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ОглавлениеWieder näherte sich das Jahr dem Ende und eine Stalinfeier stand ins Haus. In diesem Jahr, am 21. Dezember 1949, dem 70. Geburtstag Stalins, plante die ABF eine besondere Feier mit Rezitationen und Stalinhymnen. Einige in der Klasse wollten auch, wie schon im letzten Jahr, eine Weihnachtsfeier veranstalten, aber Werner, der neue Klassensprecher, protestierte und setzte sich nach einer längeren Diskussion durch.
Philipp bekam eine Einladung von Isa, mit ihr in den Wintersport nach Thüringen zu fahren. Weil sie beide nicht auf einen Interzonenpass hoffen konnten, hatte Isa sich an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund FDGB gewandt mit der Bitte um Ferienplätze über Weihnachten. Als Christian davon hörte, wollte er mitfahren. Isa war dagegen, bis es Christian gelang, Lena zu überreden auch mitzufahren.
Das FDGB-Angebot galt ab dem 21. Dezember, dem ersten Tag der Weihnachtsferien. Christian und Philipp äußerten Bedenken wegen der Stalinfeier, aber dann meinte Christian, vielleicht fiele es gar nicht auf, wenn sie fehlten. Als der Zug durch die verschneiten Wälder Thüringens fuhr, vergaßen sie die ABF, die Stalinfeier, die Musikhochschule, die Trümmer Berlins und freuten sich auf die Zeit miteinander in der weißen Landschaft am Rennsteig.
Das Ferienheim war außen ganz mit Schieferplatten verkleidet und hatte nur wenige Gäste. Der Wirt gab ihnen ein Doppelzimmer für die Männer und eines für die Frauen.
»Wenn die beiden Damen sich aber nicht vertragen, können wir die Zimmerverteilung ja auch anders regeln«, sagte er und zwinkerte ihnen plumpvertraut zu, so dass Isa und Lena beinahe wirklich zusammengezogen wären.
»Und noch eins«, sagte der Wirt, »wenn Sie mal wiederkommen möchten, machen Sie das nicht über den Feriendienst der Gewerkschaft, kommen Sie privat, das ist preiswerter für Sie.«
Im Dorf gab es eine Sägerei mit einer Schreinerwerkstatt; dort konnten sie für wenig Geld Skibretter ausleihen. Christian, der als Kind in den Karpaten schon auf Skibrettern gestanden und dort auch einen Kurs absolviert hatte, gab den anderen den ersten Unterricht.
Als alle die Grundregeln für einen Langlauf kannten, zogen sie los, genossen die Wintersonne, die Stille in den Wäldern und die klare Luft. Weit und breit gab es nur diese vier jungen Menschen und ihr Lachen. Wenn es ihnen gar zu still vorkam, dann trillerten die Frauen einige Koloraturen, wofür sie von den Männern mit einem Schneeballregen belohnt wurden. Trieben diese es mit der Belohnung gar zu toll, mussten sie anschließend ihre Partnerin in die Arme nehmen, um Entschuldigung bitten und sie viele Male küssen.
Als es ihnen mit der Zeit aber doch zu kalt wurde, gingen sie in das einzige Lokal im Dorf, tranken heißen Tee und unterhielten sich mit den anderen Gästen. Es waren meist Holzfäller; sie hatten rote Gesichter von der Kälte und grobe, schwielige Hände. Ein alter Holzfäller mit einem Bart wie der Weihnachtsmann setzte sich zu ihnen an den Tisch und erzählte von seiner Arbeit.
»Die Winter sind schlimm, da gibt’s leicht Rheuma. Das Sägen geht noch, immer zwei Mann müssen im Takt die Säge hin und her ziehen. Man arbeitet aber den ganzen Tag gebückt, das geht ins Kreuz. Wenn du dann den Keil setzt, musst du genau arbeiten und aufpassen, damit der Baum richtig fallen kann und nicht die anderen Bäume kaputt macht. Und wenn er fällt, musst du weglaufen wie ein aufgescheuchter Hase, denn du weißt nie genau, ob er sich nicht beim Fallen dreht und dich erwischt. So ein Baum, der will sich rächen und schlägt zurück.«
»Was verdient man als Holzfäller?«, wollte Christian wissen.
