Читать книгу Gesang der Lerchen - Otto Sindram - Страница 16

9

Оглавление

Im Lokal »Zur Sonne«, gleich neben der Zeche gelegen, war an den Wochenenden Tanz. Wenn Paul nicht zur Schicht musste, konnte er mit seinen Kumpeln zum Tanzen gehen. Im Unterschied zu den meisten war er kein großer Fußballfreund, so dass ihm mit seinen bald zwanzig Jahren das Tanzen als eine der wenigen Vergnügungen blieb.

Manchmal, wenn er von der Frühschicht in die Nachtschicht wechselte und das freie Wochenende bevorstand, holte er sich ein Buch aus der Leihbücherei. Er las gerne Geschichten von den Menschen in früheren Zeiten. Als ihm einmal der Kassierer vom Knappenverein verbilligte Karten für das Duisburger Stadttheater anbot, fragte Paul, was denn in so einem Theater gespielt würde.

»Parsifal, eine Oper von Richard Wagner«, sagte der Kassierer und erklärte Paul, dass die Oper von Rittern handelte, die auf einem Berg einen kostbaren Stein bewachten, der ihnen von Engeln gebracht worden sei. Ein Zauberer wollte den Stein stehlen.

»Hast du schon Karten verkauft?«, fragte Paul.

»Nein, noch nicht.«

»Dann komm wieder, wenn du die erste Karte verkauft hast.«

Der Kassierer kam aber nicht wieder. Bald danach hörte Paul, dass die Stadtverordneten von Hamborn für ein eigenes Theater in ihrer Stadt gestimmt hatten.

Der Kaiser war nach Holland geflohen; sie lebten jetzt in einer Republik. Aber vier Jahre nach dem Ende des Krieges war für die Bergarbeiter immer noch keine Verbesserung des Lebens in Sicht. Es gab zwar für die unter Tage Beschäftigten zusätzliche Brot- und Margarinerationen, dafür mussten sie aber sechs Stunden in der Woche länger Kohle hauen, damit die Reparationslieferungen an Frankreich erfüllt werden konnten. Den Mehrverdienst, so fand Paul, konnte man sich in den Kamin schreiben, so schnell stiegen die Preise. Außerdem musste er das meiste von seinem Lohn sowieso zu Hause abliefern.

Ferdinand arbeitete nicht mehr auf der Zeche. Guste war einen Monat vor dem Ende des Krieges an Magenkrebs gestorben. Gleich nach ihrem Begräbnis hatte Ferdinand auf der Zeche gekündigt, und seitdem lebten sie von dem, was Paul und Johanna heimbrachten.

Johanna ging seit ihrem vierzehnten Lebensjahr putzen. Sie hätte gerne eine Stelle als Hausmädchen in einem Haushalt in der Stadt angenommen, aber Ferdinand erlaubte es nicht. Sie musste ja auch noch zu Hause arbeiten.

Emma war gerade aus der Volksschule entlassen worden und hatte eine Lehrstelle als Verkäuferin in einer Schlachterei bekommen. Aber damit konnte sie noch nicht viel zum gemeinsamen Haushalt beisteuern, von einigen Knochen mal abgesehen, die sie hin und wieder von dem Meister, der sie gut leiden mochte, geschenkt bekam, und von denen sie zu Hause eine Suppe kochen konnten. Sonst aber kostete Emma nur.

Ferdinand hatte inzwischen neben der Scheune aus billig erworbenen Brettern einen Schuppen gebaut. Auf der Wiese richtete er einen Auslauf ein. Den Draht dazu konnte er günstig gegen das Schaf eintauschen. Schuppen und Auslauf nannte er seine Hühnerfarm. Einige Hühner bekam er nach und nach für seine Hilfe bei einem Bauern, weitere züchtete er selber.

Wenn Paul und seine Kumpel zum Tanzen gingen oder nach der Schicht auf ein Bier, um den Kohlenstaub herunterzuspülen, sagten sie nicht, sie gingen »Zur Sonne«, sondern zu Hermann. Hermann Hülsken war der Wirt. Rundlich, von geringer Körpergröße, mit kurzen Armen und Wurstfingern war er lebhaft, lustig und bei den Kumpeln beliebt. An den Tanzabenden spielte Hermann den jungen Leuten mit dem Akkordeon auf, während seine Frau hinter dem Tresen stand und das Bier zapfte. Sie war ein ganzes Stück größer als Hermann. Hager, mit einem Habichtsgesicht und mit Basedow-Augen wachte sie über ihren Mann und darüber, dass in der Kneipe alles mit rechten Dingen und gesittet zuging und der Umsatz stimmte.

