»Ganz sicher«, sagte Christian. Auf dem Wege zur gegenüberliegenden Straßenseite berichtete Philipp von der Begegnung mit Werner in Westberlin. Christian schimpfte: »Du bist doch so was von naiv! Wie konntest du nur zu ihm hingehen und ihn begrüßen! Jetzt weiß er, du kennst einen dunklen Punkt von ihm; das wird er dir nicht verzeihen. Sieh dich vor, du hast nun einen Feind! Ich muss doch besser auf dich aufpassen.«

Damit schaute er Philipp an, doch dieser sah in den sonst eher kalten Augen seines Freundes keinen Zorn, sondern nur Liebe.

Sie durchstöberten die stark beschädigte Neue Reichskanzlei, gingen durch die große Halle mit den vielen Säulen, stiegen über Trümmer einige Stufen hoch und kamen in einen großen Raum. Das Dach war beschädigt, es hatte reingeregnet. Durch die Lücken sahen sie die Wolken am Himmel ziehen. Der Raum musste einmal mit Holz getäfelt gewesen sein. Aus den Wänden schauten lauter Schrauben und Nägel hervor, an denen noch Holzsplitter zu sehen waren.

»Hier war sein Reich«, sagte Christian. »Das Holz haben die Berliner geklaut und verfeuert.«

Philipp war betroffen.

»Seltsam, wir stehen jetzt hier, und von diesem Ort sind noch vor wenigen Jahren so viele Verbrechen ausgegangen.«

Christian nahm einen Stein auf, betrachtete ihn und warf ihn wieder weg.

»Wenn der Arsch nicht so größenwahnsinnig gewesen wäre. Nach Polen hätte er erst einmal aufhören müssen.«

»Dann wäre er womöglich heute noch unser Führer, und wir zwei wären Soldaten irgendwo in der Welt, vielleicht in Sibirien oder in Afrika.«

»Ich wäre Offizier, das bin ich schon meiner Familie schuldig.«

»Und ich dein Stiefelputzer. Zum Glück haben England und Frankreich Hitler sofort nach dem Einmarsch in Polen den Krieg erklärt.«

»Egal, das musste er gar nicht beachten. Den Krieg haben sie ihm erklärt, aber als Polen um Hilfe gebettelt hat, haben sie die Ohren zugemacht und nicht geholfen.«

»Dafür«, sagte Philipp ironisch, »hat der weise Führer des Proletariats und Garant des Weltfriedens die Polen befreit − von ihrer Osthälfte, hat halb Polen geklaut.«

»Sag das nur nicht so laut«, warnte Christian.

»Du meinst, ich darf in Hitlers Arbeitszimmer nichts gegen Stalin sagen?«

Sie gingen weiter, stiegen wieder über Trümmer und kamen zum Bunker. Christian zeigte auf den Eingang.

»Schau her, hier hat er zuletzt gehaust, statt abzuhauen.«

»Als Vegetarier wollte er wohl lieber ins Gras beißen«, bemerkte Philipp.

»Und dann, bevor er sich erschießt, heiratet er ausgerechnet so ein deutsches Dummerchen, das auch noch Eva hieß«, empörte sich Christian. »Sein Deutscher Schäferhund hieß Blondie, der musste auch den Heldentot sterben, original Bayreuth.«

Sie stöberten weiter. Christian zeigte auf die Trümmer.

»Hier irgendwo hat man die drei Leichen verbrannt.«

»Zwei Leichen und einen Kadaver«, korrigierte Philipp.

Im Weitergehen passierten sie ein großes Schild, auf dem stand: Achtung! Sie verlassen den Demokratischen Sektor von Berlin. Um dieses Schild herum standen nur Ruinen und Trümmer. Kurz darauf sahen sie wieder ein Schild: Hier beginnt der Sektor der Freiheit.

»Das war mal der Potsdamer Platz«, bemerkte Christian.

Zwischen den Ruinen sahen sie ein weiteres Schild mit der Aufschrift Kino und dahinter eine notdürftig hergerichtete Fassade, beklebt mit Filmplakaten. Laufender Eintritt, stand auf einem Plakat und: Ostberliner können gegen Vorlage ihres Personalausweises in Ostmark bezahlen.

»Gehen wir ins Kino, ich lade dich ein«, sagte Philipp.

Der Film lief schon. Eine Platzanweiserin gab es nicht. Sie tasteten sich zu den ersten besten Plätzen und setzten sich. Auf der Leinwand sahen und hörten sie, wie ein Mann und eine junge Frau sich stritten. Der Mann verlangte das Kleid der Frau zurück, weil es angeblich ein Geschenk von ihm war. Sie zog es aus und gab es ihm. Der Mann verschwand damit von der Leinwand. Die Frau war unter dem Kleid nackt. Sie stellte sich vor einen Spiegel, betrachtete ihren Körper, strich mit ihren Händen über ihre Brüste und ihren Leib und stöhnte. Sie stöhnte und sprach auf einmal nicht mehr Deutsch.

»Oh my body!,« sagte sie wiederholt und stöhnte und stöhnte auf englisch.

