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Nur ein einfacher Schnitt? Warum ich von der Beschneidung abrate
ОглавлениеAls 1987 mein erster Sohn geboren wurde196, gab es laut einer Arbeitsgruppe der American Academy of Pediatrics keine medizinische Indikation für eine routinemäßige Beschneidung. Ich war erst seit Kurzem Kinderarzt, hatte aber meine Facharztprüfung noch nicht abgelegt. Ich hatte das Gefühl, mich an die Vorgaben der Academy halten zu müssen, also wurde mein Sohn nicht beschnitten. Diese Entscheidung fiel mir schwer: Ich war beschnitten und wurde das Gefühl nicht los, dass es für meinen Sohn wichtig war, so wie ich auszusehen.
1993, als mein zweiter Sohn geboren wurde, hatte die AAP ihre Meinung revidiert, weil die Beschneidung möglicherweise medizinische Vorteile brächte.197 Trotzdem ließen wir ihn nicht beschneiden. Das Gleiche gilt für Sohn Nummer drei, der 1996 geboren wurde. Meine Frau und ich fanden, es sei für unsere Jungen das Beste, gleich auszusehen.
2012 nahm die AAP erneut zur Beschneidung Stellung und veröffentlichte einen widersprüchlichen Bericht198, der die routinemäßige Beschneidung nicht explizit empfiehlt, aber erklärt, der Nutzen würde den Schaden überwiegen und Krankenversicherungen sollten sie bezahlen.
„Nach umfassender Prüfung der wissenschaftlichen Beweise199 befand die American Academy of Pediatrics, dass der gesundheitliche Nutzen der Beschneidung männlicher Neugeborener die Risiken überwiegt. Doch der Nutzen ist nicht groß genug, um allgemein die Beschneidung neugeborener Jungen zu empfehlen.“
Wie sollen Eltern das verstehen?
Zu den von der Arbeitsgruppe der AAP identifizierten Vorteilen gehören ein geringeres Risiko von Harnwegsinfekten und sexuell übertragbaren Krankheiten bei beschnittenen Jungen. Allerdings sind Harnwegsinfekte bei Jungen ziemlich selten, sodass dieser Vorteil irreführend ist. Die effektivste Methode zur Eindämmung sexuell übertragbarer Krankheiten ist die Verwendung von Kondomen. Kritiker des AAP-Berichts sagen, die in Afrika durchgeführten Studien, die eine niedrigere Rate sexuell übertragbarer Krankheiten mit der Beschneidung in Verbindung bringen, seien stark fehlerbehaftet. Sie weisen darauf hin, dass in den europäischen Ländern mit den niedrigsten Raten sexuell übertragbarer Krankheiten die Zahl der nicht beschnittenen Männer am höchsten ist.
Manche beschnittenen Männer wollen ihre Söhne allein deshalb beschneiden lassen, weil sie selbst es sind. In manchen jüdischen, christlichen und muslimischen Gemeinden gilt die Beschneidung als wichtiger religiöser Brauch. Zwar respektiere ich jedermanns Religion und Traditionen, aber ich bitte Sie, gründlich über diese Entscheidung nachzudenken. Die Beschneidung ist ein kosmetischer Eingriff, durch den der Körper eines Jungen dauerhaft verändert wird, indem ein wesentlicher Teil des Penis entfernt wird. Die Vorhaut schützt die Eichel vor Verletzungen. Sie besteht aus einem äußerst erogenen Gewebe, das dem Mann beim Geschlechtsverkehr mehr Vergnügen und seiner Partnerin eine bessere Gleitwirkung beschert.
Würden Sie sich als unbeschnittener Erwachsener beschneiden lassen? Die Antwort meiner fünf Jungen lautet einhellig: „Auf keinen Fall!“ Einer meiner Söhne wird bei dem Thema richtig wütend und lässt mit lauter Stimme eine lange Tirade darüber vom Stapel, wie irrsinnig die Beschneidung ist – „barbarisch, unmenschlich und brutal“ –, mit einer Leidenschaft, als würde er gleich seine gesamte Männlichkeit verlieren! Er bezeichnet die Beschneidung als Kindesmissbrauch200 und vergleicht sie mit der gewaltsamen Entfernung der Klitoris oder der Klitorisvorhaut (was das Äquivalent wäre) bei einem weiblichen Baby, wie es in über fünfundzwanzig Ländern weltweit, vorwiegend in Afrika (Ägypten, Sudan und Somalia) und im Mittleren Osten gang und gäbe ist. Die weibliche Beschneidung wird von der Weltgesundheitsorganisation als „Genitalverstümmelung“ bezeichnet, selbst in den Fällen, wo die Genitalien nur angeritzt werden. Die Beschneidung von Jungen hingegen gilt als „Routine“.
Die CDC schätzen, dass die Beschneidungsrate in den USA201 von einem Höchststand von 65 Prozent der 1979 in Krankenhäusern geborenen Jungen auf 58 Prozent im Jahr 2010 fiel. In den letzten Jahren ist diese Rate noch weiter gesunken, allerdings nur leicht. Mittlerweile werden nur etwas mehr als die Hälfte aller neugeborenen Jungen in den ersten Stunden oder Tagen ihres Lebens beschnitten. Weltweit ist die Mehrheit der Männer unbeschnitten. Als England nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen nationalen Gesundheitsdienst umstellte202, nahm die Beschneidungsrate rapide ab. Jetzt werden in Großbritannien weniger als 5 Prozent der Männer203 aus medizinischen Gründen beschnitten. In Skandinavien liegt die Beschneidungsrate bei nur 1 Prozent.
