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ОглавлениеZwei Wochen nach seinem Parteieintritt bekam Philipp vom Sekretariat der Universität die Mitteilung, dass er in das Studentenheim einziehen könne. Als Sophie davon hörte, überbrachte sie ihm die Nachricht ihrer Wirtsleute, er könne bei ihr in Weißensee wohnen.
»Jetzt, wo du ein Genosse bist, sind sie damit einverstanden. Meine Wirtsleute haben noch das Zimmer ihrer Tochter frei. Mutti ist auch einverstanden. Wenn sie das nächste Mal nach Berlin kommt, möchte sie dich sowieso kennen lernen.«
Philipp war erschrocken.
»Das geht mir alles zu schnell.«
»Aber du hast mir doch immer gesagt, du wolltest aus deiner Bude am Prenzlauer Berg ausziehen.«
»Ja, sicher, will ich ja auch. Warum ziehst du nicht auch ins Studentenheim ein?«
»Ich habe in der Sowjetunion neun Jahre in Heimen gewohnt. Das ist genug. Ich ziehe nie wieder in ein Heim, nie, nie!«
Philipp wusste nicht weiter.
»Lass mir Zeit, ich muss mir alles in Ruhe überlegen.«
Er überlegte zwei Tage, dann hörte er von Christian, dass im Heim ein Zweierzimmer frei geworden war. Philipp dachte an die Heizung im Studentenheim; die Zeit des Frierens würde vorbei sein. Er sagte Christian nichts von Sophies Angebot, und am Ersten des Monats zog er ins Heim ein. Das Zimmer war nicht groß, aber ihnen standen sämtliche Gemeinschaftsräume offen. Auch gab es eine Küche, in der sie sich Teewasser heiß machen und auch mal eine Suppe kochen konnten. Erst nach dem Einzug und im Beisein der Klasse teilte Philipp Sophie mit, dass er nun im Heim wohne.
Das Leben im Heim bot vielerlei Vorteile, Anregungen und Abwechselungen. Die Zimmer waren immer warm und wurden gereinigt, täglich gab es irgendeine Veranstaltung, eine Versammlung, einen Gesprächskreis oder auch nur die Möglichkeit, in den Gemeinschaftsräumen an den Abenden miteinander zu reden oder Gesellschaftsspiele zu spielen.
Treffen in kleinerem Kreis fanden auf den Zimmern statt, intimere Treffen in den Zweierzimmern. Diese Treffen dauerten dann auch schon mal bis zum nächsten Morgen. Weil es aber sowohl für die weiblichen als auch für die männlichen Studenten als kleinste Wohneinheiten eben nur Zweierzimmer gab, erforderten solche Treffen organisatorische Vorbereitungen und manchmal auch die Anwendung von Überredungskünsten bei den Zimmerpartnern.
Christian kannte sich schon aus bei den Studentinnen der Musikhochschule. Lena, eine sächsische Studentin, blond und von kräftiger Statur, mit einem großen Brustumfang und einem ebensolchen Stimmvolumen die künftige Wagnersängerin, zeigte sich seinem Werben geneigt. Sie hatte − so fand Christian − nur einen unüberwindbaren Nachteil: Sie sächselte stark.
»Aber ich will ja keine Diskussionsabende mit ihr veranstalten«, sagte er.
Ein weiterer, aber überwindbarer Nachteil war, dass sie mit einer anderen Gesangsstudentin zusammen wohnte, die weniger mit körperlichen Reizen, dafür mehr mit konservativen Moralvorstellungen auf sich aufmerksam machte.
Isa, die eigentlich Isabella hieß, war nicht sehr groß, brünett und von der Natur mit einem lieblichen Gesicht ausgestattet. Sie kam aus Schwaben, hatte dort einen festen Freund zurückgelassen und wollte sich diesem Jüngling und künftigen Ehemann in Keuschheit erhalten. Sie duldete zwar, dass Christian und Philipp als Gäste sie und Lena auf ihrem gemeinsamen Zimmer besuchten; wenn es aber um die Organisierung der Schlafmöglichkeiten ging, dann war am Ende Philipp immer der Dumme.
Christian und Lena zogen sich in das Zimmer der Männer im Keller zurück, Isa lag allein in ihrem Bett in der zweiten Etage, und Philipp saß mit einem Buch oder mit den Schularbeiten oft bis weit nach Mitternacht im Gemeinschaftsraum, bis Christian endlich kam und verkündete, dass das Bett auf ihn warte. Der Erfolg war, dass Christian am nächsten Morgen, beflügelt von der Liebe, aufmerksam dem Unterricht folgte, während Philipp gegen den Schlaf ankämpfen musste. Ihm kam schon der Verdacht, dass Christians Einsatz für ihn als Mitbewohner eines Zweierzimmers nicht so ganz aus reiner Männerfreundschaft geschehen war. Er beklagte sich bei ihm.
