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ОглавлениеAm späten Abend erreichte Philipp Hötensleben. Genosse Wendt schlief schon; er war ungehalten über die späte Störung und schimpfte: »Was denken die sich denn eigentlich in Berlin! Ich möchte auch mal meine Ruhe haben.«
Philipp erzählte ihm, dass er besonders wichtige Akten überbringen müsse und dass er erst heute früh vom Parteivorstand ausgewählt worden sei. Dabei klemmte er seine Schultasche fest unter den Arm, als wollte er die drei trockenen Schrippen, das zweite Paar Socken sowie das frische Unterhemd darin gegen alle Parteifeinde verteidigen.
»Du bist noch sehr jung, Genosse, bist du zum ersten Mal unterwegs?«
»Ja, aber der Genosse Ulbricht hat mich persönlich ausgewählt.«
Das muss wohl reichen, dachte Philipp. Und er behielt Recht; der Genosse Wendt stellte keine weiteren Fragen, sondern weckte seine Frau. Gemeinsam bereiteten sie ein üppiges Abendbrot für den Gast: Brot, Käse, Wurst, Butter, Kaffee mit Milch und anschließend Obst. Philipp langte tüchtig zu und bedankte sich anschließend artig.
»Was soll das, machst du dich lustig über uns?«, fragte der Genosse Wendt. »Die Sachen sind doch von der Partei geliefert worden. Wenn du mit dem Parteivorstand zu tun hast, dann kennst du das ja. Die sollten sich allerdings auch mal was anderes einfallen lassen als immer nur die gleiche Dauerwurst. Meine Frau macht dir noch das Paket fertig für die Weiterreise.«
Philipp bekam eine ganze Dauerwurst, dazu Brot und Butter.
»Wenn du die Sachen in die Tasche steckst, Genosse, pass auf, dass die Akten nicht fettig werden«, ermahnte ihn die Frau.
»Ja, Genossin.«
Um vier Uhr am nächsten Morgen wurde Philipp geweckt. Wieder gab es einen reichhaltig gedeckten Tisch zum Frühstück, und wieder mit richtigem Kaffee. Danach brachte ihn der Genosse Wendt zur Grenze. Es war kühl und feucht, und es ging ein leichter Wind. Ab und zu kam das Mondlicht durch die Wolken.
»Wenn du zurückkommst, Genosse, nicht vor zehn Uhr abends, nur der Nachtposten ist eingeweiht, mach dich bei dem Posten bemerkbar, er bringt dich zu mir.«
»Gibt es auf der Westseite keine Kontrollposten?«
»Ach was! Denen ist das doch egal.«
Philipp fröstelte; er hörte vor sich schon das Rauschen des Wassers. Eine Taschenlampe leuchtete auf, der Lichtstrahl tastete sie ab und verweilte einen Moment auf Philipps Gesicht. Aus der Dunkelheit kam eine Stimme.
»Charascho!«
»Dobroje utro!«, sagte der Genosse Wendt.
»Utro!«, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit.
Auf einmal sah Philipp im Mondlicht einen schmalen Holzsteg und darunter das Wasser fließen.
»Wenn du drüben bist, gehst du durch die Felder einfach geradeaus bis zur Asphaltstraße, dann rechts weiter bis Schöningen. Von dort fährt wochentags um kurz vor sechs ein Bus nach Helmstedt. Wie du allerdings heute weiterkommst, das musst du sehen. Gute Reise, Genosse!«
»Danke Genosse!«
Philipp überquerte den Bach und war im Westen.
An der Haustür hing ein mit einer Heftzwecke befestigter schwarzer Flor. Die Leiche ist also im Hause, dachte Philipp. Er klopfte, die Mutter öffnete und begann leise zu weinen. Philipp umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Er war selber erstaunt über seine Regung.
»Wo liegt Papa?«, fragte er.
»Im Schlafzimmer«, antwortete die Mutter und nahm ihm die Tasche und seine Jacke ab. »Wir haben wieder die Betten abgebaut.«
Wieder, dachte Philipp, das heißt, wie bei Onkel Simon und bei der kleinen Guste. Er öffnete die Tür und sah den Vater. Der offene Sarg stand leicht nach vorn geneigt auf einem mit schwarzem Tuch behängten Gestell. Rechts und links vom Sarg standen je zwei Kandelaber mit brennenden Kerzen, dahinter Lebensbäume, deren süßlicher Duft den Leichengeruch überlagern sollte. Das Fenster war mit einem Tuch verhängt, so dass die Nachmittagssonne nicht eindringen konnte.