»Wenn du gut arbeitest, dann hast du deine hundertfünfzig im Monat.«
Die vier schauten sich an; ihre Stipendien waren höher.
»Haben Sie Familie?«, fragte Philipp.
»Na sicher, ich hatte neun Kinder, eins ist gestorben. Mein rechter Nachbar hat acht, mein linker hat auch acht, da wollte ich sie überholen. Jetzt haben wir alle drei acht.«
»Ihre sind aber nicht mehr alle im Haus?«, fragte Philipp weiter.
»Nein, einer, der Älteste, hat geheiratet und wohnt bei seinen Schwiegereltern. Aber sieben sind noch bei mir; die älteste Tochter arbeitet im Sägewerk.«
»Wie alt sind Sie denn?«, fragte Lena.
»Fünfundvierzig.«
»Da sind Sie ja noch gar nicht alt!« So alt wie mein Vater, als er verunglückte, dachte Philipp. »Und Ihre Frau?«, wollte Lena weiter wissen.
»Die ist auch fünfundvierzig; wir sind zusammen in eine Klasse gegangen.«
»Ich meine, wie wird sie mit all der Arbeit fertig?«
»Wie? Gut, sie hat doch Hilfe durch die Kinder. Und dann ist sie immer im Haus, im Trockenen, und sie hat es warm.«
»Na, ich weiß nicht!«
»Sicher doch«, beteuerte der Holzfäller. »Kinder sind ein Segen, besonders für die Frauen. Ich gebe euch mal einen Rat: Heiratet und macht euch viele Kinder, das bringt Spaß, äh, ich meine, dann ist immer Leben im Haus, und wenn ihr mal alt seid, kommen die Kinder und kümmern sich um euch.«
»Möchtest du auch mal viele Kinder haben?«, fragte Isa abends im Bett.
»Weiß ich nicht«, antwortete Philipp.
»Ich möchte viele Kinder, vielleicht keine acht, aber drei oder vier dürfen es schon sein. Wenn wir heiraten sollten, dann müssen wir uns aber vorher einigen.« Philipp blieb still. »Ich habe Gerd geschrieben«, sprach Isa weiter, »dass ich jetzt einen anderen Freund habe; er soll nicht länger auf mich warten. Meinen Eltern habe ich auch von uns erzählt. In den Sommerferien, wenn wir wieder einen Interzonenpass bekommen, dann möchten sie dich kennen lernen.«
Am Weihnachtsmorgen stellte der Wirt eine Fichte in den Aufenthaltsraum des Ferienheims und schmückte sie mit Glaswolle als Engelhaar und mit Stanniolstreifen. Für den Abend lud er seine Hausgäste zu einem Festessen ein. Es gab Kartoffelsalat, selbst gebackenen Kuchen, Bier und für die Frauen eine Waldmeisterbowle. Gemeinsam sang man Weihnachtslieder; Isa und Lena sangen Lieder aus Operetten und Opern. Christian und Philipp begleiteten sie dabei abwechselnd auf einem mit Pergamentpapier umwickelten Kamm.
Eine Frau begann auf einmal laut zu weinen. Sie war alleine angereist und hatte sich bisher wenig am Gemeinschaftsleben beteiligt. Isa und Lena versuchten sie zu trösten und durften sich dafür ihre Geschichte anhören.
Die Frau schimpfte auf ihren Mann und nannte ihn einen Schuft und Hurenbock. Sie habe ihn im Krieg kennen gelernt, einen Feldwebel mit einer schmucken Uniform. Sie schrieben sich heiße Feldpostbriefe, und bei seinem nächsten Fronturlaub haben sie geheiratet. Die ganze weitere Kriegszeit und die Zeit seiner Gefangenschaft habe sie treu und brav auf ihn gewartet. Und nun, kaum zurückgekehrt aus Russland, sei er zu einer Jüngeren gezogen.