»Weißt du«, entgegnete Christian, »ich habe schon mit Lena gesprochen. Aber sie kann einfach nicht, wenn du daneben in deinem Bett liegst und schläfst. So sind eben die Weiber!«
Endlich gelang es Lena, Isa davon zu überzeugen, dass es doch eigentlich gleich sei, in welchem Bett sie die Nacht verbringe, wenn man ihr nur einen ungestörten Schlaf garantiere. Isa stellte nur eine Bedingung: Wenn sie schon in Christians Bett schlafen musste, dann nur mit ihrem eigenen Kopfkissen. Eines Abends war es dann soweit. Christian nahm sein Kopfkissen, wünschte eine Gute Nacht und verschwand. Nach kurzer Zeit ging die Zimmertür einen Spalt auf und Isas Kopf erschien.
»Dreh dich mit dem Gesicht zur Wand!«, befahl sie Philipp. Sie huschte mit dem Kissen unter dem Arm ins Zimmer, entkleidete sich, legte sich in Christians Bett und löschte das Licht. Eine ganze Weile hörte Philipp nur ihre kräftigen Atemzüge, dann sagte sie: »Das mache ich nur Lena zuliebe.«
»Natürlich«, antwortete Philipp. »Ich bin dir aber auch sehr dankbar dafür, denn ich brauche meinen Schlaf.«
»Der Christian ist rücksichtslos, und du bist viel zu gutmütig, dass du dich darauf einlässt.«
»Du und ich, wir sind sicher beide gutmütig, aber was bleibt uns übrig? Sie lieben sich ja wohl.«
»Lieben?! Glaubst du im Ernst, dass das Liebe ist? Nein, das hat bestimmt mit Liebe nichts zu tun, animalisch ist das!«
Sie war mit ihrem Oberkörper hochgeschnellt, schaltete das Licht auf ihrem Nachttisch ein, sah zu Philipp hinüber, und ihre Augen blitzten vor Empörung.
Philipp drehte sich um, und weil Isa nicht protestierte, blieb er so und schaute sie an.
»Wir sollten nicht so hart urteilen; sie sind eben jung.«
Isas Stimme wurde leiser.
»Wir sind auch jung, aber wir wissen, was sich gehört.«
»Ja, das ist wahr, wir wissen, was sich gehört«, antwortete Philipp, und im Tonfall seiner Stimme war ein leichtes Bedauern zu hören. Er sah Isas liebliches Gesicht, die entblößten Arme, ihren nackten Hals und unter dem Nachthemd die Konturen ihrer kleinen Brüste. Nur das Gespräch jetzt nicht beenden, dachte er und fragte sie nach ihrer Familie und wie sie nach Berlin gekommen sei.
Sie löschte das Licht wieder, legte sich zurück und erzählte von ihrer Heimat, einem Vorort von Stuttgart, von ihren Eltern und von ihrer älteren Schwester. Ihr Vater sei selbstständiger Tischlermeister, habe eine Werkstatt mit drei Gesellen und fertige Möbel nach Maß. Ihre Mutter führe den Haushalt und ihre Schwester die Bücher der Tischlerei. Philipp sah vor seinen Augen eine kleinbürgerliche Idylle .
»Wie kommst du dann aber ausgerechnet nach Ostberlin?«
Schon in der Schule habe sie gerne gesungen und den Rat der Lehrer bekommen, doch unbedingt ihre Stimme ausbilden zu lassen. Aber die Tischlerei warf das Geld für den Besuch eines Konservatoriums nicht ab.
»Da hörte mein Vater von einem Genossen, dass es hier ein Stipendium gäbe; so habe ich mich beworben.«
Philipp war erstaunt.
»Wie, Genossen? Ist dein Vater etwa Kommunist?«
»Ja, sicher, er ist in der KPD.«
»Na, so sicher finde ich das ja nun nicht. Ein Handwerksmeister mit einem eigenen Betrieb und mit Angestellten; sind seine Gesellen etwa auch Kommunisten?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Was du so sicher und natürlich findest, das wirft alle Theorien von dem klassenbewussten Arbeiter und dem reaktionären Unternehmer über den Haufen.«
»Ist dein Vater denn kein Kommunist?«, fragte Isa.
