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ОглавлениеDr. Kuhnert war mit Leib und Seele Lehrer. Trotz seiner kurzen Beine und seiner Körperfülle wirkte er sehr lebendig, hatte lebhafte Augen und eine schnelle Sprechweise. Man glaubte ihm sofort, dass er noch schneller dachte als er zu sprechen vermochte. Es war eindrucksvoll zu sehen, wie er mit dem ganzen Körper und besonders mit seinen Händen zu dozieren verstand.
Ebenso aufregend war sein Chemieunterricht, der mit vielen Experimenten angereichert war. Als er hörte, dass Philipp ein ausgebildeter Chemielaborant war, bat er ihn, bei den Experimenten zu assistieren. Kuhnert wollte gerne, dass Philipp, in der ersten Reihe sitzend, jederzeit einspringen konnte, wenn ein Experiment es erforderte.
Neben Ruth saß Inge, die sofort bereit war, in der Chemiestunde mit Philipp die Plätze zu tauschen. Inge war keine Schönheit, sie sah krank aus, war mager und blass, hatte fettes, strähniges Haar und eine unreine Haut. Wenn sie ging, so glaubte man, sie müsste jeden Moment stolpern. Sie schob ihre rechte Schulter vor und bewegte sich, als drücke sie sich an einer Mauer entlang. Inge schwärmte für Christian und war erfreut, wenigstens zeitweilig an seiner Seite sitzen zu dürfen. Christian war weniger erfreut über seine neue Nachbarschaft.
»Ich mache keine Entjungferung«, sagte er zu Philipp.
Er respektierte Inge aber als eine gute, strebsame Schülerin, denn sie schrieb bis auf wenige Ausnahmen die besten Klassenarbeiten. Nur in Mathe hatte sie ihre Schwächen. Ordeich, der Mathe-Lehrer, gab ihr daher privaten Nachhilfeunterricht.
Ordeich war ein Lehrer, der glaubte die Welt mit den Gesetzen der Mathematik erklären zu können. Er war über fünfzig, groß, gebeugt, und er trug eine Brille, wie man sie von den Fotos des Revolutionärs Trotzki kennt. Mit seiner von einem Haarkranz eingefassten Glatze, seinen kleinen Augen, schmalen Lippen und gelben Zähnen machte er einen asketischen Eindruck. Neben seiner Disziplin ließ Ordeich nur noch den Kommunismus gelten, weil − wie er nicht aufhörte zu betonen − der Historische Materialismus sich zwangsläufig aus den Gesetzen der Mathematik ergäbe.
Eines Morgens stand ein Mann vor dem Gebäude der VA mit einem Schild in den Händen, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: Gott lebt! Darunter stand kleiner: Beweis: Die Zahl Pi ist endlich, nur Gott ist unendlich. Die Schüler wussten natürlich, dass die Zahl Pi, bekannt als die Ludolfsche Zahl zur Kreisberechnung, unendlich ist, und sie gingen lächelnd an dem seltsamen Demonstranten vorbei, ohne sonderlich Notiz von ihm zu nehmen.
Als der Mann, bekleidet mit einem weißen Gewand und Sandalen an den bloßen Füßen und mit seinem langen Bart einem Propheten gleichend, am folgenden Morgen wieder vor dem Gebäude stand, bat Ordeich ihn nach oben in den Klassenraum. Der Mann, dessen Alter schwer zu bestimmen war, betrat den Raum, grüßte freundlich nach allen Seiten, bedankte sich für die Aufnahme und setzte sich auf einen für ihn freigemachten Stuhl in die erste Reihe.
Und dann bewies Ordeich ihm und der Klasse mit wenigen mathematischen Gleichungen, dass Pi unendlich ist und es also in der Unendlichkeit der Welt keinen Platz für einen Gott gäbe. Der Mann stand auf, bedankte sich artig bei Ordeich und den Schülern und verließ den Klassenraum.
»Wehe uns Menschen, wehe uns!«, sagte er beim Hinausgehen.
»Solche Spinner wird es in einer kommunistischen Gesellschaft nicht mehr geben«, sagte Ordeich und begann mit dem Unterricht.
Auf dem Heimweg sprach Sophie Philipp auf den seltsamen Besucher an.
