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ОглавлениеSophie ging nach dem Unterricht mit zur Singakademie, wo sie zu dritt die Schularbeiten machten. Christian fühlte sich durch sie gestört, fragte, ob sie vorhabe, ab jetzt immer mitzukommen, und verabschiedete sich bald. Sophie und Philipp blieben noch einige Zeit und gingen dann auch. Als sie über die Spree-Brücke Richtung Alex gingen, schneite es und begann zu dunkeln.
»Glaubst du, dass es ein Selbstmörder war?«, fragte Sophie.
»Wer?«
»Na, der Tote heute Morgen.«
»Weiß ich nicht«, sagte Philipp. »Hast du gesehen, dass er eine gefärbte Wehrmachtsjacke trug?«
»Warum tut ein junger Mann so etwas? Ich verstehe das nicht!«
Sie hängte sich bei ihm ein. Schweigend gingen sie zur Straßenbahnstation. Auch während der Fahrt schwiegen sie. Als Philipp sich am Prenzlauer Berg verabschieden und aussteigen wollte, zog Sophie ihn wieder auf den Platz zurück.
»Komm bitte mit! Ich möchte jetzt nicht allein sein.«
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung kamen sie an einem Bäckerladen vorbei, in dem eine Frau noch beim Putzen war. Philipp klopfte an die Scheibe, die Frau schloss auf und ließ ihn eintreten. Er nahm seine Brotkarte aus der Schultasche und kaufte vier Roggenschrippen.
In Sophies Zimmer war es warm. Sie aßen die Schrippen und tranken Leitungswasser. Dann zog Sophie sich aus. Ihre Kleidung legte sie ordentlich über einen Stuhl. Zuletzt löste sie ihre Zöpfe. Ihr volles, schwarzes Haar bedeckte ihre Schultern und ihre kleinen Brüste. Sie legte sich ins Bett und sah zu, wie Philipp sich auszog und dazulegte. Eine Weile lagen sie reglos nebeneinander. Man hörte nur das Geräusch der Luftbrücken-Maschinen. Philipp streichelte Sophies Haar, ihre Stirn und ihre Wangen. Sie schaute gegen die Zimmerdecke und begann still zu weinen.
Zum 21. Dezember, dem Geburtstag von Stalin, vergab Lichtweiß ein Referat. Es sollte Stalin und die Deutschen behandeln. Sophie meldete sich freiwillig.
Als sie den Vortrag begann, kündigte sie ihn an mit dem Titel: Josef Stalin, der weise Führer des internationalen Proletariats, der Garant des Weltfriedens und der beste Freund des deutschen Volkes. Sie sprach vom größten Schüler Lenins, von Stalins Vollendung der Revolution durch die Säuberung der Partei und der Armee von Spionen und Feinden und von deren Liquidierung. Sie sprach davon, dass Stalin als Führer der ruhmreichen Sowjetarmee den Faschismus besiegt und dem deutschen Volk die Freiheit gebracht habe. Von dem größten Genius der Menschheit sprach sie und davon, dass in seinem Arbeitszimmer im Kreml das Licht nie ausginge.
»Er soll sich nächtelang westliche Cowboy- und Operettenfilme anschauen«, flüsterte Christian Philipp zu. Zuletzt machte Sophie den Vorschlag, man solle doch wegen der großen Verdienste Stalins nicht nur vom Marxismus-Leninismus, sondern vom Marxismus-Leninismus-Stalinismus reden.
»Dann darf man aber auch Engels nicht vergessen«, sagte einer.
»Und Pieck!«, rief Philipp. »Es muss dann heißen: Marxismus-Engelismus-Leninismus-Stalinismus-Pieckismus.«
Die Klasse schwieg, Lichtweiß schaute einen Moment ratlos.
»Das war sicher ein Scherz von Herrn Siebert«, sagte er dann. »Wenn man allerdings die Sache ernsthaft diskutiert, wird man sagen müssen, das ist eine Frage an die Historiker. Ich persönlich glaube aber fest, dass das Lebenswerk Stalins einmal als Stalinismus bezeichnet wird.«
Philipp sah, dass Sophie eifrig nickte. Da war plötzlich seine Wut verflogen, und er fühlte nur noch Mitleid.