»Mein Vater ist gerade gestorben, aber er war alles, nur kein Kommunist.«
Philipp erzählte von seinem Leben im Ruhrgebiet, von den Bergarbeitern und von dem tödlichen Unfall seines Vaters.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Isa. »Da hatte er doch allen Grund, ein Kommunist zu sein.«
»Grund vielleicht, aber er war es nicht. Ich erinnere mich, als ich noch ein Kind war, kamen SA-Leute zu uns und holten eine Uniform von meinem Vater ab. Er war im Stahlhelm-Bund, und als der 1935 aufgelöst wurde, musste mein Vater die Uniform abgeben.«
»Was war denn das, ein Stahlhelm-Bund?«, fragte Isa.
»Ein Verein von alten Kämpfern aus dem Ersten Weltkrieg.«
»War dein Vater zu der Zeit denn schon so alt und Soldat?«
»Ach wo, aber später konnten auch andere dort eintreten. Man musste nur für Soldatentum und Säbelrasseln sein. Da war ein junger Bergmann wohl genau richtig in dem Verein.«
Sie schwiegen. Im Hause war es still geworden. Philipp hörte nur das Atmen seiner Bettnachbarin. Er wälzte sich unruhig herum. Nach einiger Zeit meldete Isa sich.
»Kannst du auch nicht schlafen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht, ich muss immer an das denken, was du mir von deinem Vater erzählt hast. Der war doch noch so jung.«
»Ja, so jung«, sagte Philipp.
»Wenn du mir versprichst, dass du ganz vernünftig bist und deine Hände ...«
Weiter kam sie nicht, da war Philipp schon in ihrem Bett, und einige Minuten lang hielt er wirklich seine Hände bei sich.
Nach und nach verlief das Leben für Christian und Philipp in ruhigeren Bahnen und verlor den Reiz des Neuen. Mit den beiden Frauen kamen sie überein, dass der Gerechtigkeit und der Ordnung wegen der Zimmer- und Bettentausch alle Beteiligten gleichermaßen treffen sollte. So ging an den späten Abenden mal Christian in die zweite Etage und Isa kam ihm auf dem Wege in den Keller entgegen, oder Philipp ging hoch und kreuzte den Weg mit Lena.
Natürlich waren sie nicht die Einzigen, die spät im Hause noch unterwegs waren, aber alles lief ohne viel Aufsehen und friedlich ab. Man grüßte sich, wünschte Gute Nacht und genoss die Freiheit einer sich entwickelnden neuen Auffassung von Liebe unter den Menschen, jenseits verstaubter bürgerlicher Moralvorstellungen.
In den Gesprächskreisen an den Abenden war man sich schnell einig, dass schon Marx die bürgerliche Liebe verurteilt hatte. Ein großer, schlanker Student mit langen, dünnen Armen und einer Nickelbrille auf der spitzen Nase, »die Stange« genannt, war als höheres Semester im Marxismus besonders bewandert. Er gab Marx-Zitate zum Besten, in denen die bürgerliche Liebe als Ware bezeichnet wurde, wie alle menschlichen Beziehungen im Kapitalismus durch die Hure Geld vermittelt. Würde die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aber abgeschafft, so folgte den neuen, sozialistischen Produktionsverhältnissen ein neues Bewusstsein und damit eine neue, sozialistische Liebe.
Keiner sah einen Grund, dieser fundamentalen These zu widersprechen, jeder und jede Liebende fühlte sich bestätigt. Denn, so zitierte »die Stange« Marx, die gesellschaftlichen Verhältnisse müsse man nicht nur erklären, sondern auch verändern. Und so wechselte man spätabends die Etagen, mit der langsam keimenden Erkenntnis, eigentlich recht klassenbewusst zu handeln. Die Studenten konnten sich nicht vorstellen, dass nach gut einem Jahr, als die DDR schon auf dem Wege zu einem Staat mit einer kleinbürgerlichen Spießermoral war, ausgerechnet ihr klassenbewusstes Verhalten ein Hauptgrund zur Schließung des Heimes sein würde.
In einer Unterrichtspause überbrachte Sophie Philipp die Grüße ihrer Mutter und eine Einladung. Die Mutti komme nach Berlin, müsse zum Ministerium und für sich eine Wohnung einrichten, dabei wolle sie Philipp kennen lernen.
