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ОглавлениеSophies Mutter war durch ihren Kollegen und Genossen, den Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen, über die Sittenlosigkeit im Heim und über die Vergiftung durch westliche Nachrichten informiert worden. Sie bestellte Philipp zu sich in das Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen.
»Was ist denn bei euch im Heim los? Da höre ich ja entsetzliche Sachen.«
Philipp erzählte die Geschichte von Werner und den geschwängerten Frauen. Edda war empört.
»Was haben sich diese Leute eigentlich dabei gedacht!? Das hat mit sozialistischer Liebe und Moral gar nichts zu tun. Das ist bürgerliche Dekadenz. Aber es soll auch ein Devisenvergehen vorgekommen sein, habe ich gehört.«
Philipp tat ahnungslos. Edda fragte weiter.
»Was ist das übrigens für ein Mensch, mit dem du da zusammenwohnst?«
Vorsicht!, dachte Philipp, darum hat sie dich also kommen lassen. Diese Frau weiß mehr, als sie sagt.
»Er ist aus Potsdam, hat früher mit seinen Eltern in Polen gelebt. Sein Vater war polnischer Offizier; er ist von den Nazis in Katyn erschossen worden.«
»Hat er dir das so gesagt, von den Nazis?«
Philipp tat wieder ahnungslos.
»Ja, sicher!«
»Und wieso lebt er in der DDR?«
»Er ist unter der Besatzung der Nazis Deutscher geworden; seine Mutter ist Deutsche. Die Polen haben sie nach 45 aus Krakau vertrieben − äh, sie wurde umgesiedelt.«
Philipp konnte sich Eddas Interesse für Christian nicht erklären, vermutete aber, dass Sophie ihrer Mutter etwas erzählt hatte. Aber was? Was wusste Sophie, und was wusste ihre Mutter über das Leben im Heim?
Kurze Zeit später bekamen alle Heimbewohner die schriftliche Mitteilung vom Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, dass das Heim zum Ende des Semesters geschlossen werde. Den Heimbewohnern der ABF wurde zugesagt, dass sie bis eine Woche nach dem Abitur wohnen bleiben könnten. Christian und Philipp bekamen vom Büro der Fakultät Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg und außerhalb in Biesdorf angeboten. Beides sagte ihnen nicht zu. Da erinnerte Christian sich an das ehemalige Hausmädchen seiner Großeltern. Trude wohnte im Bezirk Friedrichshain und war inzwischen eine Frau mit weißen Haaren. Sie hat nie geheiratet und war nach dem Ende des Krieges, als Maria aus Polen vertrieben und mit ihrem Sohn in ihr Elternhaus zurückgekehrt war, von dieser entlassen worden. Allein und mittellos, wurde Trude von ihrer verheirateten Schwester aufgenommen. Zuerst starb ihr Schwager und bald danach ihre Schwester. Seitdem wohnte Trude allein in der großen Wohnung.
Erfreut über den Besuch von Marias Sohn war Trude sofort bereit, den beiden jungen Männern ihr größtes Zimmer zu überlassen, mit Plüschsofa und Biedermeier-Möbeln. Für zwei Betten wäre auch noch Platz. Ja, sie bot sich sogar an, ihnen auch mal etwas zu kochen, wenn sie es denn wünschten.
Isa und Lena dagegen wollten nicht wieder zusammen wohnen. Sie bekamen ebenfalls von der Musikhochschule Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg und außerhalb angeboten. Lena nahm ein Zimmer in Mahlsdorf, Isa bemühte sich um eine Bleibe in Friedrichshain, fand aber nichts und entschied sich für Prenzlauer Berg.
Philipp und Isa stellten frühzeitig den Antrag auf einen Interzonenpass, warteten auf die Prüfungen, auf das Ende des Semesters und freuten sich auf die Ferien.
Christian und Philipp beschlossen, an den beiden letzten Nachmittagen vor Beginn der Prüfungen nicht mehr zu lernen, das schöne Wetter auszunutzen und baden zu gehen. Sie überredeten die Frauen mitzukommen, und so fuhren sie gemeinsam hinaus an den Müggelsee, schwammen, tollten am Strand herum oder lagen in der Sonne und machten Pläne für die Zukunft. Isa freute sich, zusammen mit Philipp in ihrer Heimat und bei ihren Eltern sein zu können.