An den Sonntagabenden, wenn die jungen Arbeiter sich mit ihren Mädchen auf der Tanzfläche drehten, standen die älteren Kumpel in Hut und Mantel am Tresen, schauten dem Treiben zu und schüttelten die Köpfe über das »verrückte Gehopse«. Sie hatten am Morgen nach dem Kirchgang ihre Frauen zum Kochen heimgeschickt, wollten kurz beim Hermann vorbeischauen und dann nachkommen. Für ein Bier lohnte es aber nicht, Hut und Mantel abzulegen und sich hinzusetzen. So standen sie Stunde um Stunde am Tresen, tranken Bier, aßen zwischendurch mal eine Gurke oder eine Frikadelle von dem Angebot auf dem Tresen und lösten nebenbei die Probleme im Sportverein, auf der Zeche und in der Weltpolitik. Wenn Hermann gegen Mitternacht sein Akkordeon wegstellte und das Lokal abschließen wollte, gingen mit den letzten Tanzpaaren auch die Tresensteher heim.

Die meisten der Mädchen, mit denen die jungen Bergarbeiter sich zum Tanzen verabredeten, kannten sie schon aus ihren Kindertagen. Sie kamen wie sie selber aus der Alten Kolonie, oder sie waren aus der Neuen Kolonie. Paul war einer der wenigen, der nicht in einem Koloniehaus wohnte. Wenn die jungen Männer nach dem Tanzabend ihre Mädchen heimbrachten, so war es für viele kein großer Umweg und auch nicht weit. Um aber den Heimweg auszudehnen, gingen die Paare zuerst den entgegengesetzten Weg, vorbei an den Steigerhäusern und durch den Park, wo auch die Luft viel milder war und man die Sterne besser sehen konnte.

Manche der Mädchen erinnerten sich der Vorlieben früherer Verehrer, kannten die verschiedenen Bänke im Park, die stillen Orte dort und die Möglichkeiten sich zurückzuziehen. Einige Mädchen waren schon vor dem Kriege mit ihren Tanzpartnern hier, waren älter als ihre Begleiter und kannten sich bestens aus. Aber ihre Vorkriegspartner waren aus dem Krieg nicht heimgekehrt, und so taten sie gut daran, sich unwissend zu stellen und sich von den Jünglingen der Nachkriegszeit den mitternächtlichen Park und seine Geheimnisse erneut zeigen zu lassen.

Dann besetzten französische und belgische Soldaten das Ruhrgebiet. Paul las in der Zeitung, dass Deutschland mit seinen Reparationslieferungen, besonders mit der Lieferung von Kohle, im Rückstand war. Er wusste, dass die Franzosen und die Belgier schon seit einiger Zeit den Duisburger Hafen und Ruhrort besetzt hielten. Aber das war ihm gleichgültig. Was ging ihn der Hafen an! Jetzt aber betraf es ihn ganz unmittelbar.

Die Besatzer teilten in einem Erlass mit, die deutsche Bevölkerung dürfe die Bürgersteige nicht benutzen, sondern müsse auf der Straßenmitte gehen; es sei verboten, die Hände in den Hosentaschen zu haben, die leeren Handflächen müssten immer sichtbar vorgezeigt werden. Und sie verhängten eine Ausgangssperre für die Zeit der Dunkelheit von frühabends bis morgens.

Das war eine Katastrophe! Was sollte aus den Tanzabenden werden? Die Bergarbeiter im Schichtdienst bekamen zwar einen Nachtausweis, um den Weg zur Zeche und nach Hause gehen zu dürfen. Damit konnte man auch schon mal einen Gang abseits vom vorgeschriebenen Wege wagen. Wo aber sollten sie die Mädchen verstecken, wenn die Besatzungssoldaten kontrollierten?

