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Erster Teil
Liebe, Liebe 1
ОглавлениеPhilipp Siebert war ratlos. Der Mann in der Berufsberatung hatte ihm eindringlich geraten, Bergarbeiter zu werden.
»Der Führer braucht Kohle für den Endsieg. Du siehst doch selber, wie diese Mörderbande das Ruhrrevier bombardiert hat. Wir müssen sie bald besiegen.« Also müsse Philipp unbedingt Bergarbeiter werden. Der Vater sei doch auch Bergarbeiter? »Na siehst du! Und außerdem gehört dort das Abzeichen der Hitlerjugend hin.«
Der Mann stieß mit seinem Zeigefinger energisch gegen Philipps Brust. Dieser trug noch immer den Bleyle-Anzug aus dunkelblauer Wolle von seiner Kommunionsfeier, mit kurzen Hosen und einer Jacke mit langem Revers; jetzt zwar ohne weißen Kragen, den hatte er inzwischen abgeknöpft, aber eben auch ohne das Abzeichen der Hitlerjugend. Philipp fühlte sich schuldig und hätte dem Mann am liebsten sofort seine Begeisterung für den Beruf des Bergarbeiters mitgeteilt.
»Ehe du Bergmann wirst, schlage ich dich vorher tot«, hatte zu Hause der Vater gesagt und dann ruhig weiter an seiner Tabakpfeife gesogen.
Und nun war Philipp ratlos. Da nahm die Mutter ihn an die Hand und sie gingen zur Eisenhütte. Philipp wurde Schlosserlehrling, aber mit einem unguten Gefühl, wenn er an den Endsieg dachte.
In der Werkstatt standen die Jungen in langen Reihen an den Schraubstöcken und lernten das Feilen, Meißeln und Bohren an vorgefertigten Metallteilen.
Der Werkstattleiter war ein jähzorniger Mann mit einer silbernen Schädelplatte, die er nach einer Verwundung an der Front bekommen hatte. Ständig trug er einen Hut; nur wenn er mit wehenden Kittelschürzen schimpfend und Ohrfeigen verteilend durch die Werkstatt eilte und ein letztes Argument nötig zu haben glaubte, zog er den Hut und zeigte allen seinen Silberschädel.
Philipp machte gewissenhaft seine Übungsarbeiten, lebte aber doch mit der dauernden Angst, geohrfeigt zu werden. Nach zwei Wochen, Philipp war gerade an diese Umgebung gewöhnt, kam der Meister mit der Silberplatte an seinen Schraubstock.
»Pack deine Sachen zusammen, aus dir wird doch kein Schlosser. Melde dich drüben im Forschungsinstitut, da ist im Labor eine Stelle für einen Laborantenlehrling frei geworden.« Als er Philipps verängstigtes, ratloses Gesicht sah, wurde er ungnädig. »Hau ab! In einer halben Stunde will ich dich hier nicht mehr sehen, sonst gibt es was!«
Der Laborleiter nahm Philipp mit zum Büro des Professors.
»So so, du bist das also«, sagte der Professor und hielt eine Rede über Pflichterfüllung für Führer und Vaterland in einer außergewöhnlichen Zeit und dass Jungen wie Philipp nur in einer solch großen Zeit so viel Glück zuteil werden könne.
Philipp gefiel die Rede, besonders wenn er Wendungen wie »zuteil werden« und »große Zeit« hörte. Er betrachtete respektvoll das Parteiabzeichen am Revers des Professors und das Führerbild an der Wand, fühlte sich auf einmal bedeutend und vergaß endgültig, dass er eigentlich Bergarbeiter werden sollte.
Zum Laborleiter, der Peter Hansen hieß und den hinter dessen Rücken alle Pidder nannten, fasste Philipp bald Vertrauen. Über ihn ging das Gerücht, er sei ein Kommunist. Philipp bekam von ihm Zeitschriften und Bücher geliehen.
»Lies das!«, sagte Pidder und legte dem Jungen immer mal wieder ein Exemplar auf den Arbeitsplatz.