Am vorderen Tisch der mittleren Reihe saß Ruth. Sie war etwas füllig, hatte hinter langen Wimpern kecke braune Augen, mit denen sie gewollt naiv schauen konnte, hatte leicht gewelltes braunes Haar, starke Backenknochen und sehr üppige Lippen, die sie stets mit einem kräftigen Rot angemalt zeigte. Sie sprach mit eher leiser und ein wenig gehauchter Stimme. Ihre Bewegungen, ihr wiegender Gang, alles an ihr signalisierte Sinnlichkeit.
Christian und Philipp, die weiter hinten an einem Tisch in der Reihe an der Fensterfront saßen, mussten, wenn sie aufmerksam dem Dozenten am Pult oder an der Tafel folgen wollten oder auch nur so taten, an Ruth vorbeischauen und hatten sie als Zugabe im Blick, genauer: ihren Oberkörper; noch genauer: ihren großen Busen. Ruth war Berlinerin, die Tochter eines Kommunisten und Revolverdrehers bei Siemens & Halske. Ihre Mutter war Funktionärin im Demokratischen Frauenbund Deutschland DFD. Ruth hat nach dem Krieg einen Kurs zur Ausbildung als Neulehrerin besucht und war bis zum Eintritt in die VA Lehrerin.
»Die leg ich um«, sagte Christian schon an einem der ersten Unterrichtstage zu Philipp und schaute dabei genüsslich zu Ruth herüber. Aber Ruth war mit einem Lehrer ihrer früheren Schule befreundet, und Christians Werben war erfolglos, sie beachtete ihn kaum − bis zur Weihnachtsfeier.
Währen der Vorbereitung zu dieser Feier hatte Angela die Idee, einen Julklapp zu veranstalten, wie er zu Weihnachten in den skandinavischen Ländern üblich war. Alle sollten ein Los mit dem Namen eines Klassenmitgliedes ziehen, ein kleines Geschenk besorgen, das dann verpackt und mit dem Namen des zu Beschenkenden versehen eingesammelt und auf der Feier von einem Weihnachtsengel verteilt werde. Der Absender aber bliebe anonym.
So geschah es. Man sang Lieder von der stillen Nacht, vom grünen Tannenbaum und von den kommenden Kinderlein. Einige sangen nicht mit, weil sie es bürgerlich-dekadent fanden. Sophie sang nicht, weil sie die Lieder nicht konnte.
Christian begleitete den Gesang auf dem Klavier und spielte anschließend mit weit ausholenden Gesten noch den ersten Satz der Beethovensonate Pathétique.
Dann trat der Engel auf mit einem Sack voller Geschenke. Alle bekamen eins, Christian bekam drei. Er tat sehr überrascht und erfreut. Nach der Feier erlaubte Ruth, dass Christian sie begleitete. Sie machte den Vorschlag, in die Gartenlaube ihrer Eltern zu fahren. Die Gartenlaube war wohnlich eingerichtet, aber ungemütlich kalt. Sie gingen sofort ins Bett.
»Sprich mit mir!«, bat Ruth.
»Später«, sagte Christian und liebte sie.
Dann schaute er sich vom Bett aus in der Laube um.
»Kommen deine Eltern oft hierher?«
»Nein, jetzt im Winter gar nicht mehr«, sagte Ruth. »Bis vor einem Jahr haben wir hier gewohnt. Wir waren ausgebombt. Jetzt haben wir wieder eine Wohnung.«
»Kann man den Ofen heizen?«
»Ja, aber wir heizen ihn nicht. Die Briketts brauchen wir für die Wohnung.«
»Ich besorge uns welche.«
Er lehnte sich zurück, dachte, dass es doch noch eine schöne Feier geworden war, dass er nun wusste, wo er sich in den Weihnachtsferien aufhalten konnte, und schlief ein.
Nach Schulbeginn im neuen Jahr erzählte Christian, dass er vor der Weihnachtsfeier genau bedacht habe, bei sechs Mädchen in der Klasse und einem sicheren Geschenk für ihn über das Los höchstens fünf Geschenke mit dem eigenen Namen zusätzlich heimlich in den Sack zu schmuggeln. Er wollte aber nicht übertreiben und hatte nur zwei hineingegeben. Die Unsicherheit aber war, dass er nicht wissen konnte, ob nicht eines oder mehrere der Mädchen ihm tatsächlich zusätzlich ein Geschenk machen würden.