»Gibt es einen Gott?«
Philipp war erstaunt über ihre Frage.
»Ich weiß es nicht. Man sagt ja, an Gott kann man glauben oder nicht glauben. Einen Beweis gibt es nicht. Wieso fragst ausgerechnet du so etwas? Wo bleibt deine marxistische Wissenschaft?«
»Wenn es aber nun doch einen Gott gibt?«
»Ja, mit diesem Zweifel werden wir beide wohl leben müssen. Das macht mir auch keine Sorgen. Angst machen mir nur Leute, die alles erklären können.«
»Wie Ordeich?«
»Wie Ordeich!«
Der Chemieunterricht war beliebt. Die Experimente waren zwar aufwändig, aber sie fesselten die Schüler und brachten Dr. Kuhnert den Ruf des besten Dozenten in der VA ein.
Philipp profitierte durch seine Assistententätigkeit von dem Ruhm und galt in der Klasse bald als Experte im Fach Chemie. Das zwang ihn dazu, in der Singakademie und zusätzlich noch zu Hause besonders fleißig die Hausaufgaben zu erledigen, um seinen guten Ruf nicht zu gefährden.
Ruth bewunderte Philipp und jedes gelungene Experiment, an dessen erfolgreichen Ausgang er mitgewirkt hatte. Sie freute sich auf die Chemiestunden und auf die Zeit, in der Philipp neben ihr saß.
»Bleib doch in den anderen Stunden auch hier sitzen«, bat sie.
Aber Philipp wollte es Christian nicht antun, dass Inge mehr als nötig an dessen Seite verweilen musste. Er wusste, wie sehr dieser das Ende der Stunde herbeiwünschte, um die »Jungfrau« − wie er Inge nannte − wieder loszuwerden.
»Stell dir vor«, sagte Christian nach einer Chemiestunde, »die ›Jungfrau‹ hat mir eben unter dem Siegel größter Verschwiegenheit erzählt, der Ordeich würde sie erpressen, und sie müsse es in den Nachhilfestunden in seiner Wohnung mit ihm treiben.«
»Der Ordeich hat eine Frau und Kinder, das fiele doch auf.«
»Hab ich auch gesagt. Aber sie erzählte mir, die Frau habe absolutes Zutrittsverbot und den Auftrag, in der Zeit der Nachhilfe niemanden in das Zimmer zu lassen.«
Philipp grinste.
»Dem Ordeich wäre das zuzutrauen. Er vögelt eine Achtzehnjährige, und seine Frau muss während dieser Zeit die Tür zuhalten.«
»Ach was, ist doch Blödsinn! Die ›Jungfrau‹ ist hysterisch und will sich nur interessant machen.«
Damit war für Christian die Sache erledigt. Philipp bekam Zweifel. Er bat Ruth, möglichst diplomatisch bei Inge zu sondieren. Inge aber war sehr verschlossen und verriet sich mit keinem Wort. Nach einigen Versuchen gab Ruth es auf. Philipp und sie beschränkten sich darauf, Ordeich und Inge zu beobachten. Zuerst bemerkten sie nichts, dann aber registrierten sie, dass Inge nicht nur in Mathe, sondern auch in den anderen Fächern nachließ und schlechte Zensuren bekam. Die Dozenten taten verwundert und richteten aufmunternde Worte an sie, beließen es aber dabei.
Da ergriff Ruth die Initiative. Während Philipp, Christian und sie über ihren Schularbeiten saßen, machte sie den Vorschlag, der Sache mit Inge auf den Grund zu gehen. Sie sollten in einer Nachhilfestunde bei Ordeichs zu Hause aufkreuzen, sich von der Frau nicht abweisen lassen und in das Zimmer stürmen. Dann werde man ja sehen.
»Eine blöde Idee«, sagte Christian. »Was machst du, wenn sie Mathe machen und sonst nichts?«
»Dann lassen wir uns eine komplizierte Aufgabe erklären«, versuchte Ruth ihn zu überzeugen.
»Das glaubt der mir nie, außerdem weiß dann Inge, dass ich gequatscht habe.«
»Da hat er Recht«, warf Philipp ein, »uns beiden glaubt man auch eher, dass wir Schwierigkeiten in Mathe haben.«
»Also gehen nur wir zwei hin«, sagte Ruth.