An einem Sonntagnachmittag stand Paul mit einigen Tanzfreunden bei Hermann am Tresen. Sie berieten, was zu tun sei und wie sie heimlich die Mädchen in das Lokal und wieder heim schaffen könnten. Da machte ein älterer Kumpel, der in Hut und Mantel und mit Bier schon gut abgefüllt daneben stand, einen Vorschlag.

»Tanzt doch nachmittags.«

Alle schauten ihn überrascht an. Wie doch der Alkohol den Geist beflügelte! Das war die Lösung. Ab sofort gab es bei Hermann an den Sonntagen Tanznachmittage, die bis zum Beginn der Sperrstunde dauerten. Lisa Krüger durfte trotz ihrer gut achtzehn Jahre bisher nicht zum Tanzen. Ihre Mutter erlaubte es nicht, und auch ihr Bruder Hännes, der älter war als Lisa, äußerte Bedenken. Er wusste aus eigenem Erleben, was sich nach einem solchen Tanzabend in der Nacht auf den Parkbänken und hinter den Büschen tat.

Josepha und Jacob Krüger wohnten schon von Anfang an in der Neuen Kolonie. Die Eheleute waren, aus dem Magdeburgischen kommend, dort eingezogen, als Jacob auf der Zeche als Bergmann anfing. Die Krügers hatten sechs Kinder, und weil sie eine gute katholische Familie waren, trugen alle Kinder biblische Namen.

Lisa hieß eigentlich Elisabeth, aber niemand, außer manchmal ihre Mutter, nannte sie so. Sie war ein eher stilles Kind und wurde als Nesthäkchen der Familie von den Geschwistern leicht an den Rand gedrückt. Schlank, blond, mit einem offenen Gesicht und mit blauen Augen war sie von allen wohlgelitten, ließ sich aber auch leicht ausnutzen. Ihre Brüder hießen Joseph und Johannes, wurden aber Jupp und Hännes gerufen. Ihre Schwestern Maria, Margarete und Katharina hörten auf Mariechen, Grete und Kat. Lisa lebte als Einzige noch bei ihren Eltern. Sie war nach der Lehre als Schuhverkäuferin bei einem Juden eingestellt worden, kam aber abends heim.

Als bekannt wurde, dass das Tanzen nun nachmittags stattfand, erlaubte die Mutter Lisa die Teilnahme unter der Bedingung, dass sie mit ihrer Freundin hinging, beide dort zusammenblieben und dass Lisa auch mit der Freundin wieder heimkam. Sie versprach es. Anfangs saßen die beiden auch wirklich gemeinsam an einem Tisch vor ihren Limonaden. Als Paul aber Lisa das erste Mal zum Tanzen holte, war die Freundin schon nicht mehr zu sehen.

Paul erklärte Lisa die ersten Tanzschritte und lobte sie als sehr gelehrig. Nach einigen Tänzen waren sie erhitzt, gingen vor die Tür und hinter das Haus. Kurz vor der Sperrstunde fand sich die Freundin wieder ein, und die beiden Mädchen gingen brav zusammen heim.

Nach drei Monaten war Lisa schwanger. Sie sagte Paul nichts davon, beichtete es aber ihrer Mutter. Josepha verprügelte erst ihre Tochter, bestellte dann Paul zu sich, holte ihren Mann dazu, und gemeinsam besprachen sie die Hochzeit. Paul musste schwören, dass es eine katholische Trauung werde und dass alle Kinder katholisch erzogen würden.

Kurz vor dem Hochzeitstermin informierte Paul seinen Vater. Ferdinand tobte, als er hörte, Paul werde zu den Schwiegereltern ziehen. Was würde die Zeche dazu sagen, wenn niemand aus der Scheune mehr dort arbeitete? Er sah sich schon auf die Straße gesetzt. Es war trotz der schweren Zeit eine schöne Hochzeit. Paul bekam von einem Kumpel einen dunklen Anzug geliehen. Josepha änderte für Lisa ein weißes Brautkleid, in dem auch schon die Schwestern vor den Altar getreten waren.

Vier Monate nach der Trauung bekam Lisa ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, und sie nannten es Guste, nach Pauls verstorbener Mutter. Kurz nach der Geburt seiner Tochter zog Paul in die Neue Kolonie. Josepha bestimmte, dass Jacob, den sie schon lange aus ihrem Schlafzimmer verbannt hatte, sein Bett in die Dachkammer stellte. Das junge Paar bekam ein Zimmer in der Krügerschen Wohnung, gekocht wurde gemeinsam. Paul gehörte jetzt zur Familie Krüger.

