Читать книгу Sternstunde der Mörder - Pavel Kohout - Страница 32

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Der Mann der Brünner Gestapo gab Buback zuallererst zu verstehen, daß er zwei der Verdächtigen ruhig streichen könne. War das Alibi Bruno Thalers von 1938 noch mehr als problematisch, so hatte er für den 14. Februar dieses Jahres ein absolut hieb- und stichfestes: Er gehörte zum Wachkommando des Konzentrationslagers Buchenwald und hatte in diesem Jahr noch keinen Urlaub gehabt. In ein anderes, momentan nicht zu ermittelndes Lager war schon vor drei Jahren in einem Transport mährischer Zigeuner Alfons Hunyady mit dem Vermerk «Parasit» abgegangen.

Die Einladung der Brünner Machthaber hatte Buback vor allem deshalb abgelehnt, weil diese Leute nutzlos waren. Aus jedem ihrer Sätze ging hervor, daß sie sich nazistischer als eingefleischte Nazis gaben. Im Falle eines Aufstandes würden die Widerständler in der Protektoratspolizei vor allem diese beiden primitiven Helfershelfer kaltstellen.

Er trank mit seinem Kollegen und Volksgenossen im hiesigen deutschen Kasino zwei überraschend anständige Whiskys und brachte es fertig, eine Stunde lang über alles und nichts und wieder nichts zu reden. Komisch! dachte er, wie seit einer gewissen Zeit, genauer gesagt, seit dem Ende von Stalingrad, spätestens aber seit der Landung der Alliierten vor der Normandie, derlei Gespräche jeden Sinn verloren hatten. Unter Umständen war selbst eine sarkastische Bemerkung über das Wetter gefährlich: als Anspielung auf die häufigen Ausreden des OKW. Die Situation an den Fronten war bereits gänzlich tabu.

Sie hatten gesagt, was über den Mord an Baronin von Pommeren zu sagen war, plauschten danach über den mährischen Wein, den Buback aus seiner Jugend nicht kannte, und ließen einander in Ruh, als es ihnen gelang, gleichzeitig zu gähnen. Der Oberkriminalrat wies höflich Begleitung zurück und beschloß, als er beim Hotel war, den Spaziergang auszudehnen. Ganz in der Nähe ragte vor dem dunklen Himmel die noch dunklere Silhouette einer ziemlich steilen Anhöhe auf. Er hatte schon lange keine Bewegung mehr gehabt und stieg deshalb scharfen Schrittes bergan.

Wenige Minuten später lag ihm die Stadt zu Füßen, die verdunkelte, feindliche und unbekannte, wenn auch zweitgrößte Stadt des Landes, in dem er geboren war. Wohin gehört eigentlich ein Deutscher aus der nicht existierenden Tschechoslowakei? Notabene aus Prag? Notabene, wenn seine Muttersprache das Tschechische ist?

Erwin Buback entstammte einer Prager Mischehe, in der die Mutter dominierte, so daß er die tschechische Volksschule besuchte. Dann verstarb die starke Ehefrau, und der Vater, ein Versicherungsbeamter, heiratete ein zweites Mal, und zwar eine begüterte Deutsche aus Karlsbad, wo er zur Kur weilte. Dort absolvierte der Sohn das deutsche Gymnasium und wurde zum Studium der Rechte nach Dresden geschickt, die Eltern, die keine weiteren Nachkömmlinge mehr hatten, wollten ihn in der ihnen gemeinsamen Nationalität festigen.

In der herrlichen Stadt an der Elbe fand er dann seine Hilde und blieb schließlich bis Kriegsausbruch dort. Bald verdiente er sich die ersten Sporen in einem Fach, zu dem er sich früher zwar nicht hingezogen fühlte, das ihm aber in den Jahren der wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen zur verläßlichen Basis wurde. Auch die Kriminalpolizei war dann selbstverständlich von den Nazis befehligt, die jedoch begriffen, daß sie, wenn sie sich auf den Rechts- und Strafapparat stützen wollten, darin Fachleute arbeiten lassen mußten.

Das hieß bei weitem nicht, daß die Kriminalisten den Nazis Widerstand entgegengesetzt hätten, auch Buback empfand Bewunderung für die Rasanz, mit der sie binnen kurzer Zeit wieder Ordnung im zerrütteten Deutschland herstellten. Auch er begrüßte den Führer als Erneuerer der deutschen, vom Versailler Vertrag befleckten Ehre, doch seine Loyalität war weit entfernt vom Fanatismus der Mitarbeiter anderer Bereiche. Er war Deutscher. Punktum!