Ein älteres Ehepaar berichtete von seinem einzigen Sohn, der Schwiegertochter und dem geliebten Enkel. Die Alten hätten die junge Familie in ihr Haus genommen, und nun verbiete ihnen die Schwiegertochter den Umgang mit dem Enkel, weil sie ihn angeblich verziehen würden. Da wollten sie auch nicht mit den jungen Leuten Weihnachten feiern.
Einem älteren Mann war gerade die Frau gestorben, und er wollte Weihnachten nicht bei den Kindern sein und sich bemitleiden lassen. Plötzlich stand Christian auf.
»Schluss! Ich muss mir das nicht alles anhören. Komm, Lena!«
Isa und Philipp folgten ihnen bald und gingen auch in ihr Zimmer. Kaum aber lagen sie zusammen in Philipps Bett, klopfte es, Christian und Lena standen in der Tür.
»Dürfen wir zu euch kommen?«
Isa erlaubte, dass die zwei in ihr freistehendes Bett gingen. Man sprach noch eine Weile über das kommende Jahr, über das Leben im Heim, über die Dozenten und über die eigenen Familien. Christian berichtete, dass seine Großmutter gestorben sei und am Tage der Reise nach Thüringen begraben werden sollte. Er wollte die Reise nicht absagen und habe daher geschwiegen. Von seinem Großvater erzählte er, dass der 1945 nach der Kapitulation sich geweigert habe zu essen und bald auch an Entkräftung gestorben sei.
Lena erzählte von ihrem Elternhaus und dass sie schon seit Jahren Weihnachten nicht mehr zu Hause, sondern bei ihrer älteren Schwester verbringe und, seit sie in Berlin wohnte, auch in den Ferien dorthin ginge. Ihr Vater, in der Nazizeit und auch jetzt wieder ein Polizeioffizier, habe erst ihre Schwester und nach deren Auszug sie missbraucht. Die Mutter wisse davon und habe zu alledem geschwiegen.
»Macht endlich das Licht aus!«, sagte Christian.
Gleich am Morgen des ersten Schultages im neuen Jahr kam Sophie auf Philipp zu.
»Wo warst du denn? Ich habe dich gesucht, war sogar im Studentenheim, aber niemand wusste, wo du geblieben warst. Man sagte mir nur, du seist mit Christian weggefahren. Mutti hatte uns zu Weihnachten eingeladen; sie wollte mit uns auch den Einzug in ihre neue Wohnung feiern. Bei der Stalin-Feier hast du ebenfalls gefehlt; als ich Mutti davon erzählte, konnte sie das nicht verstehen und war ärgerlich.«
Am nächsten Tag erhielten Christian und Philipp Post mit gleichlautendem Inhalt: Aufgrund der Tatsache, dass Sie am 21. 12. 1949 der Stalin-Feier ferngeblieben sind, erteilen wir Ihnen wegen Ihres gemeinschaftswidrigen Verhaltens eine Verwarnung. Diese Verwarnung wird in die Beurteilung der gesellschaftlichen Arbeit beim Abitur einbezogen, wenn Sie nicht bis dahin durch besonderen Gemeinschaftseinsatz einen Ausgleich geschaffen haben.
Der Studiendirektor | Der Direktor |
Reitmann | Hauke |
Christian nahm die Anzeige vom Tode seiner Großmutter mit dem 21. 12. als Bestattungstag und ging zu Reitmann. Seine Verwarnung wurde zurückgezogen.
Der Winter verging, das Frühjahr kam und damit die Vorbereitung auf die Abiturprüfungen. Wenn auch das Lernen mehr Zeit erforderte als bisher, so blieb doch weiterhin Zeit für die abendlichen Gesprächskreise und Treffen im Heim. Es gab laufend Neuigkeiten, die in den abendlichen Runden diskutiert werden wollten.
Die Provisorische Volkskammer hatte das Ministerium für Staatssicherheit gebildet und das »Gesetz der Arbeit« verabschiedet, nach dem die Erhöhung der Arbeitsproduktivität angestrebt und gleichzeitig Lohnabzüge von den Arbeitern bei Ausschussproduktion beschlossen wurde.