»Die Gefahr bestand wohl nicht«, meinte Philipp.
Das Frühjahr kam, die Tage wurden länger und milder. Christian und Philipp gingen an den Nachmittagen weiter regelmäßig zur Singakademie. Sophie kam nicht mehr mit, dafür machte Ruth jetzt öfter mit ihnen zusammen Schularbeiten. Einmal fuhren sie anschließend mit Ruth in die Laube. Christian hatte Wein besorgt und auch Kerzen. Sie tranken von dem Wein und schauten in die Flammen der Kerzen.
Ruth erzählte von ihrem Vater, der im Konzentrationslager gewesen war, aber schon während des Krieges entlassen worden und seitdem sehr schweigsam sei. Ihre Mutter wäre ganz verzweifelt; sie könne nicht verstehen, dass ein Mann so wenig Lebensmut zeigte, jetzt, wo er am Aufbau des Sozialismus mitwirken konnte. Christian erzählte, wie er und seine Mutter von der Erschießung seines Vaters durch die Russen erfahren haben und wie seine Mutter sich bald danach mit einem deutschen Besatzungsoffizier getröstet habe.
»Ich denke, es waren die Nazis, die deinen Vater umgebracht haben«, bemerkte Philipp.
»Ach Philipp!«, sagte Christian, und seine Stimme klang liebevoll-väterlich. Dann wandte er sich an Ruth.
»Gib Philipp mal einen Kuss!«
Ruth schaute Christian erstaunt an, zögerte einen Moment, setzte sich auf Philipps Schoß, umschlang ihn mit beiden Armen und küsste ihn. Dann stand sie auf, ging auf ihren Platz zurück und trank ihr Weinglas in einem Zug leer.
An einem Abend, sie hatten in der Singakademie lange Zeit für die Schularbeiten gebraucht, machte Christian den Vorschlag, in einem guten Restaurant essen zu gehen.
»Oh ja!«, sagte Philipp, »wenn ich einmal Millionär bin oder Parteifunktionär, dann machen wir das wirklich.«
»Wir machen es heute; ich lade euch ein«, tat Christian groß.
»Ich habe meine Fleischmarken nicht dabei«, bedauerte Ruth.
»Du brauchst keine Marken. Am Bahnhof Friedrichstraße ist ein HO-Restaurant, da kann man ohne Marken essen.«
»Was ist ein HO-Restaurant?«, fragte Ruth.
»Das ist neu, HO heißt Handelsorganisation«, erklärte Philipp, »das ist was Staatliches, dort kann man alles ohne Marken kaufen, aber für viel Geld.« Und zu Christian sagte er: »Hast du eine Bank überfallen?«
»Das nicht gerade; man kann auch anders an Geld kommen.«
Über dem Eingang stand: HO-Budapest. Christian ermunterte die beiden zu bestellen und machte es ihnen vor: Vorspeise, Suppe, Hauptgericht, und Nachspeise. Philipp und Ruth bestellten nur eine Vorspeise.
»Euch kann man nichts Gutes tun«, bedauerte Christian und langte kräftig zu.
Während er aß, erzählte er ihnen von seiner Geldquelle: An einem Sonntag war der Koch, der Dicke, wie üblich zum Dienst in das Hotel gegangen. Er hatte jedoch seine Tabletten vergessen, und Maria bat ihren Sohn, sie ihm nachzubringen. Christian ging und lernte in dem Hotel einen sowjetischen Offizier kennen, der ihm etwas schenken wollte. Als sie im Zimmer des Offiziers waren, zog er Christian auf ein Sofa, umarmte ihn stürmisch und sagte, dass er ihn liebe und ihm immer treu sein werde. Christian sah am Gürtel der Offiziersuniform eine große Pistole und war gelähmt vor Angst. Der Offizier stammelte immer weiter von Liebe und Treue und sank schließlich ganz ermattet auf Christians Schoß. Christian wagte nicht aufzustehen, sondern streichelte dem Offizier über das Haar, bis er eingeschlafen war. Vorsichtig hob Christian den Kopf des Schlafenden ein wenig an, stand langsam auf und schlich sich zur Tür. Als er gerade hinaushuschen wollte, hörte er ein lautes: »Stoi!« Der Offizier stand da mit einer gezogenen und auf Christian gerichteten Pistole. Dieser sah seine letzte Minute gekommen und hob blitzschnell die Arme. Da lachte der Offizier laut, steckte die Pistole weg, ging auf Christian zu, legte den Arm um ihn und führte ihn ins Zimmer zurück. Sie setzten sich an einen Tisch, der Offizier holte eine Flasche Wodka, schenkte sich und Christian ein und nötigte ihn zu trinken. Christian musste versprechen, den Offizier am nächsten Sonntag wieder zu besuchen. Der gab dem jungen Mann die beinahe noch volle Wodkaflasche und versprach ihm bei jedem Besuch eine neue.