Er, seine junge Frau, ihre Eltern und Bekannten stimmten enthusiastisch der Entscheidung des Führers zu, der wiedererweckten Nation alle von Deutschen bewohnten Gebiete zurückzuholen. Stürmisch begrüßten sie den Anschluß Österreichs. Erwin war zutiefst glücklich, als sein Böhmen in den Schoß des Reiches zurückkehrte. Er erlebte die berauschende Nacht der Fackeln im befreiten Karlsbad und hatte Tränen der Rührung in den Augen, als das Banner des neuen Deutschlands auch über seiner Geburtsstadt Prag wehte. Er feierte mit den Kollegen die Blitzsiege in Polen und im Westen. Von Freude und Wein berauscht, sagte er einmal zu Hilde, daß ihm Adolf Hitler wie ein antiker Jagdgott erscheine, der immer neue und frisch erlegte Stücke Wild an seine Lanze hänge.

Obwohl ihn früher die neu entstandenen Sicherheitskräfte mit ihrer zur Schau gestellten Roheit abstießen, begriff er die Eingliederung seiner Behörde in sie als notwendiges Übel, als unumgänglichen Schulterschluß aller Kräfte des kämpfenden Stammes. Nach Frankreich, Holland und Belgien abkommandiert, wo er das ordnungsgemäße Zusammenleben seiner Volksgenossen in den besetzten Gebieten zu sichern hatte, widmete er sich weiter seiner ursprünglichen Profession. Über manches wunderte er sich, manches sah er im Geiste kritisch, doch für alles empfand er eine unmittelbar persönliche Verantwortung.

Erste Unruhe erfaßte ihn an jenem Junisonntag 1941, der außer dem Angriff auf die Sowjetunion auch seine erste Meinungsverschiedenheit mit Hilde mit sich brachte. Als er wissen wollte, warum sie nicht wie üblich eine häusliche Feier ausrichte, holte sie Heidis Erdkundebuch und schlug die Karte Europas und Asiens auf. Das Fleckchen Deutschland stieß an die riesige Fläche Rußland. Er unterdrückte seine Gereiztheit und machte ihr nur mild den Vorwurf, daß sie als Lehrerin kartographische Verzerrung außer acht lasse und viel wichtigere Faktoren als den bloßen Raum nicht bedenke.

Der Krieg ließ ihn später selten nach Hause kommen, wo er bemüht war, sich ganz an Hildes und Heidis Gegenwart zu sättigen, es war also verständlich, daß sie sich an private Themen hielten. Allerdings konnte ihm nicht entgehen, daß seine Frau allen anderen fast krampfhaft auswich. Als es ihr einmal nicht gelang, kam es zwischen ihnen zum einzigen wüsten Streit ihres Lebens.

Wohl um sich selbst zu überzeugen, so beschuldigte er sich heute, begann er vor einem Jahr, beim Spaziergang in den fränkischen Weinbergen, von der gerade geborenen Idee zu reden, der Führer werde durch den Rückzug an allen Fronten das Volk wie jene Sprungfeder aufziehen, die dann die Alliierten mit einemmal in den Atlantik, in das Nördliche Eismeer und Mittelmeer wie hinter den Ural zurückschleudern würde. Unerwartet fragte ihn Hilde, ob sich der Führer seinem Volk nicht schon längst entfremdet habe.

Wie könne sie nur, wie könne sie es wagen, schrie er sie an, denn ringsum zogen sich nur niedrige Rebengehänge hin, und kein Mensch weit und breit, ihre Stimme solch niedrigem Zweifel leihen, in einer Zeit, da nur der einheitliche und stählerne Wille aller Deutschen imstande sei, den zum Glück ideologisch so gespaltenen Feinden die Stirn zu bieten.

Unzählige Male rief er sich später diese Szene in Erinnerung, sah die Farben, spürte die Düfte, hörte Hilde und sich, und zu dem Vorwurf, mit diesem Streit ihren letzten gemeinsamen Tag zunichte gemacht zu haben, fügte sich der immer stärker werdende Verdacht, ob sie vielleicht so unrecht doch nicht gehabt hatte. Was war eigentlich von den Vorstellungen und Versprechungen geblieben, die die Deutschen so beflügelt hatten, daß sie fast wie ein Mann und fast gegen die ganze Welt aufstanden? Und selbst wenn, selbst wenn ... er mußte zugeben, daß es ihm leider je länger, desto weniger wahrscheinlich erschien, selbst wenn eine Teufelswaffe tatsächlich das Kräfteverhältnis umzukehren vermochte, was von diesen Träumen ließe sich dann noch verwirklichen?

