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ОглавлениеImmer wenn eine spontane Demonstration der Berliner Bevölkerung benötigt wurde, bekam die VA den Auftrag dazu vom Ministerium für Volksbildung. Mit der Zeit wurde ein solcher Auftrag als willkommene Abwechslung und als Jux begrüßt. Der Unterricht fiel für eine Stunde aus, die Schüler hatten sich auf einem bestimmten Platz einzufinden, einer verteilte vorgefertigte Transparente mit Losungen, irgendwer stimmte eine Parole an, die Versammelten riefen die Parole im Chor nach und klatschten oder pfiffen je nach Aussage der Parole. Zeitungsleute und ein Filmteam machten Aufnahmen, und Minuten später war das Ganze vorbei. Wofür oder wogegen demonstriert wurde, erfuhren die Schüler meist erst am folgenden Tag aus der Zeitung oder aus der nächsten »Aktuelle Kamera« genannten Wochenschau.
Auf dem Hegelplatz hinter der Uni war eine Protestversammlung angekündigt, auf der ein Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland sprechen sollte. Ein Heinrich Graf von Zweisiedel, ehemals Offizier der Deutschen Wehrmacht, war in Westdeutschland zu Besuch gewesen und dort vorübergehend verhaftet worden.
Eben freigelassen und zurückgekehrt in die sowjetische Zone, hielt er eine Rede gegen den westdeutschen Militarismus und über die Vorzüge des Sozialismus. Er stand auf einem Podest neben dem Hegel-Denkmal, und sein vor Zorn gerötetes schmales Gesicht, die aristokratisch hohe Stirn mit den hervortretenden Zornesadern wirkten feierlich neben dem wuchtigen Kopf des Philosophen Hegel.
Die die Bevölkerung spielenden Schüler klatschten Beifall oder pfiffen, je nachdem, ob der Graf von den Vorzügen des Lebens in Ostdeutschland oder von den Schikanen der westdeutschen Polizei sprach. Zwei Tage später war Graf Heinrich nach Westdeutschland geflohen.
Christian erzählte Philipp, dass Lichtweiß, ihr Lehrer für Gegenwartskunde, auch ein Mitglied des Nationalkomitees gewesen sei. Schlank, blond und blauäugig, mit leicht knarrender Stimme, verkörperte Lehrer Lichtweiß ganz den Typ des deutschen Offiziers.
Sie sprachen ihn im Unterricht auf seine Mitgliedschaft im Nationalkomitee an. Lichtweiß erzählte ihnen, wie er, ein glühender Nationalsozialist und Ausbildungsoffizier, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war: Das Leben im Lager war langweilig, denn als deutscher Offizier musste man nicht wie die gewöhnlichen Soldaten irgendwelche Arbeit leisten. Die Sowjets boten ihnen Vorträge über Marxismus an. Zuerst ging Lichtweiß nur mal hin, um die Zeit auszufüllen, dann aber überzeugte ihn die wissenschaftliche Theorie des Sozialismus. Er nutzte die Zeit zum Studium und besuchte die Antifaschistische Schule. Nach der Kapitulation war er einer der Ersten, die aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Er hielt im Auftrag der Sowjetischen Militäradministration in der Ostzone Vorträge und wurde mit der Eröffnung der VA Lehrer. Lichtweiß zeigte einige Tage später im Unterricht einen Film über den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Es war ein Film aus polnischer Produktion, und er zeigte Szenen vom Leben im Ghetto, den Abtransport der Juden in die Vernichtungslager und den aussichtslosen Kampf der Verbliebenen bis zu ihrer Ermordung durch die Deutschen.
Philipp fand, dass der Film schlecht gemacht war. Die Darsteller der deutschen Offiziere sprachen wie Christian ein hartes Deutsch mit polnischem Akzent. Die Klasse war aber doch erschüttert über die Gewaltszenen gegen wehrlose Menschen und bangte mit den Widerstand leistenden Juden. In einer Szene sah man, wie deutsche Soldaten, nachdem sie schreckliche Verbrechen begangen hatten, in einen Hinterhalt gerieten: Sie liefen in einen Hof. Rundherum auf den Dächern waren die Widerstandskämpfer postiert. Auf ein Zeichen ihres Anführers schossen sie die Deutschen zusammen. Von einer Sekunde zur anderen lagen alle deutschen Soldaten tot in dem Hof. Einige Schüler applaudierten, auch Sophie. Philipp sah, dass auch Lichtweiß applaudierte.
Als der Film zu Ende war und das Licht im Klassenraum wieder anging, fragte Philipp den Lehrer.
»Warum haben Sie geklatscht?«
Der verstand nicht, und Philipp fragte erneut.
»Warum haben Sie geklatscht, als die deutschen Soldaten zusammengeschossen wurden?«
In der Klasse wurde es still.
Lichtweiß schwieg, er machte ein ernstes Gesicht.