Der Vater sah gut aus, unnatürlich gut, mit vollen roten Wangen und vollem Haar. Die verschränkten Hände schauten aus, als hätten sie nie schwere Arbeit verrichten müssen. Sicher haben sie ihm mit Watte die eingefallenen Wangen aufgepolstert, dachte Philipp.
»Er sieht so gut aus«, jammerte die Mutter.
»Ja, er sieht sehr gut aus«, heuchelte Philipp.
Er wusste, dass der Heinkes immer übertreiben musste. Ein Frisör verdiente sich bei ihm nach Feierabend etwas dazu und richtete die Leichen her. Von Heinkes ständig bedrängt, musste der Haar- und Kosmetikkünstler mit seinem großen Kosmetikkoffer aus Leichen alter oder durch Unfälle entstellter Menschen jung aussehende, heile, hübsche Puppen machen. So also sieht das Ende eines Menschenlebens aus − ein Witz, dachte Philipp. Er erinnerte sich an eine Auseinandersetzung mit dem Vater kurz vor seinem Weggang nach Berlin: Die Mutter hatte vergessen, die wöchentliche Tabakration zu besorgen. Der Vater, über den Umweg Kneipe von der Arbeit kommend, tobte, weil er nichts zu rauchen vorfand. »Ein Päckchen Tabak in der Woche, mehr verlange ich ja nicht; aber nein, auch das ist schon zu viel! Soll ich denn nur noch malochen gehen und sonst nichts mehr vom Leben haben? Da kann ich ja gleich verrecken!«
Die Mutter schwieg und stellte ihm das Essen auf den Tisch. Der Vater nahm den mit Suppe gefüllten Teller und warf ihn auf den Boden. Der Teller zersprang, die Suppe verteilte sich in der Wohnküche. Der Vater sprang herum, stampfte mit den Füßen auf das Durcheinander von Suppe und Scherben, schimpfte weiter und bedrohte die Mutter. Da stand Philipp auf, umklammerte seinen Vater mit beiden Armen, hob ihn hoch, trug ihn zum Stuhl, setzte ihn heftig ab, nahm einen neuen Teller aus dem Schrank, füllte ihn mit Suppe, setzte den vollen Teller vor den Vater auf den Tisch und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ: »Jetzt isst du und rührst dich nicht eher vom Fleck, bis du aufgegessen hast!«
Wie leicht er doch ist, dachte Philipp und merkte sofort, dass er als Kind manchmal vom Vater mit genau den gleichen Worten zum Essen gezwungen worden war. Der Vater saß einen Moment wie versteinert, nahm dann aber den Löffel und aß.
Die Mutter weinte, beseitigte die Scherben und die Essensreste vom Boden, wischte sich mit den Händen die Tränen ab und dabei Suppe ins Gesicht.
Philipp schaute den beiden zu, und ein seltsames Gefühl nahm von ihm Besitz. Er konnte es nicht deuten, wusste aber, dass es weder Triumph noch Wut war.
Die Wohnküche war voll mit Menschen, es waren die Tanten und Frauen aus der Nachbarschaft. Sie tranken Kaffee und aßen Streuselkuchen. Onkel Hännes war der einzige Mann im Raum. Vor ihm stand eine Schnapsflasche und ein leeres Glas.
»Da kommt ja unser Studierter«, begrüßte er Philipp. »Komm her, iss Kuchen! Bei den Russen kriegst du ja doch nicht genug zu essen.«
Philipp begrüßte alle und setzte sich zur Großmutter. Die Mutter schenkte ihm Kaffee ein und stellte den Kuchenteller näher zu ihm hin.
»Wo ist Opa?«, fragte Philipp.
»In der Schusterkammer, der kriegt hier keine Luft«, antwortete die Großmutter.
Eine Nachbarin wollte wissen, ob Philipp denn keine Angst habe vor den Russen, man wisse doch, und so stände es ja auch in den Zeitungen, wie schrecklich diese Menschen seien. Sie würden Uhren stehlen und die Frauen vergewaltigen. Philipp wurde ärgerlich.