Nach Ende des Krieges dauerte es ein halbes Jahr, bis der Professor aus einem englischen Internierungslager frei kam und an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war. Es hieß, dass er als Mitläufer eingestuft worden sei. Im Institut hatte sich wenig verändert, nur an der Wand hinter dem Schreibtisch des Professors hingen jetzt die »Betenden Hände« von Dürer.
Als Philipp seine Ausbildung abgeschlossen hatte, musste er wieder vor diesem Schreibtisch stehen und einen Vortrag anhören. Von der Erwartung war die Rede und dass er nun seine Pflicht für Firma und Vaterland ... Er habe eine gute Prüfung gemacht, sicher, aber menschlich − der Professor wiegte seinen Kopf −, menschlich habe er enttäuscht.
»Was warst du doch ein netter, bescheidener Junge, als du bei uns anfingst! Du musst lernen dich einzuordnen und Autoritäten zu achten. Und halte dich von Leuten fern, die einen schlechten Einfluss auf dich haben.«
Philipp musste immer auf die »Betenden Hände« an der Wand schauen und erwartete jeden Moment, dass sie sich voneinander lösen und zum Führergruß erheben würden. Er musste grinsen.
»Mach, dass du rauskommst!«, polterte der Professor.
Pidder nahm den Jungen zur Seite.
»Geh von hier weg! Wenn du weiter zur Schule gehen möchtest, werde ich dir helfen. Ein Stipendium könntest du auch bekommen. Ich beziehe aus Berlin das ›Neue Deutschland‹, da steht gerade etwas für dich drin. Morgen bringe ich es dir mit.«
Am nächsten Tag las Philipp: An der Berliner Universität ist jetzt auch eine Vorstudienabteilung eröffnet worden. Arbeiter- und Bauernkinder sowie Kinder der werktätigen Intelligenz, die über eine abgeschlossene Grundschul- und Berufsausbildung verfügen und sich durch hervorragende Arbeitsleistungen in der Produktion auszeichnen, können von sozialistischen Betrieben zum Besuch der Vorstudienabteilung delegiert werden.
Ein sozialistischer Betrieb ist das hier ja nun nicht gerade, dachte Philipp, und in den Osten delegieren wird mich wohl auch keiner. Pidder aber meinte, das sei ein Text für die Sowjetzone, und in Berlin würden sie es wohl nicht so genau nehmen. Dabei zupfte er an seinen kräftigen, schwarzen Augenbrauen, als wollte er sie ausreißen, was er immer tat, wenn er verlegen wurde.
Einen Monat nach der Währungsreform, Philipp hatte gerade das erste Mal sein Gehalt in neuem Geld bekommen, erhielt er aus Berlin eine Einladung zur Aufnahmeprüfung. Ende September verabschiedete er sich im Institut.
»Was nütze es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele«, gab ihm der Professor bedeutungsvoll mit auf den Weg, schenkte ihm ein kleines Buch mit Bibelsprüchen, ging anschließend ins Labor und rieb sich inmitten der Laboranten die Hände.
»Den sind wir also los!«
Alle lachten zustimmend. Pidder schwieg und drückte, als sie alleine waren, dem Jungen auch ein schmales Bändchen in die Hand. Als Philipp das Bändchen aufschlug, sah er, dass es in London gedruckt worden und genau 100 Jahre alt war; das Papier war schon ganz gelb. Es trug den Titel »Manifest der Kommunistischen Partei« und begann mit dem Satz: Ein Gespenst geht um in Europa ...
Vater Siebert brachte Philipp zum Bahnhof und trug den Jutesack mit dem Federbett.
»Wie willst du mit den beiden Koffern das alles noch tragen?«, fragte er.
»Es wird schon gehen«, antwortete Philipp. Er brauchte dieses Federbett nicht, wollte aber seine Mutter nicht kränken.
»Deine Aussteuer, und damit du es warm hast«, hatte sie mit einem missglückten Lächeln gesagt, ihm einen Kuchen eingepackt, verstohlen noch einen Christopherus-Taler in die Hand gedrückt und dann still geweint, so wie er sie manchmal hatte weinen sehen, wenn sie von ihrem Mann geprügelt worden war oder ein anderer Kummer sie quälte.