Lena schwärmte von der Sängerin Erna Berger und wollte wie diese gerne bald Liederabende geben. Christian wollte nun doch nicht Chemie studieren, sondern lieber Physik, weil das eben eine exakte Naturwissenschaft sei, in der es streng mathematisch zuginge und bei der man nicht so viel unnützes Zeugs auswendig lernen müsse wie in der Chemie. Philipp meinte, dass er wohl oder übel bei der Chemie bleiben werde, denn um jetzt noch zu wechseln, dazu sei er schon zu lange dabei, und das Auswendiglernen liege ihm mehr als die Mathematik.
Am Abend des zweiten Tages fand Philipp ein Schreiben der Sowjetischen Militäradministration SMA vor, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Antrag auf einen Interzonenpass abgelehnt worden sei. Einen Moment dachte er an seine Befragung durch Sophies Mutter. Auch an Werner Peitz musste er denken und dass Christian ihn gewarnt hatte, verscheuchte aber diese Gedanken schnell wieder. Ich sehe schon Gespenster, dachte er, nahm das Schreiben und ging zu Isa. Die zeigte ihm erfreut ihren Pass, aber als sie Philipps Brief gelesen hatte, begann sie zu weinen und stampfte mit dem Fuß auf.
»Warum, warum!? Was haben die gegen dich? Ich habe mich so auf die Ferien gefreut.«
»Ich verstehe das auch nicht, vielleicht darf nur ein Teil von uns Westlern rüber, und es hat gar nichts mit mir zu tun. Du hast eben Glück gehabt.«
»Willst du nicht mal nach Karlshorst gehen und bei der SMA nachfragen?«
Philipp erzählte ihr die Geschichte mit dem Stadtplan und von seinem Verhör.
»Ich habe keine Lust, noch einmal als Spion verdächtigt zu werden. Lass uns nach der Prüfung weiter darüber reden.«
Und dann begannen die Prüfungen. Lichtweiß nahm Philipp zur Seite und teilte ihm mit, dass Direktor Reitmann an all seinen mündlichen Prüfungen teilzunehmen gedenke.
»Aber keine Angst«, flüsterte Lichtweiß, »wir werden das schon schaukeln.«
Sollte das vielleicht alles nur wegen der versäumten Stalin-Feier sein?, fragte Philipp sich. Als er dann am Tisch den Prüfern gegenüber saß und mitten unter ihnen Reitmann sah, war ihm nicht ganz wohl. Die Gesichter der Dozenten drückten jedoch Entgegenkommen und Unterstützung aus, so dass er bald ruhiger wurde. Und tatsächlich schien es, als ob die Prüfenden vorher mit den ihm genehmen Fragen versorgt worden waren, denn sie fragten genau die Themen ab, in denen Philipp seine besonderen Stärken hatte, selbst Ordeich hielt sich daran.
So ging alles gut. Alle in der Klasse bestanden das Abitur und waren zufrieden. Bei der Übergabe der Zeugnisse durch Lichtweiß waren auch die anderen Dozenten anwesend, und nach einer kleinen Rede des Klassenlehrers begann das allgemeine Händeschütteln. Darüber kam Reitmann in die Klasse, gratulierte auch und teilte mit, dass er für einen noch eine besondere Auszeichnung habe: Christian Koschek sei aufgrund seiner Kenntniss der polnischen Sprache und seiner guten Leistungen ausgewählt worden, in der Sowjetunion studieren zu können. Reitmann überreichte Christian ein Schreiben des Staatssekretärs für das Hoch- und Fachschulwesen und gratulierte. Alle klatschten, Christian bedankte sich für die besondere Auszeichnung und versprach, die DDR würdig zu vertreten. Man wünschte ihm Glück, einige beneideten ihn, und Sophie erzählte vom Leben in der Sowjetunion und von den neuen Menschen dort.
»Kommt, gehen wir uns erst einmal besaufen!«, sagte Philipp.
Sie gingen in das Lokal »Zum groben Gottlieb« nahe dem Deutschen Theater. Sophie und Angela begleiteten die jungen Männer.
»Was wollt ihr Grünschnäbel denn hier?«, begrüßte Gottlieb sie. »Dass mir das nicht zur Gewohnheit wird; normalerweise dürfen hier nur anständige Leute rein. Setzt euch, trinkt und verhaltet euch ruhig!«
Sie tranken Bier, sprachen über die Prüfung, über die Dozenten, und sie waren sich einig, dass es doch eine schöne Zeit gewesen war, die eigentlich zu schnell vergangen sei.
