Читать книгу Sternstunde der Mörder - Pavel Kohout - Страница 22
ОглавлениеEin zwingender Gedanke weckte ihn: Heute!
Er schlug die Augen lieber nicht auf, um die Bilder nicht zu verjagen, auf die er wartete. Sie kamen. Wieder sah er die zweite, wie sie sich fast freiwillig vor ihm auf den zur Opferstätte umgewandelten Eßtisch legt. Schon ein paarmal hatte er sich in den letzten Tagen Ihren strengen Vorwurf anhören müssen, er hat wiederum den Mut verloren. Er verteidigte sich, er sei erkältet, anscheinend habe er Dort Zugluft abgekriegt, als die Druckwelle, wie er sich später doch noch erinnerte, die Fensterscheiben eindrückte. Er wußte jedoch selbst, daß das nichts weiter als eine Ausrede ist. Irgend etwas widersetzte sich in ihm, er war auf einmal von neuem ganz kraftlos, mußte sich zusammennehmen, damit seine Kollegen nichts bemerken.
Immer noch saß ihm das verdammte Brünn in den Knochen, obwohl das damals schließlich keine totale Katastrophe war. Auch wenn er alles verpatzt hat, blieb er wenigstens selbst für das Kommende erhalten, und es wurde in allen Zeitungen lange breitgetreten; selbst aus den Worten, die ihn erniedrigen, zu den Geisteskranken abschieben sollten, klangen schlecht verhehlte Bewunderung und Angst. Letztlich überwog das beklemmende Bewußtsein der Erfolglosigkeit. Hinzu kam die Erinnerung daran, wie die erste brüllte und stank, alles das band ihm für Jahre die Hände.
Als er sich endlich so weit faßte, daß er wieder imstande war, Den befehl entgegenzunehmen, und als sein Werk so voll und toll gelang, wartete er erregt darauf, was die diesmal schreiben würden. Er vermochte noch zu begreifen, daß die Blätter am zweiten wie am dritten Tag nur Aufnahmen der entstellten Opfer des ersten Luftangriffs auf Prag brachten, obwohl es ihn kränkte, daß gerade im Vergleich mit der zufälligen Wirkung von Sprengstoffen seine Saubere arbeit nicht hervorstach.
Am vierten Tag war er ständig in Versuchung, die strengen Regeln zu brechen, die er sich selbst auferlegte, und während einer kurzen Abwesenheit des Direktors noch zur Arbeitszeit in sein Büro einzudringen, wo alle Tageszeitungen lagen. Schließlich hielt er durch und war am Abend um so mehr enttäuscht. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand das Staatsbegräbnis der Prager Opfer. Von Dem keine Zeile.
Nun war er in dem riesigen Gebäude ganz allein, kontrollierte längst, was zu kontrollieren war, und konnte heimgehen. Dort müßte er jedoch Bericht erstatten. Er hockte sich lieber auf die breite Marmortreppe, knipste die Taschenlampe aus und überlegte im Dunkeln, wie er das alles verstehen soll. Die Stille begann unerträglich zu rauschen, und dieses Geräusch, dessen Herkunft er nicht zu deuten wußte, weckte in ihm den Verdacht, ob er nicht tatsächlich verrückt ist. Oder unter Schock? Es hat doch dort ganz in der Nähe eine schwere Bombe eingeschlagen! Er wußte allzugut, was eine Kontusion ist, seit ihm im Jahre zwanzig die ungarische Granate beinahe auf den Kopf gekracht ist und seine ganze Karriere beim Militär vereitelt hat. Ja! vielleicht hat sich der fromme Wunsch durch die neue Erschütterung in reine Phantasie verwandelt?
Ehe er wirklich den Verstand verlieren konnte, kam ihm die rettende Idee. Der schmale Lichtstrahl seiner Taschenlampe leitete ihn in den Keller hinab, längst wählte er die Schlüssel an dem großen Schlüsselbund nur nach Gefühl. Vor dem stillgelegten Kesselraum spuckte er auch heute wütend aus, im Februar klapperten sie hier vor Kälte mit den Zähnen, weil die Germanen ihnen den Koks requirierten! Weiß glitzerte das Eis an der hinteren Wand.
Schon als hier im Dezember die aus dem zugefrorenen Fluß gehackten dicken Schollen eingelagert wurden, hatte er sich einen Winkel ausgesucht, in dem auch jetzt noch an die drei Dutzend Blöcke lagen; mindestens bis Mitte Mai hat er nichts zu befürchten. Obwohl er hier nach Belieben Licht machen durfte, blieb er bei der Taschenlampe. Er kniete sich vor der Wand hin und langte mit der freien Hand hinter die Eisstangen, so weit sein Arm reichte. Die Finger ertasteten ein Päckchen und zogen es heraus.