Und so machten sie es. An einem schönen Sommernachmittag gingen sie los, suchten die Straße und das Haus. Auf der Hinweistafel im Hausflur fanden sie den Namen angezeigt. Sie stiegen die Treppen hoch und drehten die Klingel. Als Frau Ordeich öffnete, grüßten sie kurz, drängten sich an ihr vorbei in die Wohnung und fragten nach ihrem Mann. Und richtig, Frau Ordeich stellte sich vor eine Zimmertür und gab den Eindringlingen zu verstehen, dass der jetzt nicht gestört werden dürfe. Ruth schob die Frau zur Seite und stürmte ins Zimmer, Philipp hinterher. Da saßen Ordeich und Inge sich gegenüber und weit entfernt voneinander an einem Tisch. Er diktierte ihr gerade eine Aufgabe. Nun sprang er auf.
»Nein so was! Das ist ja mal eine nette Überraschung! Kommen Sie, setzen Sie sich! Marlene, mach uns einen Kräutertee!«
»Wir möchten − wir dachten − wir können nicht − eine schwere Aufgabe ...«, stammelten Philipp und Ruth.
»Schön, schön, aber das hat doch Zeit«, sagte Ordeich. »Wir sind dankbar für jede Unterbrechung, nicht wahr?«
Dabei schaute er Inge an, und es war nichts von Verlegenheit oder Verwirrung an ihm zu spüren. Inge aber war über und über rot geworden und starrte auf die Tischplatte. Sie ahnte wohl, was hier vorging. Man setzte sich, sprach über den schönen Sommer, über das zerstörte Berlin und dass es doch täglich aufwärts ginge mit der Versorgung der Menschen. Ordeich lobte die Regierung der DDR, die Einrichtung der VA und meinte, dass es eine große Chance für Arbeiter- und Bauernkinder sei, jetzt studieren zu können, und dass folgerichtig die VA ab dem 1. Oktober Arbeiter- und Bauernfakultät, kurz: ABF, heißen werde.
»So wird eine neue Intelligenz geschaffen, mit der man dann den Sozialismus aufbauen kann. Und was die Mathematik betrifft, das gibt es einfach nicht, dass einige dafür mehr, andere weniger begabt sind. Der Mensch ist ein Produkt seiner Verhältnisse, und wer lernt, der wird auch ein guter Mathematiker. Auch wenn man mal eine Phase hat, in der es nicht so klappt. Das kriegen wir schon wieder hin, nicht wahr, Fräulein Schüller?«
Dabei schaute er Inge an. Die nickte nur. Sie tranken den Tee. Ordeich erzählte, dass sie ihn selber sammelten und dass er und seine Frau schon immer für eine gesunde und einfache Lebensweise waren, auch schon, als es noch genügend zu kaufen gab. Er löste und erklärte die mitgebrachte Aufgabe, gab sich ganz ohne Misstrauen und verabschiedete seine Gäste endlich mit vielen guten Ratschlägen für das weitere Studium.
»Entweder ist er ein ganz abgebrühter, eiskalter Hund, oder die Inge hat geflunkert«, sagte Philipp auf dem Heimweg.
»Ich glaube fast, Christian hat Recht, die Kleine ist hysterisch und wollte sich vor ihm nur interessant machen«, meinte Ruth.
Am nächsten Tag kam Inge nicht zum Unterricht. Auch zu Beginn der Geographiestunde am übernächsten Tag war sie noch nicht erschienen. Dann klopfte es. Köhler brachte seinen Zeigestock in Schussposition und watschelte in Richtung Tür. Aber es waren keine Zuspätkommer, sondern zwei unbekannte Männer, die darum baten stören zu dürfen. Mit ihnen kam Reitmann in die Klasse. Er stellte die Männer als Kriminalbeamte vor.
»Wo ist der Platz von Inge Schüller?«
Ruth deutete auf den Stuhl neben sich.
»Hier!«
»Ist Ihnen oder sonst jemandem in letzter Zeit irgendetwas am Verhalten von Fräulein Schüller aufgefallen?« fragte der ältere Beamte.
»Nein, nichts«, sagte Ruth, und auch die anderen in der Klasse schüttelten die Köpfe.