Jacob und Josepha hatten sich auf einem Gut im Magdeburgischen kennen gelernt. Genau genommen hatte Jacob, wie er manchmal scherzhaft zu sagen pflegte, seine Frau auf der Straße aufgelesen.

Er war herrschaftlicher Kutscher beim Herrn Baron. Josepha kam aus Schlesien und war aus einer kinderreichen Familie. Als sie feststellte, dass in ihrer Familie kein Platz mehr für sie war und sie in ihrer Heimat keine Bleibe und keine Arbeit finden konnte, nahm sie ein Tuch, schnürte ihre Kleider darin zusammen und wanderte bis in die Magdeburger Börde. Jacob, der gerade den Herrn Baron zu einer Landwirtschaftsmesse kutschiert hatte und auf dem Rückweg war, erlaubte ihr, ein Stück mitzufahren. Sie kamen ins Gespräch und stellten fest, dass sie beide katholisch waren. Jacob nahm Josepha mit, und durch seine Vermittlung bekam sie Arbeit auf dem Gut, wurde bei der Feldarbeit eingesetzt und durfte im Winter der Köchin in der Küche helfen.

Mit ihrer großen, schlanken Gestalt, ihrem langen, blonden Haar, das sich glatt um ihr Gesicht legte und das sie hinten zu einem Knoten zusammengebunden trug, war sie nicht zu übersehen. Wenn sie in ihren weiten, bis zu den Fußspitzen reichenden Röcken mit weit ausholenden Schritten daherkam, beeindruckte sie die jungen Männer, so auch Jacob. Auch Josepha fand Gefallen an Jacob und war ihm vor allem dankbar. Mittelgroß, schlank und mit kurzem, aber vollem, schwarzem Haar und einem ebenso schwarzen Schnurrbart, einer großen, geraden Nase und lustigen Augen machte er den Eindruck eines Menschen, dem man vertrauen konnte. Er bot Josepha an, ihn zu heiraten und zu ihm in die Kutscherkate zu ziehen. Josepha sagte ja.

Als sich Jahr für Jahr bei ihnen ein Kind einstellte, sahen sie, dass die Familie auf dem Gutshof keine Zukunft haben werde. Jacob bemühte sich und fand durch einen Freund eine Stelle als Bierkutscher bei der Schultheiss-Brauerei in Berlin. Der Herr Baron erlaubte, dass Josepha mit den Kindern noch so lange in der Kutscherkate wohnen bleiben konnte, bis ihr Mann eine Wohnung in Berlin gefunden hatte. Jacob machte die neue Arbeit Spaß. Wenn er mit dem Gespann durch Berlin fuhr, vor sich vier schwere Pferde in ihrem schmucken Geschirr, an dem die Messingbeschläge glänzten, hinter sich den Wagen mit den kunstvoll gestapelten, blankgeputzten Bierfässern aus gutem Buchenholz, dann genoss er es, dass die Berliner stehen blieben und staunten.

Aber Jacob hatte Pech mit seiner Kutscherstelle, und daran war kein geringerer schuld als Seine Majestät der Kaiser höchstpersönlich. Es war ein schöner Frühlingstag, Jacob war mit dem Gespann unterwegs. Die frischgeputzten Messingbeschläge am Geschirr der Pferde blinkten an diesem Tage ganz besonders, und die Berliner winkten freundlicher als sonst.

An einer Kreuzung geboten ihm plötzlich zwei Gendarme zu halten. Die Weiterfahrt war gesperrt, weil die Equipage des Kaisers durchfahren sollte. Jacob war ein friedfertiger Mann und hielt das Gespann brav an. Die Pferde standen auch eine ganze Weile still und warteten zusammen mit ihrem Kutscher auf die Vorbeifahrt ihrer Hochgnädigsten Majestät. Aber Tiere sind keine braven Untertanen im üblichen Sinne, und Brauereipferde im Gespann gehorchen erst recht eigenen Gesetzen.