Er stellte die Lampe auf die Erde, um beide Hände frei zu haben, und wickelte äußerst nervös das Wachstuch auf, da der darin befindliche Gegenstand unnatürlich hart war. Aber es war Das! Wenn auch gefroren, doch das wollte er. Er beglückwünschte sich, daß er im voraus mit einer Krise rechnete. Es war da, so wirklich wie seine Tat, und es hielt auch die abscheuliche Seele gefangen, die nicht mehr davonfliegen konnte.
Zu Hause langte er bereits völlig ruhig an. Sein vom Alpdruck befreites Hirn lief mit ganzer Leistung: Diese Dreckspolizei hat es sicher verboten, eine Nachricht über seinen Triumph zu veröffentlichen! Das schien ihm um so gemeiner, als er sich daran erinnerte, wie lange sie sich über seinen ersten Mißerfolg verbreiteten. Wille und Ehrgeiz zogen in ihn ein. Endlich hatte er Ihr da oben wieder etwas zu sagen.
Also gut, ich werde ihnen meinen Dienst Früher präsentieren, als ich vorhatte. Und dann Immer wieder! Wir werden schon sehen, wer die stärkeren Nerven hat. Drei werden reichen, um wirken zu lassen, was in diesem Lande keine Zensur zu verhindern weiß: die Flüsterpropaganda!
Trotzdem besaß er noch immer nicht die notwendige Kraft, die ihn zuletzt in dem Haus am Ufer beflügelte. Er hat ihr Schwinden schon damals wahrgenommen, als er sich halb sitzend, halb liegend hinterher schlaff auf der Bank niederließ. Später glaubte er, das Mittagessen habe ihn wieder auf die Beine gestellt, doch im Zug verfiel er erneut in einen Dämmerzustand, der nicht abzuschütteln war.
Tags darauf konnte er noch bei Tageslicht von der Arbeit heimgehen. Er wählte einen Umweg durch den städtischen Park, um den Modergeruch des ungeheizten Gebäudes in der lauen Luft loszuwerden, und stellte fest, daß es dort Attraktionen gibt. Ein paar armselige Buden täuschten im fünften Kriegswinter Fastnachtsfröhlichkeit von einst vor. Er kam an einer Schießbude vorbei, als ein junger Mann in langem Mantel alle fünf Papierrosen herunterschoß und sich von dem Besitzer, einem mürrischen Krüppel, den Gewinn aushändigen ließ. Er blieb stehen und stierte ihn an. Zum erstenmal erlebte er, wie einer gewann, was er sich seit seiner Kindheit wünschte: den berühmten Abessinier! Natürlich war die große Puppe nur der Schatten einer jener in glänzend bunten Satin gekleideten Vorkriegsnegerleine, doch selbst hier, zwischen den ärmlichen Trophäen, strahlte sie als das höchste aller Ziele.
Er ertappte sich dabei, daß er dastand und neidisch den glücklichen Gewinner beobachtete, der Applaus von einem Häuflein Gleichaltriger erhielt. Der junge Mann überreichte das Negerlein mit dem Turban einem der beiden Mädchen und provozierte damit das Gebettel der anderen, die auch eine Puppe haben wollte. Der Scharfschütze geriet in Verlegenheit und zierte sich. Das Drängeln der Gruppe und die Vorwürfe des zu kurz gekommenen Mädchens beendete er mit dem schlichten Geständnis.
«Ein zweites Mal treffe ich nicht!»
Davon mußte auch der Standbesitzer überzeugt sein, der witterte, einen Teil des Verlustes zurückzukriegen. Schließlich widersetzte sich der Jüngling nicht länger und kaufte sich weitere fünf Schuß.
Er sah ihm erstarrt zu, denn er gewahrte Sein eigenes problem: Auch er sträubte sich aus Angst, er könne die einmalige Leistung vom Februar nicht wiederholen, er würde sich nächstens ebenso blamieren wie schon einmal. Er wußte vom Militär, daß die Wahrscheinlichkeit einer gleich guten Serie gering ist, und das sogar bei einem gut gepflegten Gewehr. Er sah sich als den Zeugen seines eigenen Mißerfolgs, während er den verwegenen Burschen beobachtete, der sorgfältig die fünf Kugeln in eine Reihe legte, die Büchse knickte und lud, um den ersten Schuß abzugeben. Mir wird es genauso ergehen wie ihm, suggerierte er sich kleinmütig.
Er kam zu sich, als er den Jubel vernahm. Der grimmige Budenbesitzer überreichte auch dem anderen Mädchen einen herrlichen Abessinier.
Das Bild der Puppe begleitete ihn bis in den Schlaf. Und als er erwachte, wußte er, daß er Bereit ist, daß er Es wieder Kann. Blieb nur, sich ein Alibi, Zubehör und ein neues Kostüm zu holen.