Der Zug lief ein, Philipp umarmte den Vater, spürte dessen Stoppelbart und den von der vielen Arbeit ausgemergelten Körper.
»Dass du ab morgen ein Russe bist, das weißt du ja!«, rief der Vater, dann blieb er auf dem Bahnsteig zurück.
Philipp winkte ihm noch einmal zu, einem müden alten Mann von dreiundvierzig Jahren.
Nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion hatte Sophie Dahlhaus Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Sie war erst sechs Jahre alt, als die Nazis ihren Vater verhaftet hatten und sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in die Sowjetunion geflohen war. Seitdem haben ihr Bruder und sie in sowjetischen Kinderheimen gelebt, wurden in Schulen zusammen mit Kindern vieler Nationen unterrichtet und sprachen nur Russisch. Die Mutter musste arbeiten. Nur einen Teil der Ferien, und auch nicht in jedem Jahr, konnten die Kinder bei ihr sein − für Sophie zu wenig, um weiterhin die deutsche Sprache sprechen zu können. Ihr Bruder Kurt war bei der Flucht aus Deutschland schon neun Jahre alt und sprach länger und besser Deutsch. Aber nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass ihr Vater von den Nazis hingerichtet worden sei, weigerte er sich, »die Sprache der Mörder« zu sprechen, und wollte nach dem Kriege auch nicht mehr nach Deutschland zurück.
So kam Edda Dahlhaus im Juni 1945 allein mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Sophie nach Deutschland. Der Beauftragte des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschland für das Land Brandenburg empfing sie, besorgte ihnen eine Wohnung und teilte die Genossin Edda zum Einsatz in der Verwaltung der Stadt und des Kreises Neuruppin ein. Ab sofort zuständig für das Wohnungs- und Fürsorgewesen, war sie mit der Beschaffung von Wohnraum für die vielen Flüchtlinge aus dem Osten und der Versorgung der Bevölkerung beschäftigt.
Sophie genoss es, nach den Jahren der Trennung wenigstens an den Abenden mit der Mutter zusammen sein zu können. Sie lernte fleißig die deutsche Sprache, und als im Oktober die Oberschule in der Stadt ihren Betrieb wieder aufnahm, meldete Edda ihre Tochter dort an.
Edda aber war mehr und mehr eingespannt in der Stadtverwaltung und kam an den Abenden immer später nach Hause. Wenn sie in den seltener werdenden gemeinsamen Stunden begeistert erzählte, dass sie einen Saboteur habe verhaften lassen oder einen Spion entlarven konnte, wurde Sophie neidisch. Sie erinnerte sich an ihre Zeit in der Sowjetunion und wie gerne sie im Unterricht »Spione und Konterrevolutionäre entlarven« geübt hat. Ihre Wachsamkeit wurde dadurch so sehr geschult, dass sie bei einer notwendigen Blinddarmoperation den behandelnden Arzt ablehnte; sie erkannte in ihm einen Konterrevolutionär.
In der Oberschule in Neuruppin bekam Sophie Schwierigkeiten, sowohl mit ihren Mitschülern als auch mit dem zu erlernenden Stoff. Die Lehrer rieten Edda schließlich, ihre Tochter von der Schule zu nehmen. Edda tobte und beschimpfte die Pädagogen als Faschisten und Reaktionäre, folgte aber endlich doch dem Rat der Schule. Sophie übernahm allein die Hausarbeit. Edda machte Karriere in der Verwaltung und in der Politik. Sie wurde Kulturreferentin und Kreisrat für Volksbildung.
Eines Abends übte Edda zu Hause ein Referat, das sie am nächsten Tag vor Kulturschaffenden halten sollte und das da lautete: Überlegungen über die Notwendigkeit der Beseitigung der feudalen Herrschaftsbauten in Brandenburg gemäß dem Befehl der Sowjetischen Militär-Administration SMA. Sophie musste Publikum spielen und zuhören. Und während sie sich bemühte, den Gedanken der Mutter zu folgen, ging es ihr plötzlich durch den Kopf: Sie beutet mich aus, meine Mutter macht Karriere auf meine Kosten. Am Tage darauf las Sophie im »Neuen Deutschland«, dass an der Berliner Universität eine Vorstudienabteilung für Arbeiter- und Bauernkinder mit abgeschlossener Berufsausbildung eröffnet worden sei. Vielleicht nehmen sie es ja nicht so genau, dachte sie, und schrieb ohne Wissen ihrer Mutter eine Bewerbung an die Universität Berlin.