Christian beendete seinen Bericht und schaute auf den Tisch.
»Bestellt doch noch was!«
Am letzten Tag des Wintersemesters und mit dem Erscheinen des ersten Grüns in der Natur machte die Klasse eine Biologie-Exkursion nach Friedrichshagen in den Berliner Stadtforst. Christian hatte sich unter einem Vorwand abgemeldet.
»Ich muss nicht mitgehen, Gräser zählen und Blümchen pflücken«, hatte er zu Philipp gesagt.
Frau Dr. von Braun, eine etwa fünfzigjährige Westberlinerin, gab sich Mühe. Groß, schlank, mit einem hoheitsvollen Blick und einer festen Stimme, trat sie betont selbstbewusst auf und wurde respektiert bis gefürchtet. Als ehemalige Nationalsozialistin, die in ihrem Unterricht die Rassengesetze der Nazis unterrichtet hatte, war sie nach dem Krieg aus dem Westberliner Schuldienst entlassen worden. Hier in Ostberlin unterrichtete sie Biologie nach dem Biologen und Naturphilosophen Ernst Haeckel, der ein Prediger des Darwinismus war. Die Lehre vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Auslese und dem Recht des Stärkeren wandelte sie ab zum Recht der neuen Klasse. Während der Exkursion dienten ihr alle Knospen und Pflänzchen zur Demonstration ihrer These vom Werden des Neuen und Absterben des Alten.
Auf dem Rückweg zur Bahnstation verstauchte Ruth sich den Fuß und bat Philipp, ihr den Arm zu reichen. So kamen beide nur langsam voran und verloren bald den Anschluss zur Klasse. Als sie endlich die Station Rahnsdorf erreichten, waren die anderen schon abgefahren, auch Sophie. Sie beide fuhren bis Köpenick und gingen in die Gartenlaube. Philipp machte mit den von Christian besorgten Briketts Feuer im Ofen. Ruth zeigte eine ganze Auswahl ebenfalls von Christian stammender Lebensmittel und bat Philipp zu wählen. Gemeinsam machten sie sich Mehlpfannkuchen, die sie sogleich heiß aus der Pfanne aßen. Dazu tranken sie einen von Christian mitgebrachten Wein. Als die Stromsperre begann und das Lampenlicht erlosch, zündete Ruth Kerzen an.
»Wie kommt es nur, dass ihr Freunde seid?«, fragte sie.
Philipp wusste, sie konnte nur Christian meinen.
»Es hat sich so ergeben.«
»So ergeben! Das ist doch keine Antwort! Du musst doch etwas an ihm gut finden.«
Philipp zögerte einen kurzen Moment.
»Er ist gut in Mathe.«
»Warum weichst du mir aus?«
»Dann sag du mir doch mal: Was findest du an ihm?«, fragte Philipp zurück.
»Ich? Ich weiß es nicht − er macht mir Angst.«
Philipp lachte: »Angst? Jetzt übertreibst du. Einer, der so gut Klavier spielen kann, soll Angst machen!?«
»Was hat das Klavierspielen damit zu tun?«
Ruth verstand ihn nicht.
»Man kann doch einen Menschen nicht danach beurteilen, ob er ein Instrument spielt oder nicht. Gibt es denn in deiner Familie niemanden, der musikalisch ist?«
»Doch, mein Vater, wenn er genügend getrunken hat, kann er ganz lustig sein und wunderbar singen.«
Ruth gab sich einen Ruck.