»Eine Wohnung einrichten, zieht deine Mutter nach Berlin?«
»Ja, sie wird im neuen Jahr Staatssekretärin und stellvertretende Ministerin für Arbeit und Gesundheitswesen.«
»Dann zieht ihr doch sicher zusammen?«
»Nein, auf keinen Fall. Ich möchte nicht wieder mit Mutti zusammen wohnen. Sie bekommt eine Wohnung in Pankow, dort leben alle Regierungsleute.«
Philipp überlegte, wie er aus dieser Situation herauskommen konnte. Er wollte keine Verpflichtung eingehen, wollte Sophie aber auch nicht beleidigen, und er war neugierig auf ihre Mutter. Aus den Erzählungen von Sophie wusste er, dass Edda Dahlhaus aus einer gutbürgerlichen Industriellenfamilie stammte, eine behütete und sorgenfreie Kindheit und Jugend genossen und ihre Liebe zu den Arbeitern erst in der Sowjetunion entdeckt hatte. »Wenn du mal heiratest, möchte ich, dass es ein Mann aus der Arbeiterklasse sein wird«, soll sie ihrer Tochter geraten haben.
Philipp entschloss sich zu einem Besuch bei Sophies Mutter. Der werde ich einen Vertreter der Arbeiterklasse bieten, der sich gewaschen hat oder eben nicht gewaschen hat, sagte er sich. Als er in Weißensee eintraf, war Edda Dahlhaus noch nicht da. Philipp brachte Sophie Tee mit, den sie gemeinsam bereiteten. Sie fragte nach dem Unglück seines Vaters und ließ sich von seiner Familie berichten.
»Wo leben deine Verwandten?«, fragte Philipp anschließend.
»Mein Bruder ist mit dem Studium fertig, besucht in Moskau noch eine Parteischule und wird dann nach Deutschland zurückkehren. Der Vater von Mutti lebt in einem Altenheim in Westberlin; seine Frau ist im Krieg gestorben.«
»Der Vater meiner Mutter heißt bei mir Opa, seine Frau heißt Oma«, sagte Philipp.
»Ja, bei dir! Ich kenne doch niemanden aus der Familie. Als wir in die Sowjetunion fliehen mussten, war ich sechs Jahre alt. An die Zeit davor habe ich kaum noch Erinnerungen. Muttis Schwester soll in Westdeutschland wohnen; aber Mutti verkehrt mit keinem aus dem Westen.«
»Wo bist du denn geboren?«
»In Westberlin, in Dahlem, mein Bruder auch. Aber das Haus ist ausgebombt und die Ruinen sind abgerissen worden. Der Vater von Mutti, mein Opa, hat das Grundstück verkauft. Mutti hat auf alle Erbansprüche aus dem Westen verzichtet.«
»Und dein Vater, der hatte doch sicher auch Familie?«
»Er hatte keine Geschwister. Irgendwelche Verwandten soll es in Thüringen noch geben.«
Sie hörten ein Auto vor dem Haus halten.
»Das wird die Mutti sein«, sagte Sophie und stürzte hinaus.
Durch das Zimmerfenster sah Philipp einen Mann aus einer sowjetischen Limousine steigen und die Tür zu den Hintersitzen aufhalten. Eine Frau stieg aus und sprach mit dem Fahrer, der lüftete seine Mütze und fuhr mit dem Auto davon.
Wie klein sie ist, dachte Philipp. Sophie erschien auf der Straße, umarmte ihre Mutter, und beide gingen ins Haus. Philipp hörte sie im Flur mit den Wirtsleuten reden.
»Das ist Philipp«, sagte Sophie, als sie ins Zimmer traten.
»Guten Tag, Genosse Philipp«, grüßte die kleine Frau freundlich und reichte Philipp die Hand.
Philipp war überrascht, diese Anrede hatte er nicht erwartet.
»Tag, guten Tag, Genossin«, stammelte er.
Frau Dahlhaus fand das anscheinend ganz natürlich, schaute auf ihre Armbanduhr und wandte sich an ihre Tochter.
»Eine Stunde habe ich dem Fahrer frei gegeben, das muss wohl reichen, Kind, oder?« Sophie nickte. »Ich lebe jetzt wie ein Bourgeois, mit Auto und Fahrer, aber so ist es eben effektiver.« Sie setzten sich, Sophie schenkte Tee ein. »Aber ihr lebt ja auch nicht schlecht. Russischer Tee?«
»Nein, kapitalistischer Tee, den hat mir meine Mutter mitgegeben«, erklärte Philipp.
»Dem Tee wird es schon nicht geschadet haben, aus dem Westen zu sein, und wenn er ein Geschenk von deiner Mutter ist, dann ist er bestimmt gut.«
Sie tranken den Tee. Philipp fühlte sich unwohl in Nähe dieser Frau.