Christian Koschek, der Junge, hat heimlich in den Quarkbehälter gepinkelt. Ein Molkereiarbeiter hatte ihn einen Pollacken geschimpft. Als Christian danach, an der Abpackmaschine stehend, auf dem Laufband die in Wachspapier gewickelten, durch die Oberlichtsonne beschienenen und in reinem Weiß leuchtenden Quarkportionen mit der Aufschrift »Deutscher Qualitätsquark aus Potsdam« an sich vorbeiziehen sah, war er zufrieden. Er hatte sich dagegen zu wehren versucht, in dieser Molkerei zu arbeiten, und wollte weiter zur Schule gehen. Aber seine Mutter meinte, dass das Faulenzen ein Ende haben müsse, Krieg und Flucht seien nun vorbei, und mit seinen sechzehn Jahren sei er ohnehin zu alt für die Schule.
Frau Koschek kannte den Vorsitzenden vom Antifaschistischen Ausschuss in Potsdam, einen hageren, mit einer schwermütigen Frau verheirateten Kommunisten. Sie erzählte ihm, die Nazis hätten ihren Mann, einen polnischen Offizier, in Katyn erschossen. Seitdem erfüllte der Genosse Vorsitzende ihr manchen Wunsch und versuchte sie zu trösten. Er hatte Christian die Arbeit in der Molkerei besorgt.Maria Koschek war dankbar und wusste es zu nutzen, dass ihr Sohn nun täglich mit Milch, Butter und Quark umging, das war kurz nach dem Krieg eine Goldquelle. Sie gab Christian allmorgendlich sein Frühstücksbrot in einer Blechdose mit und dazu eine mit Getreidekaffee gefüllte Flasche. Nur wenige Andeutungen waren nötig, und Christian wusste, was seine Mutter von ihm erwartete. So konnten sie dank glücklicher Umstände in einer Zeit des allgemeinen Hungerns gut leben; und weil Maria die Anteile der Molkereiprodukte, welche sie nicht zum Verzehr für ihren Sohn, für ihre alte Mutter und für sich benötigte, auf dem Schwarzmarkt eintauschte gegen vielerlei Kostbarkeiten und Güter des täglichen Lebens, fehlte es ihnen beinahe an nichts.
Anders als erwartet und von der Vertreibung aus Krakau abgesehen, hat sich damit Marias im kalten Januar des Jahres 1945 auf der Flucht aus Polen getaner Schwur schon nach einem Jahr erfüllt. Damals hatten sie und ihr Sohn in der Nähe von Cottbus frierend und halbverhungert dabeigestanden und zugesehen, wie junge Männer in der Uniform des Reichsarbeitsdienstes mit Hacken und Schaufeln die hartgefrorene Erde aufbrachen, Marias wenige Monate alt gewordene, erfrorene Tochter aus dem Handwagen nahmen, in die kalte Erde legten und das kleine Grab zuschaufelten.
Nie wieder frieren, nie wieder hungern, nie wieder fliehen, hatte sie sich da geschworen. Am Grabe ihres Säuglings, der ihr von der Liebe zu einem deutschen Besatzungsoffizier geblieben war, dem Elternhaus und ihrer Mutter in Potsdam schon näher als dem Anfang ihres Fluchtweges, fasste sie einen Entschluss.
»Komm!«, sagte sie zu ihrem Sohn, nahm die Deichsel auf, wendete den Handwagen und fuhr zurück, der nahenden Front und dem Flüchtlingsstrom entgegen.
Sie war entschlossen, sich mit den Siegenden zu arrangieren. Ihr Sohn folgte widerspruchslos. Er hoffte, in Krakau und in ihrem Haus mit dem großen Garten ein Leben führen zu können wie vor der Flucht, wollte Fußball spielen, schwimmen, Klavierunterricht nehmen und weiterhin das Lyzeum besuchen.