»Ich habe mehr Angst vor den Deutschen, sie vertreiben oder vergasen die Menschen.«
Hännes sprang auf.
»Ein Russe! Ein Russe! Du redest schon genau wie die Polit-Kommissare. Alles müsst ihr verdrehen. Seht ihn euch an! Halb verhungert ist er schon. Sie haben nichts zu essen, aber dafür haben sie ihren Stalin und ihre Dialektik, so nennen sie das, wenn sie einem einreden wollen, dass Hungern und Gefängnisse gut sind für den Sieg des Kommunismus.«
»Kinder, seid ruhig, vertragt euch, nebenan liegt Paul«, versuchte Oma Josepha zu schlichten und zog Hännes wieder auf seinen Platz zurück.
Philipp fiel ein, dass er in der Schultasche noch gut die Hälfte der Dauerwurst hatte. Er holte die Wurst, schnitt dicke Scheiben davon ab und verteilte diese.
»Probiert mal! Wurst aus Ostdeutschland. Ich habe sie auf der Reise nicht ganz geschafft.«
Die Frauen kosteten schmatzend die Wurst und lobten ihre gute Qualität, Onkel Hännes weigerte sich zu probieren.
»Aber in der Zeitung stand, bei euch gibt es immer noch Lebensmittelkarten«, bemerkte eine Nachbarin.
»Das stimmt«, erwiderte Philipp, »aber es gibt schon viel ohne Marken zu kaufen. Wir haben Läden, dort kann man von der Schokolade bis zum Kaviar alles bekommen, natürlich ein bisschen teurer.«
»Das finde ich richtig«, sagte eine andere Nachbarin und langte nach einem neuen Stück Streuselkuchen. »Wer Kaviar essen will, der soll auch dafür bezahlen. Ich selber mag gar keinen Kaviar.«
»Hast du schon mal welchen probiert?«, fragte Hännes und schüttete sich den nächsten Schnaps ein.
»Nee, woher denn«, gab die Nachbarin kauend zu.
»Dann red auch nicht so daher«, sagte Hännes und trank das Glas in einem Zug leer.
Philipp übernachtete auf dem Sofa in der Wohnküche und schlief lange nicht ein. Er musste an den Vater denken, der nebenan im Sarg lag.
Am nächsten Morgen war es trübe und regnerisch. Zuerst kamen Heinkes und sein ältester Sohn ins Haus, um mit Lisa noch einmal alles zu besprechen. Heinkes trug einen Zylinder auf dem Kopf. Als er Philipp sah, unterbrach er die Besprechung, setzte kurz sein Trauergesicht auf und drückte ihm stumm die Hand. Dann wurde er wieder geschäftig.
»Na, Junge, haben wir den Vater nicht gut hingekriegt? Das war gar nicht so einfach; der Stein muss ein Riesenbrocken gewesen sein. Der Vater war ganz eingedrückt. Aber der Heinkes macht das schon.«
Nach und nach traf die Verwandtschaft ein und füllte das Haus. Alle traten noch einmal an den offenen Sarg und nahmen Abschied von Paul. Dann kam die Kutsche.
»Für die Fußkranken«, sagte Heinkes. »Bis zum evangelischen Friedhof ist es doch ein ganz schönes Stück Weg.«
Josepha war mit ihrem Versuch, für Paul eine katholische Totenmesse und eine Beerdigung auf dem katholischen Friedhof zu bekommen, an der Weigerung des Pfarrers gescheitert.
Ferdinand saß schon in der Kutsche. Als Josepha ihn bat auszusteigen und noch einen Moment ins Haus zu kommen, weigerte er sich. Auf der Straße vor dem Haus sammelten sich die Nachbarn. Die Männer trugen Zylinder, viele Frauen hatten schwarze Hüte mit Gesichtsschleiern aufgesetzt.
Die Musiker vom Knappenverein in ihren schwarzen Uniformen mit den großen Messingknöpfen versammelten sich auf dem Hof und stellten ihre Blasinstrumente neben sich auf den Boden.
Zuletzt kam der Leichenwagen, gezogen von zwei mit schwarzen Tüchern bedeckten Pferden. Die Pferde trugen schwarze Masken und zwischen den Ohren schwarze Federbüsche. Durch die Glasscheiben des Leichenwagens sah man im Innern auf allen Seiten blütenweiße Spitzengardinen.