Genau in dem Moment, als, begleitet von mehreren Reitern hoch zu Ross, die kaiserliche Equipage mit der Allergnädigsten Fracht die Kreuzung passieren wollte, gingen die Brauereipferde los und waren durch nichts zu halten. Das prunkvolle Kaisergefährt, sollte es nicht mit den Bierfässern zusammenstoßen, musste angehalten werden. Jacob blieb nichts weiter übrig, als sein Gespann so schnell wie nur möglich über die Kreuzung zu bringen. Hochoben auf seinem Bock sitzend, knallte er mit der Peitsche, grüßte die erschrockene Majestät und das Reitervolk und war auch schon vorbei. Im Augenwinkel sah er noch, wie der Kaiser von seiner mit Samt und Seide bespannten Bank glitt und sich auf den Boden der Equipage warf. Komisch, dachte Jacob, der Hohe Herr muss wohl sehr ängstlich sein und den Peitschenknall falsch gedeutet haben.

Als Jacob zur Brauerei zurückkam und abschirren wollte, empfingen ihn der Stallmeister und die ganze Direktion. Ein kaiserlicher Reiter hatte schon die Nachricht von dem Vorfall überbracht und vom allerhöchsten, allergnädigsten Zorn berichtet. Jacob wurde sofort entlassen, er durfte nicht einmal mehr die Pferde abschirren. Jetzt musste er ganz schnell eine neue Arbeit und sehr bald auch eine neue Unterkunft für seine Familie finden. Josepha hatte ihm geschrieben, dass der Herr Baron sie bedränge, und nachdem sie sich ihm verweigerte, verlange er, dass sie bald die Kate freimachen müssten für den neuen Kutscher.

In der Brauerei arbeitete ein Masure, der Jacob einen Aufruf einer Zeche aus dem Ruhrgebiet zeigte. Der Masure war Junggeselle und wollte ursprünglich ins Ruhrgebiet wandern, nun aber lieber doch in Berlin bleiben.

»Masuren!«, las Jacob laut. »In rheinländischer Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen für gute Luft, liegt abseits vom großen Getriebe des Industriebezirks eine ganz neu erbaute Kolonie aus modernen Häusern. Jedes Haus besteht aus zwei getrennten Wohnungen. Die Zimmer sind schön groß und luftig. Die Decken sind drei Meter hoch. Zu jeder Wohnung gehört ein trockener Keller, so dass sich die eingelagerten Früchte, Kartoffeln usw. dort sehr gut halten werden. Ferner gehört dazu ein geräumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. Zu jeder Wohnung gehört auch ein Garten von über zwanzig Quadratmetern. So kann sich jeder seinen Kohl und seine Kartoffeln selber ziehen. Es gibt Wasserleitungen und Kanalisation. Abends werden die Straßen elektrisch beleuchtet.«

Jacob fuhr zum Gut, zeigte Josepha den Aufruf, sie schrieben an die Zechenverwaltung, und bald schon befanden sie sich auf dem Wege in ihre neue Heimat. Josepha lebte sich im Ruhrgebiet schnell ein. Sie fühlte sich wohl in der Kolonie und freute sich besonders über die neue Wohnung. Das erste Mal in ihrer Ehe besaß sie eine richtige große Wohnküche, ein Schlafzimmer nur für sich und Jacob sowie zwei Zimmer für die Kinder, in denen Jungen und Mädchen getrennt schliefen. Und sie besaßen einen Stall, in dem sie ein Schwein halten konnten. Jacob wurde gleich unter Tage beschäftigt. Er arbeitete zuerst als Schlepper und verdiente nur einen Teil von dem, was ein richtiger Bergarbeiter bekam. Nach einer kurzen Anleitung durch einen erfahrenen Kumpel aber durfte er als Hauer »vor Ort« arbeiten. Die Arbeit fiel ihm schwer; besonders die Wärme, der Staub und die schlechte Luft machten ihm zu schaffen.

»Wenn du einen Furz lässt, sorgt das Wetter dafür, dass alle hier was davon haben«, sagte ihm der Kumpel.

Dazu kam die Gefahr, jederzeit von herabstürzendem Gestein erschlagen zu werden. Wenn Jacob durch sorgfältigen Ausbau mit Stempelholz die Gefahr verringern wollte, konnte er beinahe nichts verdienen. Der mit dem Steiger ausgehandelte Lohn erlaubte kaum Sicherheitsarbeiten. Als die anderen Kumpel das erfuhren, schimpften sie mit ihm.