»Ihre Leistungen, die haben nachgelassen, jawohl, nachgelassen«, meldete sich Köhler auf seinem Stock gestützt. »Aber das wird schon wieder, wird schon wieder, und in Geographie, da ist sie noch ganz gut, ganz gut ist sie da noch.«
»Fräulein Schüller ist gestern an einer Überdosis Tabletten gestorben«, sagte der Beamte.
Nach dem Unterricht ging Christian in den Musikraum und spielte den ersten Satz der Pathétique-Sonate. Philipp und Ruth folgten ihm. Als er fertig war, bat Ruth sie beide, mit rauszufahren und spazieren zu gehen. In der S-Bahn schwiegen sie, und auch auf dem Strandweg am Müggelsee redeten sie nicht über Inge.
»Lasst uns schwimmen«, sagte Christian plötzlich.
»Ohne Badeanzug?«, fragte Ruth.
»Na klar, hier ist doch kein Mensch.«
»Gut, gehen wir schwimmen«, sagte Philipp.
Sie fanden eine geschützte Stelle, entkleideten sich und stiegen ins Wasser. Am Anfang schwammen sie ruhig hintereinander in Richtung Seemitte, zuerst Christian, dann Philipp und als letzte weitab Ruth. Plötzlich tauchte Christian weg, kam wieder hoch, schnaubte, grunzte und bespritzte Philipp mit Wasser. Der rächte sich und drückte Christian unter.
»Hilfe, Ruth, rette mich, ich bin ein kostbares Mathe-Genie!«
»Nein, rette mich, ich bin ein künftiger Nobelpreisträger!«, konterte Philipp.
»Wenn wir noch weiter rausschwimmen, dann müsst ihr gleich mich retten«, meldete sich Ruth.
Christian war sofort dafür.
»Oh ja! Ruth retten, komm, wir retten Ruth!«
Sie schwammen zu ihr zurück.
»Leg dich auf den Rücken«, bat Christian und fasste sie am Arm unter. Philipp fasste ihren anderen Arm. So drehten sie mit ihr eine große Runde.
»Herrlich!«, rief Ruth und genoss es, bewegungslos auf dem Wasser zu liegen und doch zu schwimmen.
Zuletzt schwammen die »Retter« mit ihr auf das Ufer zu, zogen sie noch einige Meter über den Strand und legten sie ab.
»Wiederbelebung!«, rief Christian, kniete neben sie, holte tief Luft und gab ihr einen langen Kuss. Ruth schaute Philipp an, der kniete ebenfalls nieder und gab ihr einen ebenso langen Kuss. Als Christian sich ihr wieder nähern wollte, wehrte sie ab.
»Mir wird kalt.«
Christian holte sein Unterhemd und begann sie damit abzutrocknen. Philipp holte ebenfalls sein Unterhemd und machte es Christian nach. So trockneten sie Ruths Haar und ihren Körper bis zu ihren Füßen. Während die Männer sich anschließend selber abtrockneten, schauten sie sich an. Da wussten sie, dass es geschehen würde. Vom See her wehte ein leichter Wind. Aus den Bäumen am Rande des Uferweges hörte man leise das Rauschen der Blätter, sonst war es still. Drei Menschen aber liebten sich.
»Wo warst du gestern Abend?«, fragte Sophie am nächsten Morgen auf dem Weg zum Unterricht. »Ich war so traurig, wollte mit dir reden. War noch bei deiner Wirtin, die wusste auch nichts. Ich wollte auf dich warten, aber sie hat mich nicht reingelassen.«
»Der werd ich mal die Meinung sagen. Da muss ich doch wohl bald ausziehen.«
»Warst du denn nicht traurig gestern?«
»Ja«, sagte Philipp, »sehr traurig; ich war spazieren.«
»Schade, ich wäre gerne mitgegangen.«
Der Sommer erreichte seinen Höhepunkt, das Semester ging zu Ende. Philipp wollte versuchen einen Interzonenpass zu bekommen. Beinahe ein Jahr hatte er seine Eltern und die Heimat nicht mehr gesehen. Zu seinem Antrag an die Sowjetische Militär-Administration musste er drei Exemplare seines Lebenslaufes schreiben und drei Passbilder beilegen. Weil er sich die Sowjets geneigt für die Genehmigung machen wollte, hatte er seinen Lebenslauf mit den Worten begonnen: Geboren wurde ich als Sohn des Bergarbeiters Paul Siebert ...