»Schluss damit!«
Sie trank ihr Glas leer, setzte sich auf Philipps Schoß, küsste ihn und knöpfte seine Hosen auf.
Gleich am ersten Morgen des neuen Semesters kam Christian zu spät zum Unterricht. Köhler unterbrach wie üblich, machte seinen Erschießungsgang, und Christian setzte sich.
»Ich muss dich gleich sprechen«, flüsterte Philipp.
»Wegen Ruth?«
»Ja, ich muss dir was beichten.«
»Quatsch beichten! Ruth hat mir schon alles erzählt.«
»Und?«
»Was, und?« Christian tat erstaunt. »Da gibt es doch nichts mehr zu bereden. Alles in Ordnung.«
Sie wandten sich dem Unterricht zu. Nach einigen Minuten wurde ein Zettel von Ruth an Christian weitergereicht. Christian las den Zettel.
»Hast du noch einen anderen Vornamen?«, fragte er Philipp.
»Ich? Nein, warum?«
»Hier, lies!«
Und Philipp las: Lieber Christian, verzeih mir, aber es muss vorbei sein mit uns. Ich kann ohne Karl nicht leben. »Das muss ein anderer sein − Karl? Heißt nicht ihr Lehrer-Freund so?«, flüsterte er.
Christian wurde zornig.
»Dann ist das Weib uns untreu geworden, aber das lassen wir uns nicht gefallen!«
Er zerknüllte den Zettel und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass selbst Köhler aufmerksam wurde.
Für Mitte Mai 1949 waren in Ostdeutschland Wahlen zum Volkskongress vorgesehen. Dieser Volkskongress sollte den Volksrat berufen, eine Art Regierung. Einige in der Klasse waren am Tage vor der Wahl und an den beiden Wahltagen zur Wahlwerbung, andere an den Wahltagen als Helfer in den Wahllokalen eingeteilt. Christian und Philipp mussten auf dem Bahnhof Friedrichstraße aus dem Büro des Aufsichtsbeamten über Lautsprecher eine Wahlparole verbreiten. Immer wenn ein Zug abgefertigt und das Mikrofon frei war, durften sie es benutzen. Sie hatten einen Zettel mitbekommen mit der Parole: Wer für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag ist, der stimmt für die Kandidaten zum Deutschen Volkskongress. Stimmen Sie mit ja!
Abwechselnd lasen sie diese Parole, fanden sie aber bald so langweilig, dass sie versuchten, sie immer mehr zu variieren. Bald befanden sie sich in einem Wettbewerb um die beste Variante.
Zwischendurch, und wenn der Aufsichtsbeamte nicht im Büro war, nutzten sie die Zeit, um sich über ihre Erfahrungen mit den Frauen im Allgemeinen auszutauschen und wie man mit ihnen umgehen sollte, damit sie nicht übermütig würden und treu blieben. Als ihr Einsatz beendet war und sie sich von dem Aufsichtsbeamten verabschiedeten, bekamen sie kostenlos − wie er sagte − noch einen Tipp von ihm.
»Wenn ihr nochmal so etwas machen müsst, nicht so nahe ans Mikrofon gehen und nicht so schnell und so laut sprechen, das dröhnt sonst zu sehr und überschlägt sich. Von euren Parolen war nichts zu verstehen. Ihr müsst so normal sprechen wie zwischendurch, als ihr über die Frauen geredet habt, das konnte man gut verstehen.«
»Aber wir haben das Mikrofon doch immer ausgeschaltet!«, warf Philipp ein.
»Das nützt nicht viel, die Schaltung geht nicht mehr richtig. In diesem Laden funktioniert doch nichts. Vielleicht wird der Schalter ja repariert, wenn wir die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag haben.«
Nach den beiden Wahltagen wollten einige der Wahlhelfer eine Nachbereitung in der Klasse veranstalten. Seiter opferte dafür einen Teil seiner Physikstunde.
Wilfried als Klassensprecher bat Studiendirektor Reitmann dazu. Reitmann kam und setzte sich gleich.
