Читать книгу Sternstunde der Mörder - Pavel Kohout - Страница 39

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Das Bild der Landschaft, durch die sie auf ihrer eigenen Spur heimkehrten, war nicht wiederzuerkennen. In der Dämmerung passierten und überholten sie jetzt nur heimkehrende Gespanne mit Pflügen, Eggen oder Sämaschinen, das riesenhafte Heer, falls es nicht ohnehin ein Trugbild gewesen war, schien wie vom Erdboden verschluckt. Buback, an ein derartiges Auftauchen und Verschwinden von Truppen gewöhnt, verfolgte jedoch sehr wohl die Spuren ihrer Allgegenwart und bewunderte um so mehr die ungebrochene Disziplin.

Den Gesprächsfetzen, die ihm im Amt oder an der Bar des Deutschen Hauses zu Ohren gekommen waren, entnahm er, was er im übrigen noch aus der Heimatkunde behalten hatte. Dieses wellige Stück Erde, das sich im mährisch-slowakischen Grenzgebiet bis nach Schlesien hin erstreckte und weiter westlich in den böhmisch-mährischen Höhenzug überging, stellte für sich allein einen mächtigen natürlichen Schutzwall dar. Die Schlacht, die über das Schicksal des Krieges und die künftige Gestalt der Welt entscheiden sollte, würde bestimmt hier stattfinden.

Wie fühlte das dieser Junge, der doch seine Mutter hier hat? mußte er denken und erkundigte sich geschickt. So erfuhr er, daß sein Reisegefährte die Mutter zu überreden hoffte, für einige Zeit nach Prag zu den Jungvermählten umzuziehen. Und gleich darauf stellte ihm der junge Mann die erste Frage, die aus dem Rahmen ihrer Beziehung fiel: ob er auch Familie habe.

«Nein!» gab Buback fast schroff zurück und richtete wieder die Stacheln auf, obwohl ihm sogleich klarwurde, daß dies unberechtigt war, er selbst hatte mit dieser privaten Ausfragerei angefangen und so keinen Grund, sich als Angehöriger einer Herrenrasse aufzuspielen. Deshalb setzte er hinzu.

«Meine Frau und meine Tochter sind letztes Jahr bei einem Luftangriff umgekommen.»

Im Wagen war es schon lange dunkel, doch als keine Antwort kam und er deshalb den Kopf seinem Nachbarn zuwandte, begegnete er Augen, in denen deutlich Anteilnahme zu lesen war. Diese Reaktion überraschte ihn, er wußte sich mit ihr keinen Rat, und so sahen sie sich ein paar lange Sekunden an, bis der Tscheche wieder sprach.

«Als einer, der seine Liebe gerade gefunden hat, bedauere ich das sehr, Herr Buback.»

Der erinnerte sich nicht, wann ihn jemand so wie dieser junge Mann das letztemal aus der Reserve gelockt hatte, und verfiel in der Eile auf nichts Besseres als danke!

Den Rest der Fahrt verbrachten beide halb schlafend, halb wachend auf den Rücksitzen. Litera mußte jetzt so fahren, wie es ihm die blaugestrichenen Scheinwerfer erlaubten, die nur einen schmalen waagrechten Lichtstreif durchließen. Buback sprach den Tschechen lieber nicht mehr an, ab und zu versank er in phantasmagorischen, inhaltslosen Träumen, um dann wieder eine Zeitlang über die regungslosen Schultern des Fahrers in die schwarze Finsternis zu starren, die auch in den verdunkelten, eher wie Kulissen wirkenden Städtchen nicht wich.

Weit nach Mitternacht hörte er, wie der Fahrer nach hinten meldete, sie hätten Prag erreicht, wen er wo absetzen solle. Ums Haar hätte er auf tschechisch geantwortet und zuckte zusammen; eigenartigerweise erschreckte ihn mehr als der Verlust des heimlichen Vorteils der Gedanke, sich gerade vor seinem Begleiter so zu blamieren. Der ließ ihm wiederum den Vortritt, und so konnte sich Buback eines weiteren, aus Müdigkeit begangenen Fehlers zeihen, als er wider alle Regeln seine Privatadresse angab. Er versuchte es damit zu korrigieren, daß er schon ganz am Fuß der Villenstraße ausstieg, sich knapp verabschiedete und den steilen Hang allein hinaufging.

Klein-Berlin hieß dieses Viertel bei den Tschechen jetzt. Die früher meist jüdischen Villen wurden zu Dienstwohnungen der aus dem Reich herbefohlenen Funktionäre. Buback war sehr spät gekommen, für ihn reichte es nur zu einer Mansarde in einer Jugendstilvilla, die der Vorsitzende des Prager Volksgerichts mit seiner vielköpfigen Familie bewohnte. Die war froh, als er sich den Schlüssel zu dem schmalen Hinteraufgang für das Personal erbat, so mußten sie miteinander keinen Umgang haben. Es kam jedoch ein paarmal vor, daß er zur gleichen Zeit wie der Richter aus dem Hause ging, der ihn dann in seinem Dienstauto mitnahm, das auf dem Weg zum Pankrácer Gericht und Gefängnis sowieso an der Gestapo vorübermußte.