»Gehen wir?«, fragte Christian.

»Gehen wir!«, entschied Philipp.

Draußen begann es zu dunkeln. Sie gingen über die Leipziger Straße zurück zur Wilhelmstraße.

»Ich bringe dich noch ein Stück Richtung Alex«, bot Christian Philipp an.

Vorbei am Studentenheim, bogen sie in die Behrenstraße ein. Ein Volkspolizist hielt sie an und ließ sich ihre Personalausweise zeigen. Neben der Komischen Oper war eine Kneipe.

»Wollen wir uns besaufen?«, fragte Philipp.

In der Kneipe waren wenige Gäste. Es war ungemütlich kalt, und es roch nach altem Tabakrauch. Sie tranken kurz hintereinander einige Biere und gingen bald wieder. Als sie in die Straße Unter den Linden einbogen, sahen sie vor sich das Gebäude der Friedrich-Wilhelm-Universität, die seit einiger Zeit Humboldt-Universität hieß. Davor waren im Lichte der Laternen die beiden Humboldts auf ihren Sockeln zu erkennen. Christian und Philipp gingen weiter und sahen links und rechts vor der Neuen Wache zwei verwaiste Sockel.

»Wer möchtest du sein?«, fragte Philipp. »Ich lass dir die Wahl.«

»Da kommst du doch nicht rauf«, wehrte Christian ab.

Philipp wählte den Sockel mit der Aufschrift Scharnhorst, trat auf die Kante der unteren Einfassung, hielt sich am Kopf des aus dem Stein hervorspringenden Adlers fest, zog sich hoch, trat dem Adler erst auf die Krallen, dann auf den Kopf und war oben. Er stellte sich auf und reckte die Arme hoch.

»Vorwärts Soldaten, auf in den Kampf für das Vaterland! Ich hole Verpflegung«, rief er.

»Komm runter, da kommen Leute!«, warnte Christian.

Aber das Herunterkommen war weniger leicht als der Aufstieg, und so stand Philipp noch, als die Leute sie erreicht hatten. Es waren junge Menschen in Blauhemden. Sie trugen eingerollte Transparente und Fahnen mit sich.

»Freundschaft!«, rief Philipp und winkte zu ihnen runter.

Sie schauten erstaunt und belustigt hoch und grüßten zurück: »Freundschaft!«, traten näher, lasen den Namen und riefen wiederholt: »Freundschaft!« und: »Hallo, Genosse Scharnhorst!«

»Wo wollt ihr denn hin, Friedensfreunde?«, fragte Philipp.

»Wir kommen von der Kundgebung. Heute ist doch die Deutsche Demokratische Republik gegründet worden.«

Während Christian auf der Verkehrsinsel am Alex noch mit auf die Straßenbahn wartete, begann es leicht zu regnen.

»Geh los!«, sagte Philipp, »du wirst sonst noch gehörig nass.«

»Macht nichts; wenn ich dich nicht in die Bahn setze, machst du womöglich noch mehr Unsinn.«

Eine junge, adrett gekleidete Dame trat auf die beiden zu und sprach sie an.

»Ungemütlich heute Abend; wollen Sie sich nicht ein wenig bei mir aufwärmen?«

Philipp fühlte sich geschmeichelt.

»Was nimmst du?«, fragte Christian sie.

»Einzeln je zwanzig Mark, zusammen dreißig.«

Da verstand Philipp und war enttäuscht, gleichzeitig aber auch neugierig geworden.

»Gehen wir uns für dreißig Mark aufwärmen?«

»Dann zahle ich aber«, bot Christian an.

Sie gingen mit in Richtung Scheunenviertel. Gleich hinter dem Polizeipräsidium kam ihnen eine Gruppe lärmender Menschen entgegen. Es waren zwei Männer und drei Frauen.

»Wo wollt ihr hin?«, fragte die als Dame verkleidete Hure.

»Komm mit!«, riefen die Frauen. »Wir sind zu einer Feier eingeladen.«

»Was feiern wir denn?«

Einer der Männer schwenkte eine Flasche.

»Wir feiern die Staatsgründung, komm mit!«

Christian und Philipp waren wieder allein.

Als Philipp sein Zimmer betrat, lag auf dem Tisch ein Telegramm. Er riss es auf und las: Papa auf Zeche verunglückt stopp Dienstag Beerdigung stopp Mama.

Er war sofort nüchtern, traurig und ratlos.