Christian mochte die Menschen nicht, die wie er in der Molkerei ihrer Arbeit nachgingen. Ihre Witze auf Kosten Schwächerer waren ihm zuwider. Er wusste aber, dass er mit dem, was er neben dem Lohn in beinahe wertlosem Geld heimbrachte, das zu Hause geführte Leben erst ermöglichte und daher nicht einfach aufhören konnte. Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reichten nicht zum Leben. Über zwei Jahre ließ ihn diese Einsicht in der Molkerei ausharren, dann änderte sich die Situation in der Familie.
Maria hatte gleich nach ihrer Vertreibung aus Polen im Hause von Sasse das Regiment übernommen. Frau von Sasse war ihrer Tochter dankbar dafür, denn seit dem Tode ihres Mannes fehlte ihr der Lebensmut. Zuerst entließ Maria das Hausmädchen Trude, denn in einer solchen Notzeit, so fand sie, bedeutete ein Esser weniger am Tisch schon viel. Danach bewarb sie sich erfolgreich um eine Küchenstelle in einem Hotel, das gleich nach dem Ende des Krieges für die Organisatoren der Potsdamer Konferenz eingerichtet worden war und seitdem von sowjetischen Offizieren bewohnt wurde. Dort lernte sie den Koch kennen, einen für diese Zeit ungewöhnlich fetten Mann um die fünfzig, der im Krieg seine Frau bei einem Bombenangriff verloren hatte. Er zog schon bald bei ihnen ein.
Christian konnte den Eindringling nicht leiden. Als aber Maria ihre Arbeit in der Hotelküche wieder aufgeben musste, um ihre immer hinfälliger werdende alte Mutter pflegen zu können, sah er, dass dieser Mann seinen Plänen nützlich sein könnte. Ermutigt durch die Sicherheit, die der Koch der Familie brachte, traute Christian sich, laut über Alternativen zur Arbeit in der Molkerei nachzudenken. Von seiner Mutter konnte er wenig Hilfe erwarten, dazu war sie zu sehr auf das Heute fixiert und mit dem Überleben beschäftigt.
»In Deutschland gehen nur Mädchen auf ein Lyzeum. Die Jungen gehen aufs Gymnasium, aber dazu müsstest du zu viel nachholen«, gab sie zu bedenken, »und mit Zwölfjährigen möchtest du doch sicher nicht zusammensitzen.«
Hilfe bekam er von einer Seite, von der er es nicht erwartet hatte. Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung BGL schlug vor, ihn zur Vorstudienanstalt VA zu delegieren.
»Im Neuen Deutschland habe ich gelesen, dass man an der Uni Berlin jetzt die Hochschulreife nachholen kann. Dort bekommst du ein Stipendium, und in zwei Jahren bist du fertig, kannst dann gleich weiterstudieren. Man sollte zwar eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, aber die nehmen es bestimmt nicht so wörtlich.«
Christian mochte auch diesen Mann nicht und vermutete, dass er ihn nur aus dem Betrieb haben wollte. Das aber war ihm gerade recht.
»Schreib einen Lebenslauf in zweifacher Ausfertigung und eine Bewerbung. Ich schreibe eine Befürwortung. Bei meiner nächsten Fahrt nach Berlin nehme ich alles mit«, sagte der Gewerkschaftler.
Christian schrieb und vergaß auch nicht den Mord an dem Vater in Katyn zu erwähnen − die offizielle Version, die inzwischen ja auch von der Mutter verbreitet wurde.
»In Polen hast du immer gesagt, die Russen haben Papa erschossen«, hat er ihr vorgehalten, als sie nach der Vertreibung aus Polen in Potsdam allen von der Ermordung ihres Mannes durch die Nazis erzählte.
»In Polen waren die Nationalsozialisten die Besatzungsmacht, hier sind es die Russen, und wir leben unter den Kommunisten. Es sagen hier doch alle, dass es die Nazis waren«, hat sie geantwortet.
Wenige Tage nach dem Schreiben seiner Bewerbung bekam Christian Koschek eine Einladung zur Aufnahmeprüfung. So begann in der Vorstudienanstalt VA der Universität Berlin seine Karriere.