Sechs Knappen mit schwarzen Federbüschen an den Hüten und weißen Handschuhen kamen ins Haus. Josepha bat sie noch einen Moment zu warten, holte eine mit Weihwasser gefüllte Weinflasche und besprenkelte die Leiche und den Sarg. Die Knappen schlossen den Sarg, trugen ihn auf die Straße und schoben ihn in den Leichenwagen. Dann holten sie die Kränze, von denen sie einige außen an die Seitenlaternen des Wagens hängten, andere in den Wagen neben den Sarg legten. Zuletzt stellten sie einen großen Kranz mit langen weißen Schleifen hinter den Sarg und schlossen den Leichenwagen. Der große Kranz war durch die Scheiben für alle sichtbar. Die Schleifen waren so geordnet, dass man die Beschriftung gut lesen konnte: Ein letzter Gruß von Deiner Dich liebenden Frau und von Deinem Sohn.
Philipp führte Jacob zu der Kutsche, in der gegenüber Ferdinand schon zwei dicke Frauen aus der Nachbarschaft Platz genommen hatten. Die Knappenkapelle formierte sich, setzte sich auf ein Zeichen von Heinkes’ Sohn in Bewegung und spielte einen Trauermarsch. Ihr folgte der Leichenwagen, begleitet von drei Trägern auf jeder Seite. Dahinter Lisa, Josepha und Philipp, der in der Mitte ging und den beiden Frauen den Arm reichte. Ihnen folgte die Familie, dann kamen die Nachbarn und die Kumpel. Den Abschluss bildete die Kutsche. Als der Zug in die Hauptstraße nach Hamborn einbog, trat ein Polizist an die Spitze und schritt im Takt der getragenen Musik vor der Musikkapelle her. Passanten blieben am Straßenrand stehen und lauschten der Musik, Männer lüfteten ihre Hüte, Autos hielten an, Radfahrer stiegen ab, Kinder liefen nebenher, aus den Häusern am Wege traten Frauen vor die Tür, banden ihre Schürzen ab und bekreuzigten sich.
Vor der evangelischen Kirche hielt der Zug kurz an. Ein junger Pastor kam, trat an den Leichenwagen, sprach ein Gebet, begab sich hinter den Wagen, und der Zug ging weiter. Nach einer halben Stunde Weg erreichte der Zug den Friedhof und hielt. Die Träger öffneten den Wagen, legten die Kränze zur Seite und übernahmen den Sarg. Der Zug folgte ihnen auf den Friedhof. Ferdinand, Jacob und die beiden dicken Nachbarinnen stiegen aus der Kutsche und gingen hinter den anderen her. Der Leichenwagen fuhr heim.
Quer über dem offenen Grab lagen zwei Holzbohlen, auf jeder Bohle lag ein Seil. Die Träger stellten den Sarg auf die Bohlen und verharrten, bis die Trauernden sich zu einem Kreis um das Grab versammelt hatten. Die Männer nahmen ihre Zylinder ab. Vier der Träger zogen an den Seilen und hoben den Sarg an, die beiden anderen nahmen die Bohlen weg und legten sie hinter sich, die vier ließen langsam die Seile durch ihre Hände gleiten, der Sarg senkte sich ins Grab. Zwei Träger zogen die Seile herauf und legten sie an die Seite. Dann stellten alle Träger sich auf, zogen ihre weißen Handschuhe aus, warfen sie auf das Kopfnicken eines Trägers hin gleichzeitig in das Grab und traten zurück.
Die Musiker spielten »Ich hatt’ einen Kameraden«, der Pastor trat ans Grab, schlug seine Bibel auf − und es begann heftig zu regnen. Unter den Trauernden kam Unruhe auf, überall wurden die Schirme geöffnet, man hörte Gemurmel. Lisa stellte sich bei Josepha unter und gab ihren Schirm an Philipp weiter. Der öffnete ihn und ging damit zum Pastor. Der Schirm war so klein, dass Philipp und der Pastor sich eng aneinander schmiegen mussten.