Philipp hatte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater gehabt. Er wollte nicht verstehen, dass der Alkohol so sehr Besitz von einem Menschen ergreifen und ihn so verändern konnte. Er dachte daran, wie stolz er als Kind auf seinen Vater gewesen war. In dem kalten Zimmer am Tisch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt, starrte er auf das Telegramm. Ein Bild aus seiner frühen Kindheit kam ihm in den Sinn: Opa Ferdinand hat den Vater gebeten, die Wiese an der Scheune zu mähen. Der Vater nimmt Philipp mit, setzt ihn am Rand der Wiese ins Gras, ergreift die Sense und beginnt zu mähen. Er führt die Sense mit weitem Bogen durch das hohe Gras, unterbricht kurz, zieht das Hemd aus und mäht mit bloßem Oberkörper weiter. Ein Nachbar kommt, stapft durch das gemähte Gras, redet eine Weile mit dem Vater und reicht ihm einen Brief. Auf seine Sense gestützt, liest der Vater darin, reicht den Brief zurück und sagt: »Ja, Emil, da wirst du wohl zahlen müssen.« »Na ja«, sagt Emil, »wenn du meinst, dann zahle ich eben«, steckt den Brief in die Hosentasche und stapft wieder zurück. Der Vater nimmt aus der Gesäßtasche einen Wetzstein, streicht damit einige Male über das Sensenblatt und mäht weiter. Philipp schaut auf den muskulösen, braungebrannten und schweißbedeckten Oberkörper des Vaters, atmet tief den Geruch der gemähten Wiese, hört das Zirpen der Heuschrecken und sieht dem Flug eines Schmetterlings nach.

Einen Interzonenpass werde ich nach so kurzer Zeit nicht wieder bekommen, dachte Philipp. Außerdem begann das Wochenende. Was sollte er tun?

Sophie! Sie war Genossin, sprach perfekt Russisch, war die Tochter einer bekannten Funktionärin und eines von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfers. Philipp fuhr am späten Abend noch nach Weißensee. Gemeinsam überlegten sie, was zu tun sei. Endlich wusste Sophie eine Lösung.

»Morgen früh gehe ich zur Parteileitung, die wissen immer einen Weg, oder noch besser, wir gehen zusammen.«

Sie bat Philipp über Nacht zu bleiben.

»Meine Wirtsleute haben nichts dagegen, sie wissen, dass du aus der Arbeiterklasse bist.«

Philipp unterdrückte eine ironische Bemerkung.

»Ja, das bin ich.«

»Bist du hungrig?«, fragte Sophie.

Sie machte ihm eine Mehlsuppe. Während er die Suppe löffelte, dachte er an Ruth und an die vielen Lebensmittel in der Laube, an seinen Geldumtausch und an den HO-Einkauf. Er erwähnte aber nichts davon.

»Bekommst du nur Mehl von deiner Mutter?«

Sophie berichtete, dass ihre Mutter nur einmal bei einem Besuch Mehl mitgebracht habe. Als Funktionärin achtete sie strickt darauf, nichts anzunehmen und nur von den Rationen der Lebensmittelkarte zu leben. Dieses Mehl aber, das für ihre Tochter bestimmt war, habe sie angenommen.

Sophie erzählte von den Jahren in der Sowjetunion, wie schwer das Leben dort im Kriege war, und dass sie und ihre Mutter es von daher gewohnt seien, sparsam zu leben und auch manchmal zu hungern. Von ihren wenigen Erinnerungen an ihren Vater erzählte sie, und wie traurig und zornig sie war bei der Nachricht, dass er von den Nazis hingerichtet worden sei.

»Nur weil er ein guter Mensch war, haben sie ihn getötet. Er wollte nicht akzeptieren, dass man Menschen jagt und umbringt, die nicht zu germanischen Rasse gehören.«

»Ist er nicht wegen Hochverrats hingerichtet worden?«

»Er war in der SPD, aber ein ganz unpolitischer Mensch. Mutti erzählt immer, mein Vater sei ein korrekter Mann gewesen, sehr für Gesetz und Ordnung. Weil er gegen die Nazis, ein Tüftler und guter Fotograf war, brachten ihm die Genossen nachts heimlich Dokumente zum Ablichten.«

»Und dabei ist er erwischt worden?«

»Unter seinen Genossen war ein Verräter, es war ein guter Freund. Als man meinen Vater gewarnt hat, soll er nur gelacht haben. Ein so guter Mensch konnte einfach nicht glauben, dass ein Freund ihn verraten würde.«

»Jedenfalls kannst du stolz sein auf deinen Vater. Er hat was gegen die Nazis getan, ist für eine sinnvolle Sache gestorben. Mein Vater ist verreckt, einfach so. Die Arbeit hatte ihn schon kaputt gemacht, lange bevor sie ihn getötet hat. Er war eigentlich schon tot, ehe er von der Grube hingerichtet worden ist. Deine wunderbare Arbeiterklasse besteht aus lauter kaputten Typen.«

Sophie protestierte.

»Du bist jetzt verbittert und ungerecht. Ich kenne vorbildliche Proletarier, klassenbewusste Menschen.«

»Das glaube ich dir gerne. Aber kennst du auch Arbeiter? Arbeiter sind ungebildet und grob, stinken nach Schweiß und riechen aus dem Mund, haben faule Zähne und ungewaschenes Haar, furzen viel und in der Öffentlichkeit, weil sie minderwertiges Zeugs essen, trinken sich um den Verstand, prügeln ihre Frauen und töten ihre eigene Seele − oder das, was die Arbeit ihnen davon gelassen hat.«

Gesang der Lerchen

Подняться наверх