»Ich kann es mir nicht leisten zu stehen, dazu war ich zu lange im KZ. Nun denn, worum geht’s?«
Wilfried begann damit, dass er zusammenfassend die Erfahrungen − wie er sagte − aller Wahlhelfer der Klasse referierte: Viele Hausgemeinschaften seien geschlossen im Wahllokal erschienen, und für sie hätten die Hauswarte die Stimmzettel in einem Block in die Urnen geworfen; kaum einer sei in die Wahlkabine gegangen. Den Wahlhelfern sei es untersagt worden, die Leute zum Aufsuchen der Kabinen anzuhalten. Als sich bei der Auszählung der Stimmen abzeichnete, dass die Nein-Stimmen überwiegen würden, kam die Anordnung, die Auszählung neu zu beginnen und alle Zettel, bei denen einzelne Kandidaten durchgestrichen oder die Zettel mit Bemerkungen versehen oder gar nicht ausgefüllt waren, als Ja-Stimmen zu zählen.
»Überhaupt«, sagte Wilfried, »die Wahlzettel ließen einem doch keine Wahl. Man konnte nur ein Kreuz in einem Kreis neben einem großen JA oder neben einem ganz klein gedruckten Nein machen. Wenn einem eine Partei oder eine Person nicht gefiel, hatte man keine Möglichkeit, das auch zu äußern. Ist doch klar, dass die Leute da einzelne Kandidaten durchstreichen oder den Zettel mit Bemerkungen versehen.«
Wilfried ereiferte sich. Auf einem Wahlzettel habe groß und gut leserlich der Satz gestanden: Euch Banditen wähle ich nicht. Der Helfer habe den Wahlzettel vorgezeigt und gemeint, das sei ja nun wohl eindeutig eine Ablehnung. Das sei richtig, habe da der Wahlleiter gemeint, es sei eine Ablehnung der westlichen Scheindemokratie, denn mit den Banditen können doch wohl nur die Kriegstreiber aus Westdeutschland gemeint sein. Oder sehe das etwa jemand anders?
Reitmann hörte sich den Bericht ruhig an.
»Sind Sie fertig?«, fragte er Wilfried, stand nun doch auf und ging herum. »Es ist gut und richtig, dass Sie Ihre Bauchschmerzen äußern. Als junge Menschen haben Sie ein starkes Rechtsempfinden, das ist gut so, das sollen Sie auch haben. Aber Ihre Vorstellung von Demokratie, die ist falsch, da liegen Sie schief, liebe Freunde. Hitler ist durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen, denken Sie mal darüber nach. Man muss aus der Geschichte lernen können. Glauben Sie denn, dass 1945 über Nacht das Gift der Nazi-Ideologie verschwunden ist?«
»Das Volk wird umerzogen«, warf Wilfried ein.
»Darum geht es nicht«, sagte Reitmann und setzte sich wieder. »Aber wir müssen die vorhandenen fortschrittlichen Kräfte bündeln für den Aufbau einer antifaschistischen demokratischen Gesellschaft − unter Führung der Arbeiterklasse.«
»Und die Arbeiterklasse wird geführt von der Partei?«, fragte Philipp.
»Richtig, von der Partei der Arbeiterklasse, der SED, in der die Besten der Arbeiterklasse die Führung haben«, nickte Reitmann.
»Halt jetzt die Schnauze!«, flüsterte Christian Philipp zu. »Wenn du dein Abitur machen willst, dann halt dich da raus!«
Philipp wusste selber, dass er den Gedanken, letztlich liefe also wieder alles auf einen Führer hinaus, nicht laut äußern durfte.
Reitmann redete weiter. Er sprach von der proletarischen Demokratie, zu der man reif sein müsse. In dieser Demokratie könne es nicht wie in einer bürgerlichen Demokratie vorkommen, dass das Volk seine eigenen Totengräber wähle. Und darum sei es richtig, dass die Wahlzettel von Menschen, die zur Demokratie noch nicht fähig seien, als Ja-Stimmen gezählt würden.
Seiter stand abseits und hörte zu. Als Reitmann geendet hatte und gegangen war, setzte er den Physikunterricht fort.
»Dann wollen wir uns wieder den irdischen Dingen zuwenden. Ich möchte mit Ihnen noch eine Aufgabe durchsprechen, bei der es um die Berechnung einer Tangentialebene an der Kugel geht, zu deutsch: Brett vor dem Kopf.«