Der Pastor versuchte gegen das Geräusch des fallenden Regens anzureden und begann mit seiner Predigt. Er sprach von dem »lieben«, stockte, suchte einen Zettel in der Bibel, fand ihn nicht und sprach weiter »Verstorbenen«, der nun die ewige Seligkeit erlangt habe. Vom Schoße Gottes sprach er und davon, dass Jesus die Mühseligen zu sich nehme. Der Regen prasselte so stark, dass schon die Nächststehenden die Worte nicht mehr verstehen konnten. Der Pastor nahm die in dem aufgeworfenen Boden steckende kleine Schaufel und warf etwas von dem lehmigen Boden in das Grab. Philipp hörte ihn »Erde zu Erde« murmeln und sah, dass der Sarg schon im Wasser stand. Wenn das Wasser steigt und in den Sarg eindringt, dachte er, dann verläuft die Schminke auf Papas Gesicht.
Zusammen mit dem Pastor trat Philipp zurück, schaute sich um und sah, dass die Trauergemeinde sich auflöste und die Menschen dem Ausgang zustrebten. Draußen lagen die nassgeregneten Kränze. Die Kutsche wartete noch. Der Kutscher hatte das Verdeck hochgezogen, Ferdinand und die dicken Nachbarinnen saßen schon im Innenraum. Lisa half Jacob hinein. Philipp bat die beiden Alten zusammenzurücken, damit der Pastor bis zur Kirche mitfahren könne.
»Kommen Se mal, Pastorken«, sagte die dickere der Nachbarinnen, »wir nehme Se in de Mitt.« Damit griff sie energisch zu, und der Pastor landete auf ihrem Schoß. So fuhren sie davon. Die anderen gingen zur Straßenbahnstation. Als die Straßenbahn kam, hörte es so plötzlich auf zu regnen, wie es angefangen hatte.
Das Lokal »Zur Sonne« wurde weiterhin mit dem Namen Hermann in Verbindung gebracht. Hermann war lange tot, seine Witwe aber lebte noch und glich immer mehr einer alten Indianerin mit spitzer Nase und einer gelben Lederhaut. Das Lokal war von einem jungen Ehepaar gemietet worden.
Als Lisa mit der Familie, den Verwandten und den Nachbarn das Lokal betrat, saßen Ferdinand, die beiden dicken Nachbarinnen und Hermanns Witwe schon am Tisch und aßen Streuselkuchen. Das Lokal füllte sich. Frauen in schwarzen Kleidern und mit weißen Schürzen schenkten Kaffee aus. Nach dem Streuselkuchen und dem Kaffee gab es Bier, Schnaps und Eierlikör. Philipp fragte die Mutter, wie sie das alles bezahlen wolle.
»Hab gutes Sterbegeld gekriegt, und den Rest kann ich beim Heinkes über zwei Jahre in Raten abstottern«, sagte sie.
Man redete über das schlechte Wetter, über die Sorgen mit den Kindern, über gemeinsame Bekannte und über die Politik. Hugo erzählte aus seinem Buckel-Vorrat eine lustige Geschichte, Johanna schüttelte den Kopf und schimpfte mit ihm. Der Heinkes gab einen unanständigen Witz zum Besten, man lachte, prostete sich zu und war bald recht fröhlich. Einer fragte, wo denn Jacob abgeblieben sei. Der Kutscher berichtete, dass er ihn auf dem Wege zum Hermann in der Neuen Kolonie abgesetzt habe.
»Schau doch mal, wo Opa geblieben ist!«, bat Oma Josepha Philipp.
Philipp ging nach Hause und fand den Großvater in der Schusterkammer. Er saß am offenen Dachfenster und atmete schwer. Philipp setzte sich zu ihm.
»Willst du nicht rüberkommen, Opa?«
»Lass mich mal hier, Junge.«
Gemeinsam schauten sie den Tauben am Schlag auf dem Dach des Nachbarhauses zu und schwiegen eine Weile. Wasserdampf stieg von dem noch warmen, aber regennassen Dach auf. Immer mehr Tauben kamen aus dem Schlag.
»Weißt du noch, Opa«, sagte Philipp auf einmal, »wenn du früher mit mir durch die Felder gegangen bist, und die Lerchen stiegen hoch in den Himmel und sangen?«
»Ja, früher − die Lerchen«, sagte Jacob.
Auf der Rückreise nach Berlin kam Philipp zu dem Entschluss, auch in die Partei einzutreten, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands genannt wurde, abgekürzt SED.