»Ich verstehe Sie, aber die Szene war so befreiend. Ich musste einfach applaudieren.«
Philipp gab keine Ruhe.
»Sie waren Offizier, haben Rekruten ausgebildet, die anschließend an die Front geschickt wurden, und dann klatschen Sie, wenn diese zusammengeschossen werden!«
Plötzlich war die Stille in der Klasse vorbei und alle redeten durcheinander.
»Das waren doch Faschisten!«, rief Sophie.
»Es waren Menschen!«, meinte ein anderer.
Lichtweiß hob die Hände und bat um Ruhe.
»Sie haben Recht, ich durfte nicht applaudieren. Alle in der Klasse durften, ich durfte nicht.«
Dann wandte er sich direkt an Philipp.
»Vielleicht, Herr Siebert, bleiben Sie nach dem Unterricht noch einen Moment hier; ich möchte Sie gerne allein sprechen.«
»Da hast du den Salat, jetzt haut er dich in die Pfanne, du − du − du deutscher Held!«, zischte Christian.
»Nachzutragen bleibt noch«, sagte Lichtweiß zur Klasse, »dass vor Ausbruch des Aufstandes schon 300.000 Juden in die Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Von den restlichen 60.000, die Widerstand leisteten, wurden in solchen Häuserkämpfen, wie wir sie eben gesehen haben, an die 50.000 getötet.«
Die Stunde war beendet, die Klasse leerte sich. Allein mit Philipp, berichtete Lehrer Lichtweiß aus seinem Leben: Als Kind sah er, wie sein Vater, ein Bäckermeister, jeden Morgen um drei Uhr früh aufstehen musste und wie schwer seine Mutter mitarbeitete und den Kunden nach dem Mund redete, damit sie mit ihrer kleinen Dorfbäckerei gerade mal so über die Runden kamen. An den Nachmittagen, wenn der Junge seinen Schulpflichten nachgekommen war und die Eltern gebraucht hätte, schlief sein Vater, und die Mutter durfte im Laden nicht gestört werden. So wurden ihm das Jungvolk und später die Hitlerjugend Ersatz für Familie und Elternhaus. Bei Ausbruch des Krieges war er siebzehn Jahre alt und durch die Erziehung in Oberschule und Hitlerjugend begeistert für die Ideale des Nationalsozialismus; sofort nach dem Abitur meldete er sich freiwillig. Er wollte in einer großen Zeit Großes leisten. Seine Karriere verlief folgerichtig. Bald war er einer der jüngsten Offiziere der Wehrmacht und verstand es, die ihm zur Ausbildung anvertrauten jungen Menschen für den Nationalsozialismus, für das Soldatentum und für den Krieg zu begeistern. Die Siege der Wehrmacht an allen Fronten waren ihm Lohn für seine Ausbildertätigkeit und bestätigten die Richtigkeit seiner Überzeugung, einer Herrenrasse anzugehören, die eine Mission in Europa zu erfüllen hatte.
Und dann begann der Krieg mit der Sowjetunion. Oberleutnant Lichtweiß gehörte vom ersten Tage an zu den Truppen des Mittelabschnitts, die weit in das ihm fremde Land eindrangen. Immer wenn ihn die Grausamkeiten des Krieges zweifeln ließen, erinnerte er sich an den Appell Hitlers zu Beginn des Feldzuges, besonders daran, dass der Führer die deutschen Soldaten aufgerufen hatte, nicht nur Deutschland, sondern die ganze europäische Kultur zu schützen.
Ernste Zweifel kamen ihm, als er mit seiner Kompanie nach einem durch Partisanen verübten Überfall auf ein Verpflegungsdepot der Wehrmacht an einer Vergeltungsaktion beteiligt war. Die Häuser eines ganzen Dorfes wurden angezündet. Als die Menschen die brennenden Häuser verlassen wollten, wurden sie niedergeschossen. Es waren alles Frauen, Kinder und alte Männer.
Zum Bruch mit seiner Weltanschauung von der Herrenrasse und dem Glauben, in diesem Krieg die europäische Kultur zu schützen, kam es dann, als die Kompanie des Oberleutnants Lichtweiß zu einem Sondereinsatz hinter der Front abkommandiert wurde. Sie hatten den Befehl, bei der Aktion einer Einsatzgruppe der SS für die Absperrung zu sorgen. Die Soldaten mussten großräumig eine Waldlichtung umstellen, auf der mehrere Gräben ausgehoben waren.
Ein Lastwagen kam angefahren und hielt am Rande der Lichtung. Männer und Frauen stiegen von der Ladefläche des Lastwagen, mussten sich ganz entkleiden und nackt am Rand eines Grabens aufstellen. Soldaten der Einsatzgruppe traten von hinten an die Menschen heran, erschossen sie und stießen sie in den Graben. Weitere Lastwagen kamen und brachten immer mehr Menschen, die alle, ohne zu reden, sich entkleideten, erschossen und in einen Graben gestoßen wurden.