»Sophie hat mir von dem Unglück mit deinem Vater geschrieben, schlimm, schlimm, das tut mir aufrichtig leid. Aber so ist das eben, wenn Grubenbesitzer die Menschen rücksichtslos ausbeuten.«
Diese Frau redet von Ausbeutung in den Gruben, dachte Philipp, und ein Satz von seinem Vater bei einem ihrer letzten Gespräche in den Sommerferien fiel ihm ein: »Rede nicht von der Arbeit, wenn du noch nie richtig gearbeitet hast.«
Er bekam seine Sicherheit zurück.
»Gibt es in den Kohlegruben der Sowjetunion keine tödlichen Unfälle?«
»Sicherlich, aber dort gehören die Gruben den Arbeitern, und die beuten sich selber nicht rücksichtslos aus.«
»In Westdeutschland gibt es Gewerkschaften, und außerdem ist es den Kumpeln sicher egal, ob sie von kapitalistischen oder von volkseigenen Steinen erschlagen werden.«
»Als Genosse vertrittst du eine interessante These. Vergiss aber nicht die Einstellung zur Arbeit. Es ist schließlich ein Unterschied, ob man für Fremde arbeiten muss oder ob man weiß: Das, was ich schaffe, gehört mir. Nur dann ist man doch mit Liebe bei der Arbeit.«
»Liebe ist ein falsches Wort. Liebe zu einer Sache, welche die Menschen kaputt macht, kann nur jemand propagieren, der nichts von der Sache kennt.«
»Oho! Du sprichst immerhin mit der künftigen Staatssekretärin für Arbeit.«
Sophie schaltete sich ein.
»Philipp hat schon als Laborant gearbeitet; in der Klasse ist er der Beste in Naturwissenschaften, besonders in Chemie.«
»Das ist schön«, sagte Edda. »Wir brauchen fähige Kader für den Aufbau des Sozialismus, auch kritische Kader. Hast du dir schon überlegt, ob du nach dem Studium in der DDR bleiben willst oder in den Westen zurückgehst?«
»Das weiß ich noch nicht; ich fange ja eben erst an.«
»Wir schaffen aus der Arbeiterklasse auch eine Intelligenz für den Westen, das ist Teil unserer Revolution«, sagte Edda, fasste ihre Teetasse mit spitzen Fingern, führte sie zum Mund und trank daraus, indem sie beim Trinken den kleinen Finger ihrer Hand abspreizte.
»Hoffentlich wissen die künftigen Revolutionäre dann auch, wozu sie ausgebildet worden sind«, bemerkte Philipp.
»Da machen wir uns keine Sorgen. Wenn sie sich entscheiden müssen, wie sie zu handeln haben und wo sie hingehören, vertrauen wir auf den proletarischen Instinkt. Ich gebe dir ein Negativbeispiel: In meiner Zeit in der Sowjetunion ist ein guter Freund von mir verhaftet worden. Natürlich habe ich alle Briefe, die er mir geschrieben hat, bei den Staatssicherheitsorganen abgegeben. Nun hatte mir der Freund in einem Brief mitgeteilt, dass ein Arbeitskollege und Genosse sich kritisch über die Staatssicherheit geäußert habe und er das melden werde. Als wir uns später trafen und ich ihn gleich fragte, ob er auch den Genossen gemeldet habe, machte er Ausflüchte. Der Genosse leiste gute Arbeit und habe diese Äußerung sicher nur in einer momentanen Erregung und im Ärger über die schlechten Lebensbedingungen gemacht. Als die Staatssicherheit seinen Brief an mich las, machte man mir zum Vorwurf, dass ich den Vorfall nicht sofort gemeldet hätte. Ich wurde vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen, kam dann aber mit einer strengen Rüge davon, weil ich genügend selbstkritisch war. Siehst du, Genosse Philipp, da hat mir die proletarische Biographie gefehlt, sonst wäre ich natürlich sofort zur Staatssicherheit gegangen, als ich die Ausflüchte des Freundes vernahm. Aber meine bürgerlichen Eierschalen haben mich damals daran gehindert.«
Vorsicht!, dachte Philipp, diese freundliche, wohlerzogene Frau aus gutbürgerlichem Hause bringt dich, ohne zu zögern, ins Gefängnis oder sogar an den Galgen. Er sah plötzlich, dass sie, die für eine imaginäre Arbeiterklasse schwärmte wie andere ihrer Herkunft für kostbares Porzellan, über Leichen gehen würde.
»Ja, ich glaube, das hätte ich sofort gemeldet, Genossin«, sagte er.
Sophie schaute ihn erstaunt an. Edda nickte zufrieden.