Philipp trank viel und war bald betrunken.
»Ist das Zimmer bei dir noch frei?«, fragte er Sophie.
»Ja, ist noch frei.«
»Wann kann ich einziehen?«
»Wenn ihr schon nächste Woche aus dem Heim raus müsst, dann Montag. Mutti wird sich auch freuen.«
Als sie das Lokal verließen, mussten die anderen Philipp stützen.
»Wisst ihr was, wir verpassen ihm eine kalte Dusche«, schlug Christian vor.
Beim nächsten Hydranten setzten sie Philipp in die zum Tränken der Pferde vorgesehene Aussparung im Kantenstein. Christian zog den Hebel; ein großer Wasserstrahl ergoss sich über Philipp. Dieser schnappte nach Luft, sprang auf, klimperte erstaunt mit den Augenlidern und schaute die anderen vorwurfsvoll an.
»Warum macht ihr das, ich war so schön besoffen!«
Als sie im Heim eintrafen, war Philipps Kleidung immer noch durchnässt. Auf seinem Bett lag ein Brief von seiner Mutter. Ohne sich umzuziehen las er: Es geht uns gut, was wir auch von Dir hoffen. Opa kriegt keine Luft. Es geht immer schlechter. Oma hat ein Bein gebrochen. Onkel Hännes ist dauernd betrunken. Er wird noch seine Arbeit verlieren. Wenn Du kommst, wollen wir das Schwein schlachten. Die Witwe von Hermann ist auch gestorben.
Es grüßt Dich Deine Mutter
Am nächsten Tag half Christian Lena beim Umzug nach Mahlsdorf. Sie nahm die Nachricht von seinem Studium in der Sowjetunion gefasst entgegen. Die Beziehung zwischen den beiden war im Laufe der Zeit mehr und mehr abgekühlt. Ihre Liebe war auf der Treppe zwischen dem Keller und der Etage der Frauen verloren gegangen.
Philipp half Isa beim Packen. Ihre Sachen stellten sie vorübergehend bei den Männern unter und Philipp versprach, sie am Wochenende in ihr neues Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg zu bringen. Dann begleitete er Isa zum Bahnhof Friedrichstraße.
Sie standen auf dem Bahnsteig, um Abschied zu nehmen.
»Wirst du nun allein in Friedrichshain wohnen?«, fragte sie.
»Ich weiß noch nicht.«
Sie stand vor ihm und schaute ihn ängstlich und mit großen Augen an. Philipp fühlte sich elend.
»Schreibst du mir?«, fragte sie.
»Sicher schreib ich dir.«
Plötzlich fühlte er ein seltsames Brennen in der Brust.
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Ich liebe dich auch«, antwortete Isa und kramte nach ihrer Fahrkarte.
»Nein, nein, ich liebe dich wirklich. Was immer sein wird, ich liebe dich. Das habe ich noch zu keiner gesagt.«
Er nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich.
»Puh! Ich kriege ja keine Luft mehr!«, stöhnte Isa und lachte glücklich. »Vielleicht bekommst du ja doch noch einen Pass, und das Ganze war nur ein Missverständnis. Dann kommst du nach, versprochen?«
»Versprochen!«
Der Zug kam, Isa stieg ein, Philipp drehte sich um und ging, ohne noch einmal zurückzuschauen. Als Christian am folgenden Tag zum Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen ging, um seinen Aufenthalt in der Sowjetunion zu regeln, ging Philipp mit; er wollte sich bewerben, ebenfalls in Moskau studieren zu dürfen. Aber der Genosse Abteilungsleiter machte ihm keine Hoffnung.
»Du hast Verwandte in Westdeutschland, Genosse Siebert, damit hast du keine Chance. Übrigens: Da gehört das Parteiabzeichen hin!«
Er stieß mit dem Zeigefinger energisch gegen das Revers an Philipps Jackett. Philipp trug noch immer den amerikanischen Sakko, den seine Mutter ihm lange vor der Währungsreform auf dem Schwarzmarkt gegen ein Stück Schweinespeck besorgt hatte − aber eben ohne Parteiabzeichen der SED.
Am Montag zog Philipp in Weißensee ein. Am Revers trug er das Abzeichen mit den verschlungenen Händen. Er wollte studieren und weiterkommen im Leben.