Lichtweiß machte eine Pause in seinem Bericht, dann sagte er: »Beim nächsten Fronteinsatz bin ich zu den Russen übergelaufen. Jetzt bin ich überzeugter Antifaschist und bin hier. Meine Eltern sind inzwischen alt, mein Vater ist von Rheuma geplagt, arbeitet in einer Großbäckerei und muss immer noch um drei Uhr früh aufstehen.«
»Bist du ein Christ?«, fragte Sophie Philipp, als sie am nächsten Morgen die Straßenbahn verließen,
»Warum fragst du?«
»Weil doch die Christen ihre Feinde lieben sollen.«
»Blödsinn! Wieso sollte ich meine Feinde lieben?«
»Warum hast du dich dann gestern so für diese Faschisten eingesetzt?«
»Ich habe mich nicht für Faschisten eingesetzt. Ich bin nur dagegen, dass applaudiert wird, wenn Menschen getötet werden, besonders, wenn man daran beteiligt war, anderen Menschen das Töten beizubringen. Und am Christentum bewundere ich die Einfachheit des fünften Gebotes: Du sollst nicht töten. Punktum! Bin ich darum Christ? Die Zehn Gebote sind das Alte Testament. Vielleicht bin ich Jude? Oder sollte ich sagen Judist?«
»Jetzt weiß ich, du bist Pazifist.«
»Genau das meine ich. Du musst wohl alle Menschen einteilen: Faschisten, Marxisten, Christen, Pazifisten, das sind zu viele ›Isten‹.«
»Aber die Menschen gehören Klassen an und handeln nach der Ideologie ihrer Klasse. Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, sagen Marx und Engels.«
»Das Leben ist ein ewiger Kampf, sagt Hitler«, entgegnete Philipp. »Kennst du übrigens das, was Lenin einmal in einem Gespräch dazu gesagt hat? Es ging um das Hören guter Musik. Lenin hat gesagt, allzu oft könne er solche Musik nicht hören, weil man danach den Menschen die Köpfe streicheln möchte. Man dürfe ihnen aber nicht die Köpfe streicheln, sonst werde einem die Hand abgebissen. Man müsse auf die Köpfe schlagen. Was muss ein Mann, der so etwas sagte, für ein Menschenbild gehabt haben!«
»Sein älterer Bruder wurde im Zarenreich hingerichtet. Da war Lenin erst siebzehn«, entgegnete Sophie.
Sie näherten sich der Spreebrücke. Plötzlich sahen sie, wie ein Mensch, im Wasser liegend, unter der Brücke hervorkam.
»Da, ein Toter, ein Toter im Wasser!«, rief Sophie.
Ein Mann, der ihnen auf der Brücke entgegenkam, nahm eine am Geländer befestigte Stange mit einem Haken an der Spitze, lief die Böschung hinunter und angelte die Leiche, indem er mit dem Haken der Stange die Kleidung fasste.
»Polizei, einer muss die Polizei holen!«, rief der Mann.
Philipp rannte zur nächsten Kreuzung und kam mit einem Polizisten zurück. Inzwischen standen einige Zuschauer auf der Brücke.
»Was ist es denn?«, fragte der Polizist.
Der Mann zog an der Stange und hob kurz die Leiche mit dem Oberkörper aus dem Wasser. Es war ein Mann um die dreißig; er hatte noch eine Brille auf der Nase und schien über den Brillenrand hinweg die auf der Böschung Stehenden anzublinzeln.
»Komisch«, sagte der Polizist, »in letzter Zeit sind es fast nur junge Männer, die in die Spree gehen.«
»Lass uns weitergehen«, drängte Sophie.
Der Unterricht hatte längst begonnen. In der ersten Stunde hatten sie Geographie. Köhler bekam immer die erste Stunde, so konnten die anderen Dozenten ausschlafen, die Schüler während dieser Stunde allmählich eintrudeln, um zur folgenden Stunde pünktlich zu sein.
Als die beiden die Tür öffneten, stand Lehrer Köhler, auf seinem Zeigestock gestützt, vor einer Karte der Sowjetunion. Durch seine Brille mit runden, dicken Brillengläsern sah er sie streng an, nahm wie bei allen Störungen durch Zuspätkommende den Zeigestock wie eine Lanze unter den rechten Arm, zielte auf die Störer, watschelte mit seinen Plattfüßen auf sie zu und blieb kurz vor ihnen stehen.
»Bumm! Erschossen! Hinsetzen!«
Sie setzten sich.
»Na«, fragte Christian, »hat der Lichtweiß dir gestern noch den Marsch geblasen? Warum musstest du dich auch einmischen!«
»Ich verstehe dich nicht, du hast doch auch nicht geklatscht.«
»Ja, aber nur, weil es mir egal war.«