»Lass dich von dem Laufhund bloß nicht übers Ohr hauen!«

»Laufhund?«, fragte Jacob.

»Der Steiger«, und sie erzählten ihm, dass sie erst kürzlich für einen besseren Lohn in den Streik getreten waren und dass seitdem endlich auch das »Nullen« abgeschafft worden sei.

»Was ist das, das ›Nullen‹?«

»Wenn einige Steine im Wagen waren, bekamst du den ganzen Wagen nicht angerechnet; du hast für die Katz gearbeitet und für die Grubenbarone«, erklärten ihm die Kumpel.

Mit der Zeit gewöhnte Jacob sich an die Verhältnisse, wusste sich zu verkaufen, verdiente gutes Geld und sah, dass es mit der Familie vorwärts ging.

Josephas Ehrgeiz war es, allen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Sie dachte praktisch und wollte später einmal Nutzen von ihren Kindern haben. Die Ansiedlung von immer mehr Handwerksbetrieben und Geschäften, seit Hamborn die Stadtrechte bekommen hatte, kam ihrem Wunsch entgegen.

Jupp, der Älteste, wurde Tapezierer und Maler; Grete, die Zweite, kam zu einer Schneiderin in die Lehre. Kat, Mariechen und Hännes gingen noch zur Schule, die kleine Lisa lernte gerade das Laufen. Jupp war der Erste, der nach der Lehre zusätzlich zu Jacobs Lohn Geld heimbrachte. Bald verdiente auch Grete.

Die Zeit verging, die Kinder wuchsen heran. Kat bekam eine Lehrstelle als Köchin, Mariechen ging bei einem Kaufhausbesitzer in Stellung, Hännes half nach dem Schulunterricht beim Zeitungaustragen, Lisa kam in die Schule. Es ging ihnen gut.

Da begann der Krieg. Josepha freute sich nicht darüber, sie beteiligte sich auch nicht an den Straßenfesten in der Neuen Kolonie und verbot es ebenfalls ihren Kindern. Sie wurde die Ahnung nicht los, dass sie dafür, dass es ihnen bisher so gut gegangen war, noch ein großes Opfer werde bringen müssen. Wie alle anderen hoffte sie aber auch, dass in höchstens sechs Wochen der Krieg vorbei sein würde.

Aber der Krieg dauerte. In der ersten Zeit ging es ihnen noch weiterhin gut. Sie schlachteten ihr Schwein, pökelten es ein und lebten eine ganze Weile von dem Fleisch. Als der Krieg ein Jahr alt wurde, meldete sich auch bei den Krügers die Not. Die Kinder aßen das mit Kartoffeln gestreckte Kriegsbrot und klagten über die dünnen Scheiben. Josepha teilte das auf den Marken erhältliche Fleisch ein, so dass Jacob den größten Anteil bekam, die Jungen weniger große und die Mädchen die kleinsten Stücke erhielten. Sie selber erklärte sich ab sofort zu einer Vegetarierin.

Im zweiten Kriegsjahr wurde Jupp eingezogen. Schon nach einem Monat bekamen sie einen Brief von seinem Kompanieführer, dass Joseph Krüger für Kaiser und Vaterland auf dem Felde der Ehre gefallen sei. Josepha konnte nicht weinen. Sie zog schwarze Kleidung an und trug seither ihr ganzes langes Leben lang schwarz. Jacob sagte nicht viel. Er zog sich nach der Arbeit immer öfter in die Dachkammer zurück, die er sich als Schusterstube eingerichtet hatte, und schusterte für die Familie und die Nachbarn.

Der Krieg ging schließlich zu Ende, die Not aber blieb. Josepha und die Mädchen mussten viel Zeit und Geduld aufbringen beim Schlangestehen, um das, was ihnen laut Lebensmittelkarten zustand, auch wirklich zu bekommen. Die jungen Bergarbeiter, wenn sie nicht gefallen waren, kehrten in die Neue Kolonie zurück und nahmen ihre Arbeit wieder auf. Josepha dachte an Jupp und bekam schmale Lippen. Die Mädchen traten nach und nach in den Ehestand. Alle heirateten standesgemäß Bergarbeiter. Hännes beendete seine Lehre als Bäcker und Konditor und wohnte ganz beim Bäckermeister. Bald wohnte nur noch Lisa zu Hause. Josepha dachte schon daran, zwei Kostgänger zu nehmen, da passierte das mit Lisa.