Jawohl, die zerstörten Städte würden von den Besiegten wieder aufgebaut, die außerdem als Ersatz für die maßlosen Schäden und Aufwendungen ihre schlecht verwalteten und spärlich besiedelten östlichen Gebiete würden an die Sieger abtreten müssen, doch konnte es noch gelingen, Grundwerten der Menschheit, die in den Jahren allgemeinen Tötens zerstört worden waren, wieder Geltung zu verschaffen? Und konnte ihm, selbst bei günstigster Entwicklung und bei höchster Gunst der Sterne, irgendwann irgendwas auch nur entfernt seine Hilde und Heidi ersetzen?

Als Kriminalist kannte er das klassische Mißverhältnis zwischen dem Motiv eines Mordes und dem Gewinn daraus. In dieser Nacht, da er einen Hügel in einer Stadt bestieg, die wahrscheinlich alsbald jubeln würde, weil sie die Deutschen los war – er nahm sehr wohl den fernen Kanonendonner wahr und hatte schon ein paarmal erlebt, wie blitzschnell er sich zu nähern vermochte! in dieser Nacht kam ihm ein erschütternder Vergleich: Verschafften vielleicht die weltweiten Blutbäder dem Führer der Deutschen, der sie entfesselte, eine ähnlich perverse Befriedigung wie dem unbekannten Mörder die Frauenschlächterei?

Der ungeheuerliche Gedanke eben stellte ihn im Handumdrehen in eine Reihe mit den Schwerstverbrechern, die von seinen Kollegen aus den anderen Etagen in der Bredauerstraße erst in den Keller und von dort nach kurzem Prozeß auf Transport oder direkt auf den alten Militärschießplatz am Rande von Prag geschickt wurden. Er stellte sich Meckerles Reaktion vor, hätte er es laut ausgesprochen; unter vier Augen, dann hätte er ihn vielleicht nur ins Irrenhaus abkommandiert, wär es aber in der Stabsrunde geschehen, hätte er ihn vielleicht auf der Stelle abgeknallt. Er erzitterte.

Und dennoch: Der Eiseshauch wurde nicht von Angst verursacht, darunter hatte er nie sehr gelitten, und obendrein war er viel zu erfahren, ja! gerissen, als daß er selbst in das Messer gelaufen wäre. Ihn entsetzte, daß er sich zum erstenmal nicht in sich selbst auskannte. Wer war er denn, wenn ihn nach Jahren des Glaubens aus heiterem Himmel ein Verdacht anwandeln konnte, der so unendlich weit über die Grenzen von Hildes Frage im Vorjahr hinausging? War er ein niederträchtiger Verräter? Ein feiger Kapitulant? Ein Opfer der Feindpropaganda? Oder ... oder hat er nur so spät den geschichtlichen Fehler erkannt, dem er zur Welt mitverholfen hatte, und bangte nun um sein eigenes und seines Volkes Schicksal?

Die letzte Erklärung drängte sich als die moralisch am ehesten gerechtfertigte auf, aber: Was für ein Unterschied war dann noch zwischen ihm und der Unzahl unbekannter Bürger, die, wie er aus den anderen Referaten des Reichssicherheitshauptamts und immer häufiger sogar aus Zeitungen und von den berüchtigten roten Plakaten wußte, für viel gemäßigtere Überlegungen in Strafkompanien, Zuchthäusern, Lagern und auf Richtplätzen büßten?

Er mußte stehenbleiben, der Weg endete hier vor dem verschlossenen Tor in einer riesengroßen alten Mauer. Der hiesige Gestapomann hatte ihn vorhin an die Existenz der Brünner Burg erinnert, die der verschwundenen Monarchie als berühmtes politisches Gefängnis gedient hatte. Im Vergleich zu heute eigentlich komfortabel, hatte der Kollege lachend gesagt, die Wiener haben ihre Störenfriede mit Glacéhandschuhen angefaßt, und dementsprechend war auch ihr Ende!

Er nahm das Rascheln vorjährigen Laubes wahr, keuchenden Atem und schließlich zweistimmiges tschechisches Geflüster.

«Lieb mich! Ja! Lieb mich! Ja, ja, ja!»

Unglaublich! die kalte Nacht, der schlüpfrige Hang, in der nächsten Nähe die düsteren Verliese, in Hörweite der Massentod, und inmitten von alldem vereinten sich zwei zerbrechliche Menschen in Liebe. Und das war der ewig neue Anfang, der selbst die größten Bestialitäten der Geschichte berichtigte!

Dann dachte er nur noch an das Prager Mädchen mit den braunen Augen.

Sternstunde der Mörder

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