Keine einzige Ärztekammer in Europa empfiehlt die routinemäßige Beschneidung von Jungen. Die KNMG, die größte Ärzteorganisation in den Niederlanden, hat dort ein Verbot des Eingriffs gefordert, weil er für das Baby ein gesundheitliches Risiko darstellt und ethisch fragwürdig ist. Ein Juraprofessor schrieb in der New York Times: „Alle Menschen sollten selbst entscheiden dürfen, ob ihre Genitalien verletzt werden oder nicht. Umso mehr, wenn ein solcher Eingriff irreversibel204 und medizinisch nicht nötig ist.“
Bekommt ein Baby, dessen Penis unbeschnitten ist, dadurch Probleme? Höchstwahrscheinlich nicht (und mögliche Probleme sind leicht zu behandeln), sofern diese nicht vom Arzt verursacht werden! Unwissentlich verursachen Ärzte in den USA noch immer Schäden an unbeschnittenen Penissen, was leider in der Kinderheilkunde häufig verkannt ist. Früher empfahlen Ärzte den Eltern, beim Neugeborenen die Vorhaut zurückzuziehen und den Penis darunter zu reinigen. Das ist vollkommen falsch! Wie kümmert man sich um den Penis eines Neugeborenen? Man lässt ihn einfach in Ruhe! Die Vorhaut entwickelt sich und bis zum Ende der Pubertät ist sie von alleine zurückziehbar. Manchmal kann man sie schon früher zurückziehen, manchmal nicht. Kleine Jungen ziehen häufig an ihren Penissen. Das ist normal und sogar hilfreich. Darum sollte man es nicht verbieten. Lassen Sie aber niemals einen Arzt mit Gewalt die Vorhaut Ihres Sohnes zurückziehen. Dadurch kann es beispielsweise zu Rissen kommen, deren Verheilung Narbengewebe hinterlässt, was wiederum meist zu Verklebungen führt, die chirurgisch korrigiert werden müssen.
Falls Sie sich vor Kurzem um einen beschnittenen Jungen gekümmert haben, haben Sie vielleicht mit eigenen Augen gesehen, welchen posttraumatischen Stress die Beschneidung bei Neugeborenen verursachen kann. Vielleicht weint das Baby beim Windelwechseln immer, weil sein Penis von der Beschneidung geschwollen oder wund ist, oder aufgrund des Stresses durch die Schmerzen, die es während des Eingriffs erfahren hat. Zwar sollen die Ärzte Betäubungsmittel verwenden, aber nicht alle tun das. Andere warten nicht lange genug, bis der Penisblock wirkt. Die Operation ist schmerzvoll und häufig schreit das Baby währenddessen sogar bei korrekter Betäubung. Folglich stellt das Neugeborene die folgende Verbindung her: Wenn meine Windel ausgezogen wird, passiert da unten etwas Schlechtes.
Eine kürzliche Studie an über 340.000 Jungen in Dänemark zeigte eine um 80 Prozent höhere Rate von frühkindlichem Autismus bei beschnittenen Jungen.205 Möglicherweise fragen Sie sich jetzt: „Aber wie kann eine Beschneidung zu Autismus führen?“ Das Gleiche habe ich mich auch gefragt. Vielleicht bekommen beschnittene Babys Paracetamol-haltige Schmerzmittel, die in Kombination mit Testosteron zu einem Zelltod führen können.206 Mehr über Paracetamol erfahren Sie in Kapitel 1. Vielleicht verändert auch Stress, den ein Neugeborenes durchmachen muss, die Hirnentwicklung. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Stress und mangelnder Hirnentwicklung.
Früher war ich der Beschneidung gegenüber neutral eingestellt. Ich sprach offen mit den Familien in meiner Praxis und erzählte ihnen, dass ich beschnitten war, meine Söhne aber nicht, und dass sie und wir als Eltern froh sind, dass sie nicht beschnitten sind. Auch sagte ich ihnen, dass ich die Beschneidung zwar nicht empfehlen würde, es aber letztlich immer die Entscheidung der Eltern sei.
Ich schulde diesen Eltern eine Entschuldigung, dass ich mich nicht stärker gegen die Beschneidung eingesetzt habe. Die dänische Studie war für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich kann nicht mehr neutral bleiben bei einem rein kosmetischen Eingriff, der möglicherweise mit so etwas Verheerendem wie Autismus im Zusammenhang steht. Mittlerweile rate ich den Eltern in meiner Praxis davon ab, ihre Söhne beschneiden zu lassen. Liebe Mütter und Väter, wir müssen unsere Babys so gut es geht vor körperlichen Schmerzen und Stress bewahren! Egal ob Sohn oder Tochter, eine Beschneidung ist kein medizinisch notwendiger Eingriff. Bitte lassen Sie Ihr Neugeborenes nicht beschneiden.