Bei solchen Begegnungen befragte ihn dann der dickliche selbst im strengen Winter schwitzende Mann hastig nach seiner Meinung zur Kriegslage. Buback antwortete grundsätzlich im Geiste der Leitartikel des «Völkischen Beobachters», die Situation auf den Kriegsschauplätzen sei nicht ausschlaggebend, da der Kampf, wie schon so oft in der Vergangenheit, allein durch einen genialen und deshalb unvorhersehbaren Zug des Führers entschieden werde. Der Richter pflichtete ihm begeistert bei, und abends erfuhr Buback dann aus den Rundfunknachrichten von den neuesten Arbeitserfolgen seines Nachbarn, die sich in der Zahl der heute Hingerichteten niederschlugen.

Am Scheitelpunkt der Straße angelangt, vernahm er gedämpfte Geräusche und sah, daß sich vor seinem Haus etwas im Dunkeln bewegte. Er blieb stehen und überlegte zum erstenmal, ob er in dieser Zeit und in dieser Stadt wie überall, wo die Front näher kam, nicht doch wieder seine Pistole tragen sollte. Er erkannte jedoch deutsche Laute und ging deshalb darauf zu. Der große bauchige Schatten verwandelte sich in einen Möbelwagen, in den gerade vier breitschultrige Männer mit Gurten einen Flügel schleppten. Vor dem Essen am Heiligen Abend, zu dem er eingeladen worden war, hatte die Frau des Richters Weihnachtslieder gespielt und sich damit großgetan, es sei der berühmte Steinway, eine Hinterlassenschaft der Vorbesitzer. Sogar die abgedunkelten Taschenlampen der Männer ließen Buback erkennen, daß der geräumige Laderaum schon fast voll war.

Aus der Dunkelheit tauchte ein weiterer Muskelprotz auf und herrschte ihn an.

«Was haben Sie hier zu suchen?»

«Was haben Sie hier zu suchen?» erwiderte er kühl, «ich wohne hier.»

Der Mann, zweifellos eine Charge in Zivil, hielt ihn für einen einfachen Volksgenossen, dem er es jetzt zeigen wollte.

«Den Ausweis!»

«In Ordnung, Herr Hauptwachtmeister!» rief eine keuchende Stimme gedämpft, der Richter höchstselbst eilte herbei, «das ist Oberkriminalrat Buback, unser Nachbar! Guten Abend!»

«... n’ Abend», sagte Buback und betrachtete unverwandt die Szene, wobei ihm ihr Sinn aufging.

«Die Mutter meiner Frau», sprudelte der Richter hervor, «liegt schwerkrank darnieder, ihr Vater wohnt am Bodensee, und so fährt sie hin, sich um die Eltern zu kümmern ...»

Daß dieser Mensch, der allen Grund hatte, um seine Haut zu bangen, seine Familie beizeiten in Sicherheit brachte, kam Buback menschlich begreiflich vor, doch daß er als Haupt der hiesigen Reichsjustiz mit Hilfe von Gefängnispersonal einen hundsgemeinen Raub beging, verschlug ihm den Atem. Schon zum zweitenmal war er heute keines Wortes fähig, schweigend blickte er auf den schweren Flügel, der im Wagen verschwand.

«Die Kinder», schnatterte der Richter weiter, was ihm auf die Zunge kam, «lernen grad spielen, wir möchten nicht, daß sie aus der Übung kommen, bis sie wieder zurück sind ...»

Ratte! dachte Buback wütend. Ratten wie du haben alle Völker Europas gegen uns aufgehetzt, und jetzt verlassen sie als erste mit ihrer Beute das Schiff. Er wandte sich so energisch zum Hintereingang, daß der zerknirschte Aufseher ihm gerade noch aus dem Weg springen konnte. Der Mann, der Hunderte Menschen vor die Gewehrläufe oder unters Beil geschickt hatte, rief ihm fast flehend nach.

«Ich habe die Genehmigung vom Amt des Reichsprotektors, Herr Buback, und ich persönlich bleibe selbstverständlich in meinem Amt ...»

Buback ließ seine Wut an der Tür aus, er schmetterte sie zu, daß das Haus erbebte, doch er wußte, es schlief sowieso keiner darin, denn die Frau Gemahlin saß mit den Kindlein bestimmt schon im Dienstwagen, der sich durch dunkle Nacht gen Westen bewegte.

Die Bilder der Armee, die zu der geschichtlichen Schlacht antrat, und das Bild dieses feigen Kapitulanten regten ihn so sehr auf, daß an Schlaf nicht zu denken war. Er stöberte in der engen Küche eine Flasche mit einem Rest Brandy auf und ließ ihn auf der Stelle durch die Kehle rinnen. Der Druck im Gehirn ließ augenblicklich nach, die Erregung wich einer schlappen Müdigkeit. Dann bemerkte er aber, daß auf dem Parkett ein Briefumschlag lag, den man ihm offenbar unter der Tür durchgeschoben hatte.

Er riß ihn auf und las Kroloffs Bericht.

Sternstunde der Mörder

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