Am letzten Unterrichtstag brachte Seiter die Zeugnisse mit.
»Es gehen fast alle weiter, bis auf zwei«, sagte er. »Herr Klein hat es geschafft. Sie haben in allen Fächern gute Zensuren, aber in Gesellschaftlicher Arbeit hat es nicht gereicht. Klassensprecher zu sein, das genügt allein wohl nicht.« Er ging auf Wilfried zu und gab ihm die Hand. »Meinen Glückwunsch. Als neuer Klassensprecher ist von der Schulleitung Genosse − oh Verzeihung, Herr Peitz bestimmt worden. Ja, und nun zu dem zweiten. Da muss ich mir wohl selber gratulieren. Bei mir hat es auch nicht gereicht. Heute ist mein letzter Tag bei Ihnen.« Er verteilte die anderen Zeugnisse und redete weiter. »Wissen Sie, ich war sehr gerne bei Ihnen. Die Idee, das Bildungsprivileg des Bürgertums aufzuheben, Arbeiter- und Bauernkinder zu fördern, ist schon eine dolle Sache, wenn es auch nicht ganz neu ist. Ich selber habe in der Studienzeit mein Kratzen gehabt. Mein Vater war weiß Gott kein Krösus. Ich musste als Werkstudent hart arbeiten. Da haben Sie es heute doch besser; Ihr Stipendium ist Ihnen sicher. Aber vielleicht kommt Sie am Ende Ihr Studium teurer zu stehen als mich meines damals.«
Nachdem die letzten Zeugnisse verteilt waren, ging er zum Katheder zurück und redete von dort weiter. »Wissen ist Macht, heißt es ja heute, aber ist Wissen schon alles? Was stellen die Wissenden mit der Macht an? Und wer schützt uns vor den Mächtigen?«
Als Seiter sah, dass alle in der Klasse mit ihren Zeugnissen beschäftigt waren und nicht zuhörten, schwieg er. Angela, die Intellektuelle in der Klasse, die eine große Hornbrille trug und neuerdings neben Ruth auf Inges Platz saß, unterbrach nach einer Weile die Stille.
»Was werden Sie jetzt machen?«
»Wenn es klappt, unterrichte ich weiter an einem traditionellen Gymnasium in Westberlin. Wie heißt es doch gleich: Das Bildungsprivileg des Bürgertums stabilisieren helfen. Jedenfalls werde ich wieder richtig Geld verdienen. Als Westberliner muss man hier im Osten ja eine gehörige Portion Idealismus mitbringen. Ein Viertel Gehalt in Westmark und drei Viertel in Ostmark, und das bei einem Wechselkurs von eins zu sechs, da bleibt gerade so viel, um dem westlichen Lotterleben zu verfallen.«
Philipp bekam seinen Interzonenpass. Er musste ihn bei den Sowjets in Karlshorst abholen. Im Büro dort sagte man ihm, dass ein Offizier ihn noch sprechen wolle, und brachte ihn in ein Nebenzimmer. Der Offizier kam, forderte Philipp zum Sitzen auf und stellte ihm in gutem Deutsch Fragen über Westdeutschland, besonders über seine Heimatstadt Duisburg. Philipp berichtete, was er wusste und was nicht sehr weit über sein Heimatkundewissen hinausging, das er im Unterricht in der Volksschule mitbekommen hatte.
»Können Sie mir einen Stadtplan von Duisburg mitbringen?« fragte der Offizier.
Philipp sah seinen Interzonenpass auf dem Schreibtisch liegen und hätte noch mehr dafür zugesagt. Aber der Offizier war zufrieden, gab ihm den Pass und wünschte eine gute Reise.
Komisch, dachte Philipp auf dem Heimweg, die werden für ihren berühmten Geheimdienst doch wohl nicht auf mein Wissen über Duisburg und auf eine von mir gekaufte Karte angewiesen sein. Er machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber, sondern freute sich auf die Ferien, auf die Reise in seine Heimat und auf die Menschen dort.