Im Gesprächskreis der Heimstudenten war man sich schnell einig, dass der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden wachsam sein musste und dass die Arbeiter nur ein Recht auf guten Lohn hatten, wenn sie qualitätsvolle Arbeit leisteten. Philipp dachte an die Geschichte mit dem »Wagen-Nullen« im Bergbau, von der sein Großvater ihm erzählt hatte, und er dachte an die Holzfäller am Rennsteig – sein erster Kontakt mit Arbeitern in Ostdeutschland.
Auch die Kultur kam nicht zu kurz. Die Musikstudentinnen brachten verbilligte bis kostenlose Theaterkarten mit, und so gab es zwar »saure Wochen«, aber eben auch weiterhin »frohe Feste«.
Nach dem Besuch einer Aufführung von Brechts Mutter Courage im Deutschen Theater und dem Gespräch am Abend darüber kam jemand mit der Idee, den Dramatiker ins Studentenheim einzuladen. Brecht kam, brachte seine Frau Helene Weigel mit und einige Schauspieler. Der Saal im Heim war gefüllt mit Menschen. Christian war nicht erschienen.
Der »die Stange« genannte Student war auserwählt, einige Begrüßungsworte an die Gäste zu richten. Er hielt eine lange Rede. Vom Aufbau des Sozialismus in einem Teil Deutschlands sprach er und davon, dass die Menschen das seltene Glück hätten, in einer so außergewöhnlichen Zeit und in diesem fortschrittlichen Land zu leben. Der größte Dramatiker dieser Zeit aber brächte Themen aus längst vergangenen Tagen auf die Bühne, statt sich dem Heute zuzuwenden und freudig die neue Zeit zu begrüßen.
Brecht, der bis dahin nur zugehört hatte, sagte ruhig, dass es notwendig sei, Abstand zu der Zeit zu haben, wolle man ihre Eigenarten und Gesetzlichkeiten erkennen und mit den Mitteln der Kunst über sie urteilen. Werner Peitz bemerkte, dass mit dem Marxismus eine wissenschaftliche Methode zur Verfügung stände, mit der man eben auch die Gegenwart erfassen und über sie urteilen könne.
Brecht stand auf und sagte mit leiser Stimme, er empfehle den jungen Leuten, das Leben kennen zu lernen und so lange nicht über Dinge zu reden, von denen sie nichts verständen. Jetzt aber seien sie dumme Jungen und noch nicht trocken hinter den Ohren. Danach verließ er den Raum, seine Frau, die Schauspieler und einen Saal mit einem Teil empörter, einem geringeren Teil verwirrter und mit wenigen beschämten Studenten zurücklassend.
Das folgende Schweigen war nur von kurzer Dauer, dann redeten alle wild durcheinander, standen auf, gestikulierten und liefen umher. In der Saalmitte stand Helene Weigel, und um sie herum bildete sich ein Kreis junger Leute.
»Er hatte sich so auf diesen Abend gefreut«, sagte sie. »Sonst geht er ja nirgendwohin, außer zum Theater. Er nimmt keine Einladungen an, aber zu den Arbeiterstudenten, da wollte er gerne gehen. Und jetzt das!«
»Wenn er mit Arbeiterstudenten reden wollte«, sagte Philipp, »dann hätte er das sagen sollen. Das wäre sicher ein ganz kleiner Kreis geworden, denn die Arbeiterkinder kann man hier an einer Hand abzählen.«
Am nächsten Abend war durch die nach Westen gehenden Fenster des Heimes eine ungewöhnliche Erscheinung zu beobachten. Leuchtschrift huschte über die Trümmerlandschaft der Reichskanzlei und verbreitete die neuesten Nachrichten in Schlagzeilen.