Kurz nach der Geburt der kleinen Guste war Lisa wieder schwanger geworden. Erneut war es ein Mädchen, das sie Hilde nannten. Josepha gab dem jungen Paar ein zweites Zimmer und behielt nur noch ihre Schlafkammer. Jacob wohnte ganz in der Dachkammer. Gekocht wurde weiterhin zusammen, und gemeinsam lebten sie auch in der Wohnküche. Nur wenn Paul sehr betrunken heimkam, schloss Josepha die Wohnküche von innen ab und ließ ihn nicht hinein. Lisa war bald zum dritten Mal schwanger, und Josepha war besorgt.

»Willst du so weitermachen? Dann müssen wir eine größere Wohnung nehmen, mit einer zweiten Dachkammer.«

Hilde aber wurde nur ein halbes Jahr alt und starb noch vor der Geburt des dritten Kindes.

An einem bitterkalten Wintertag, der Rhein war zugefroren, bekam Lisa ihr drittes Kind. Es wurde wieder – wie schon die ersten beiden Kinder – zu Hause geboren. Die Geburt war schwer; da das Kind querlag. Die Hebamme schaffte es nicht, es zu drehen.

»Es will einfach nicht«, meinte sie.

Jacob musste einen Strick aus dem Stall holen, und zu zweit zogen sie einen Jungen auf die Welt. Josepha wickelte »das kleine Würmchen«, wie sie es nannte, in ein Tuch, legte es in einen Schuhkarton, schob den Karton in den Backofen, stellte die offene Ofenklappe mit einem Holzscheit fest und legte genügend Kohlen nach, damit der Herd über Nacht nicht aus ging.

Lisa ging es schlecht; sie bekam hohes Fieber. Die Hebamme ließ einen Arzt holen. Er gab der Familie wenig Hoffnung.

»Wenn sie die Nacht übersteht, gibt es eine Chance. Geben Sie ihr nichts zu trinken. Ich schaue morgen wieder vorbei.«

Paul war nach der Schicht nicht nach Hause gekommen. Er feierte mit seinem Kumpel Philipp dessen Geburtstag bei Hermann. Als er in der Nacht heimkam, teilte Josepha ihm mit, dass er einen Sohn habe und zeigte auf den Schuhkarton im offenen Backofen. Paul verstand sie nicht und schlief am Tisch ein.

Später in der Nacht bat Lisa um etwas zu trinken. Josepha stand aus ihrem Bett auf, ging in die Küche und sah, dass die Ofenklappe zugefallen war. Sie öffnete die Klappe wieder, stellte sie mit einem größeren Holzscheit erneut fest und verhinderte so, dass Lisas Kind erstickte. Dann gab sie ihrer Tochter von dem Weihwasser, das sie in einer alten Weinflasche am letzten Palmsonntag aus der Kirche mitgebracht hatte. Lisa trank einen Schluck und musste sich übergeben.

»Das ist ja faul!«, sagte sie.

Josepha nahm das Wasser und besprenkelte Lisa damit, besonders deren Leib. Am nächsten Tag erzählte sie dem Arzt davon und dass sie damit ihre Tochter über die Nacht gerettet habe.

Der Arzt bereitete eine Permanganatlösung, spülte damit den Unterleib seiner Patientin und stoppte so die Infektion. Die Flasche nahm er mit und schüttete das geweihte Wasser draußen auf den Misthaufen.

Paul bekam den Tag nach der Geburt frei, nahm das Familienbuch, ging zum Standesamt und meldete seinen Sohn an. Als der Standesbeamte ihn fragte, wie denn der neue Erdenbürger heißen solle, dachte Paul an die Geburtstagsfeier vom Vortag mit seinem Kumpel Philipp und wie spendabel der war.

»Philipp soll er heißen, jawoll, Philipp.«

»Gut«, sagte der Standesbeamte, »Philipp Siebert also. Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Sohn Philipp viel Erfolg im Leben haben wird.«

Gesang der Lerchen

Подняться наверх