Auf dem Westteil des Potsdamer Platzes, gleich hinter dem Schild mit der Aufschrift »Sektor der Freiheit« war eine am Tage unscheinbar wirkende Metallkonstruktion aufgestellt worden, bestehend aus zwei Ständern und einer diese Ständer verbindende Brücke. Diese Brücke war seitlich mit unzähligen Glühbirnen bestückt, welche am Abend nacheinander und Buchstabenmuster bildend kurz aufleuchteten, wieder erloschen, in anderer Anordnung erneut aufleuchteten und so den Eindruck fortlaufender und zu ganzen Sätzen gefügter Wörter ergaben. Die staunenden Studenten erhielten ihre erste Lektion in kapitalistischer Information, nachdem sie am Tage im Studium, im Neuen Deutschland oder im DDR-Radio die sozialistische Sicht des Weltgeschehens erfahren hatten.
Gleich am folgenden Tage wurde eine Parteiversammlung der Genossen Heimbewohner einberufen, welche die Panne mit der Brecht-Einladung diskutieren und im zweiten Teil Schritte gegen die westliche Provokation und Vergiftung unschuldiger junger Menschen beschließen sollte.
Zum Verhalten des Herrn Brecht war man sich bald einig. Die Studenten traf keine Schuld, aber dem Dramatiker fehlte es ganz eindeutig an sozialistischer Bildung. Zu der Leuchtschrift machte der Genosse Heimleiter den Vorschlag, er könne den Genossen Hausmeister beauftragen, die Fenster der Vorderfront innen bis zur Kopfhöhe mit Decken zu bespannen. Andere äußerten dagegen Bedenken, weil man die Zweierzimmer nicht ständig kontrollieren könne und weil durch eine solche Maßnahme erst recht das Interesse für die Leuchtschrift geweckt würde. Schließlich einigte man sich auf eine Resolution, in der diese Provokation auf das Schärfste verurteilt und an alle Heimbewohner appelliert wurde, diesen kapitalistischen Verdummungsversuch mit Nichtbeachtung zu strafen. Man war sich einig, dass es völlig unnötig und gefährlich sei, neben den von der Partei und ihren Organen verbreiteten Informationen auch noch andere zu empfangen, denn die Partei, und nur die Partei, die habe immer Recht.
Auch Christian und Philipp stimmten der Resolution zu. Dann gingen sie zu Lena und Isa ins Zimmer, schauten sich gemeinsam mit den Frauen das Wunderwerk an und lasen die Schlagzeilen aus dem Westen.
Wenn man sich an den folgenden Abenden im großen Saal traf, so waren alle redlich bemüht, nicht aus den Fenstern zu schauen. Zwangsläufig galt nun das Interesse mehr den Auslagen auf den Tischen. Und so kam es, dass Werner ein Sexheft aus westlicher Produktion mit voll- und nacktbusigen Frauen entdeckte, das Philipp dort vergessen hatte. Es war im Hause üblich, dass, wer ein solches Heft sein Eigen nannte, es nach dem Studieren an andere Interessenten weitergab Dieses Heft gehörte Christian. Philipp sollte es nach dem Lesen weitergeben an einen Slawistikstudenten. Der aber war an diesem Abend nicht erschienen, und so hatte Philipp das Heft liegen gelassen. Werner beantragte eine Parteiversammlung, auf der Philipp sich verantworten sollte. Die Versammlung wurde wegen der Dringlichkeit kurzfristig einberufen.
Zuerst hielt Werner eine Rede, in der er gegen den Einfluss westlicher Dekadenz im Allgemeinen wetterte und vor der Demoralisierung der Partei durch Agenten aus Westdeutschland warnte. Typisch für solche Leute sei, dass sie es nicht nötig fänden, an Geburtstagsfeiern zu Ehren des großen Stalin teilzunehmen. Er beantragte den Parteiausschluss des Genossen Philipp, seinen Verweis von der ABF und als eine einjährige Bewährung in der Produktion seine Beschäftigung im Uranbergbau Wismut-Aue.
Philipp wehrte sich dagegen und meinte, dass er keine Demoralisierung der Partei darin sehe, wenn zwei Menschen sich privat ein Vergnügen teilten. Das aber brachte Werner erst recht auf.
»Für Genossen gibt es nichts und nirgendwo Privates. Wo zwei Genossen zusammen sind, da ist die Partei!«
»Gut«, sagte Philipp, »das habe ich jetzt begriffen. Wo auch immer zwei sich treffen, da ist die Partei, und sei es vor einer Wechselstube in Westberlin.«
Christian sprang auf.
»Es ist auf jeden Fall zu verurteilen, westliche Unmoral zu verbreiten. Aber der neue Mensch im Sozialismus, der kann doch nur durch Änderung des heutigen Menschen geschaffen werden, und das braucht Zeit, Genossen, dazu muss man Geduld haben. Philipp kommt aus der Arbeiterklasse, aus dem Westen zwar, aber aus der Arbeiterklasse, und die westlichen Arbeiter sind eben noch nicht so weit wie die Arbeiter bei uns, besonders wie du, Genosse Werner. Und wenn wir beschließen, dass Philipp von der ABF gehen muss, dann können wir auch gleich eine Namensänderung für die ABF beschließen: Fakultät ohne Arbeiter, von den Bauern gar nicht zu reden. Und zu der Bewährung im Uranbergbau, Genossen: Was sollen die Bergarbeiter in Aue davon halten, wenn sie hören, dass da jemand kommt, der bestraft wurde, die gleiche Arbeit zu machen wie sie. Machen die Bergarbeiter denn Strafarbeit? Nein, Genossen, die Kumpel in Aue leisten durch den Uranabbau einen ganz wichtigen, vielleicht den wichtigsten Beitrag zum Sieg des Sozialismus. Die Besten unter uns müssten gerade gut genug sein, einen solchen Ehrendienst leisten zu dürfen. Ich könnte mir gut vorstellen, Genosse Werner, dass du für einige Zeit dort arbeiten möchtest.«
Andere Genossen sahen das ähnlich. Werner zog schließlich seinen Antrag zurück, und es wurde beschlossen, die Angelegenheit bis nach dem Abitur zurückzustellen und dann erneut zu diskutieren.
Das Abitur rückte näher, die Treffen im Haus gingen weiter. Eines Abends gab es einen großen Tumult auf der Frauenetage. Zwei gemeinsam in einem Zweierzimmer wohnende Pädagogikstudentinnen stritten sich lautstark und lagen sich buchstäblich in den Haaren. Alle, die schlichten wollten und versuchten in das Zimmer der Streitenden einzudringen, bekamen Prügel und mussten fliehen. Endlich gelang es dem Heimleiter, die Studentinnen soweit zu beruhigen, dass sie ihn in ihr Zimmer ließen und ihm ihre Herzen öffneten: Beide waren schwanger, und jede hatte die andere zur Abtreibung überreden wollen, selbst aber wollte keine abtreiben lassen. Sie wollten beide ihr Kind austragen und den Kindsvater heiraten. Es gab nur ein Problem: Beide waren von demselben Mann geschwängert worden − vom Genossen Werner Peitz.
Werner, der wie Christian und Philipp in einem Zweierzimmer wohnte und eifrig die fortschrittliche Art der Liebe praktizierte, konnte sich mit seinem Zimmergenossen über den Bettenwechsel nicht einigen. Und so war er ohne Gegenverkehr abends in das Zimmer der angehenden Pädagoginnen gegangen und konnte auf Dauer seine Gunst nicht nur einer gewähren. Die Studentinnen mussten ausziehen. Der Heimleiter wurde entlassen. Werner musste ebenfalls sofort ausziehen und bekam von der Partei eine scharfe Rüge. Nach dem Abitur sollte über die Angelegenheit erneut diskutiert werden.
»Wie heißt es doch?«, sagte Philipp zu Christian. »Wo zwei sind, da ist die Partei. Jetzt hat die Partei ganze Arbeit geleistet und gleich zwei Frauen geschwängert.«
»Sei vorsichtig!«, warnte Christian. »Noch kann er dir schaden. Ein verwundetes Raubtier ist besonders gefährlich. Wenn seine Angelegenheit erneut behandelt werden sollte, wird er bestimmt nicht vergessen, an deine Sache zu erinnern.«